"Rätsel aufgeben im positiven Sinn"

Moderation: Joachim Scholl · 06.08.2013
Das neue politische Gedicht sei von einer "gewissen Oberflächenschnelligkeit des digitalen Zeitalters" geprägt, meint der Literaturwissenschaftler Michael Braun. Schnelle Schnitte, rasche Blickwechsel und schroffe Montagetechnik seien Verfahren der Dichtung des 21. Jahrhunderts.
Joachim Scholl: In unserem "Lyriksommer" begrüße ich jetzt den Literaturwissenschaftler Michael Braun! Die Lyrik, das ist sein Feld. Als Herausgeber zahlreicher Anthologien kennt er die zeitgenössische deutsche Lyrik wie kaum ein Zweiter, und heute wollen wir ein spezielles Segment betrachten, das seit Heinrich Heine eigentlich eine große Tradition hat in Deutschland, in jüngerer Zeit aber ziemlich in den Hintergrund gerückt ist.

Es geht um das politische Gedicht! Willkommen im "Lyriksommer" von Deutschlandradio Kultur, Michael Braun!

Michael Braun: Ja, das politische Gedicht ist in den Hintergrund getreten, sagen Sie, Joachim Scholl, das hat natürlich Gründe. Ich gehöre einer Generation an, die, ja, gequält worden ist mit dieser Gattung, mit dem politischen Gedicht, weil in den, ja, in den 70er-Jahren war die Hochkonjunktur dieser Art von Dichtung, die sich halt der politischen Aufklärung verschrieben hatte.

Das Poetische kam dabei leider zu kurz, sodass man oft politische Lyrik mit der Brechstange zur Kenntnis nehmen musste, oder Gedichte, die einfach nur Flankenschutz waren für linke Sozialwissenschaften.

Scholl: Was mir zuerst spontan zu dem Thema einfiel, waren "Fragen eines lesenden Arbeiters" von Bertolt Brecht. Was würden Sie denn so spontan zücken, wenn man Sie auffordert, zitieren Sie ein vorbildliches politisches Gedicht, Herr Braun?

Braun: Ich kann auf zwei Gedichte hinweisen, die mich sehr beschäftigt haben, also, in dieser Zeit der Hochkonjunktur, vor 35 oder 30 Jahren, waren es zwei Gedichte, die ganz Deutschland aufgerührt haben. Das war das eine, ein Gedicht von Alfred Andersch, eher als Romancier bekannt, "artikel 3 (3)" hieß das, und es ging eigentlich um die Praxis der Berufsverbote, und Alfred Andersch hat die Öffentlichkeit düpiert, indem er in den letzten Zeilen seines Gedichts auf einen Geruch einer Maschine, die Gas erzeugt, hinweisen wollte, also ein völlig hanebüchener Vergleich, mit Gaskammern die Berufsverbote zusammenzubringen, das war das eine Gedicht.

Und das andere war "Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback", 1970 geschrieben von Erich Fried, was auch zum Skandalon wurde damals. Die würden mir als besonders prekäre Beispiele des Genres gleich mal einfallen.

Scholl: Also, wenn man jetzt sozusagen daraus folgert, dass ein notwendiger gesellschaftlicher Kontext für politische Lyrik darin bestehen muss, dass es also Umbrüche, starke soziale Erschütterungen, gesellschaftspolitische Debatten, Repression, politische Verwerfungen gibt, wäre das dann aber trotzdem eine gute Zeit für das politische Gedicht?

Braun: Meinen Sie jetzt die Gegenwart oder meinen Sie ...

Scholl: Nehmen Sie damals, weil Sie ja gerade sagen, Sie wurden damals damit gequält und es entstanden ja damals so viele, so flache Lehrgedichte in dem Sinne, mit dem Zeigefinger, schwenk, schwenk, überdeutlich.

Braun: Ja, damals war ja auch die Zeit des politischen Umbruchs, also die Zeit auch kulturrevolutionärer Hoffnungen, zumindest für einen großen Teil der liberalen linken Intelligenz. Und dann waren Gedichte immer wieder, politische Gedichte zur Stelle, die halt oft leider ihr Sprachbewusstsein, ihr poetisches Bewusstsein einfach mal aufgegeben haben oder in den Hintergrund gestellt haben.

