Radikaler Bruch mit der Donaumonarchie

Von Helmut Böttiger · 25.12.2010
Als die Erzählung "Leutnant Gustl" von Arthur Schnitzler am ersten Weihnachtsfeiertag im Jahr 1900 in der liberalen Wiener Zeitung "Neue Freie Presse" gedruckt wurde, schlug sie sofort hohe Wellen. Schnitzler zeichnet ein ungeschöntes Bild der Zustände in der k&k-Monarchie.
"Wie lange wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen. Schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich. Und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren."

Leutnant Gustl geniert sich oft, er ist völlig auf die gesellschaftlichen Regeln fixiert