Das war auf jeden Fall bis, sagen wir mal, Mitte der 80er-Jahre sozusagen an der Tagesordnung, politische Dichtung. Seither allerdings ist es auch aus ästhetischen Skrupeln heraus, würde ich mal meinen, hat man ein bisschen Distanz bezogen gegenüber dieser Form.

Das heißt aber nicht, dass die politische Dichtung jetzt völlig untergegangen wäre, man muss ja nur an das leichter fürchterlichste Beispiel politischer Dichtung der Gegenwart denken, die vor anderthalb Jahren geschrieben wurde von Günter Grass, "Was gesagt werden muss", wie das damals hieß.

Scholl: Aber gut, da könnte man natürlich jetzt sagen, jenseits der ästhetischen Debatte könnte man sagen, dieses Gedicht hat Furore gemacht, es wurde diskutiert.

Braun: An Wirkung lässt es sich kaum überbieten, das ist richtig, ja.

Scholl: Ich meine, vor zwei Jahren hat die Redaktion der Wochenzeitung "Die Zeit" ein interessantes Experiment gemacht, da hat man gewissermaßen politische Gedichte in Auftrag gegeben. Man hat auch gesagt, warum fällt uns eigentlich nichts Zeitgenössisches ein, das kann doch wohl nicht sein.

Man hat elf Lyriker und Lyrikerinnen gefragt, Michael Lentz war dabei, Marion Poschmann, Jan Wagner, Nora Bossong, also ganz populäre und prominente Namen in der deutschen Gegenwartslyrik. Und die schrieben über das Jahr dann tatsächlich politische Gedichte. Was sagt denn der Experte wie Sie, war das was?

Braun: Das war zum großen Teil, hat mich das erst mal amüsiert, weil sozusagen das Wirkungsverhältnis oder das Entstehungsverhältnis seltsamerweise sich umgekehrt hatte. Es war nicht ein Dichter da, der mit politischen Versen vorpreschen wollte, sondern umgekehrt, es war plötzlich die Redaktion einer Wochenzeitung da, die sozusagen den Versuch unternahm einer künstlichen Beatmung einer totgesagten Gattung. Es musste das Gedicht, das politische, erst künstlich beatmet werden, damit es überhaupt wiederentdeckt werden kann. Das fand ich erst mal amüsant.

Es gab aber dann auch durchaus Ergebnisse, die mich haben aufhorchen lassen. Es gab ein Gedicht von Ann Cotten, das auf den Tod von Mohammed Gaddafi einging und das in sehr aggressiver Weise tat. Das hat gesessen, würde ich mal meinen, während einigen Gedichten, die in diesem Zusammenhang als Auftragsarbeit ja gewissermaßen geschrieben wurden, sah man auch das Gezwungene wiederum an, das Demonstrative, dass man sich bemüht, hier einen politischen Stoff erreichen zu wollen. Aber dieses Bemühen sah man den Gedichten einfach an.

Scholl: Der "Lyriksommer" im Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Michael Braun über politische Gedichte. Jetzt werden wir mal richtig positiv mit der Frage, was denn ein gutes politisches Gedicht ausmacht, Herr Braun, und da haben Sie uns nämlich ein Beispiel mitgebracht, das wir uns anhören wollen! Was ist das für ein Gedicht?

Braun: Ja, ich bin diesem Gedicht und seinem Autor zum ersten Mal 2004, also vor fast schon wieder zehn Jahren begegnet, und es war auf einem Poetenfest im bayerischen Erlangen und dort hat der Autor Hendrik Jackson, Jahrgang 1971, ein Berliner Lyriker, ein Gedicht gelesen, das mich erst mal verstört hat, also auch aufgeregt hat, auch genervt hat damals.

Aber mit einem gewissen Abstand, je häufiger ich das Gedicht dann wieder las, desto mehr hat es mir gefallen. Und warum hat es mich aufgestört, es ging um die Reizfigur ...

Scholl: Osama bin Laden! Und das wollen wir uns jetzt mal anhören, Herr Braun, Sie wollen uns das vorlesen!

Braun: Ich lese es mal vor in dem Gestus, wie es der Autor vorträgt, auch mit Laut-leise-Wechseln:

Hendrik Jackson: "Schutz vor Nachstellung, meiner Vorstellung nach"

Bin Laden geht in die Berge,
geht bewundernswert & bärtig durchs Gebirge
im zweiten Programm und in allen.
Was ist von hier aus die Rückseite der kapitalistischen Münze?
Adler oder Eichmann, Goethe oder Lenz? Falsch, (Baudrillard).

Oha, die Medien rufen ihn an:
Höhle, hallo!
Hallo? Holla!
Ja, ja, hier Hölle! Hab ein Video!
Gut gelaunte Europäer.
Der Teufel dringt ins Detail, das Netzwerk leckt.
Ist da noch Speichelplatz unter der (vernetzten)
Zunge des Propheten?


Scholl: Verse des Berliner Lyrikers Hendrik Jackson, Michael Braun hat sie uns vorgetragen hier in unserem "Lyriksommer" im Deutschlandradio Kultur. Herr Braun, was macht für Sie den Reiz denn dieses politischen Gedichtes aus, warum ist es gut?

Braun: Aufgestört, erschreckt, genervt hat es mich, weil ich die ersten zwei Zeilen zuerst halt hörte und sie sich festfraßen, "Bin Laden geht in die Berge, geht bewundernswert und bärtig durchs Gebirge". Vor allem das "bewundernswert" dachte ich, hatte ich gleich dem Autor zugeschrieben, dass hier so eine Art heimliche Faszination an dieser Gestalt des Terroristen vorherrscht. Aber wenn man dann weiter liest, merkt man, es sind, da überkreuzen sich gewissermaßen Projektionen, die in unserer Gesellschaft, auch in unserer Mediengesellschaft existiert haben, auf bin Laden projiziert wurden. Das Raubein der Apokalypse!

Und in den Text werden immer wieder - das ist ein Verfahren, das wir in der Dichtung des 21. Jahrhunderts immer wieder finden - ganz schnelle Schnitte, rasche Blickwechsel, schroffe Montagetechnik, Verknüpfung von disparatesten Bildwelten findet hier statt.

Und immer, wenn uns Gedichte solche auch Rätsel aufgeben im positiven Sinn, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen müssen, wenn sie uns Mühe machen, hat mal Brecht gesagt, solange uns Gedichte Mühe machen, verfallen sie auch nicht und werden sie nicht gleich flach und leer und ohne Widersprüche.

Und das Gedicht hat sehr viele Widersprüche, hat sehr viele historische Schichten, die übereinandergelegt, miteinander verschränkt werden, sodass bei jeder Lektüre halt einfach neue Erkenntnisse aufblitzen.

Scholl: Also, wenn man jetzt diesen politischen Kontext mal nimmt und dann vielleicht weiterschaltet zu unserem aktuellen politischen Kontext, wir haben gerade momentan eine energische Debatte über Spähprogramme, Privatsphäre und dieses und jenes, wäre dann nicht eigentlich doch wieder eine ganz gute Zeit, in Anführungsstrichen, für politische Lyrik?

Braun: Gut, es haben sich ja in diesem Fall schon mehr oder weniger Prosaautoren zu einem Statement schon zu diesem Problem geäußert, in einem Protest-Statement, in einem Manifest. Ein Manifest hat immer die Schwäche halt einer gewissen Allgemeinheit und Abstraktion. Dass ein solches Thema wie ja flächendeckende Datenausspähung ins Gedicht findet, das ist nur eine Frage der Zeit. Nur, in welcher Form es sein wird.

Ich nehme auch an, dass es eher in dieser Form der schnellen Schnitte wieder sein wird sozusagen, die neuen Gedichte entstehen ja auch gewissermaßen oder sind geprägt von eben der gewissen Oberflächenschnelligkeit des digitalen Zeitalters auch, auch dieses Gedicht von Hendrik Jackson schon, 2004. Und das wird auch, ich denke, auch in diesem Gedicht, das sich vielleicht mit diesem flächendeckenden Datenausspähen beschäftigen wird, der Fall sein.

Scholl: Das politische Gedicht im Kontext unseres "Lyriksommers" hier im Deutschlandradio Kultur! Ich danke Ihnen, Michael Braun, für Ihren Besuch!

Braun: Bitte sehr!


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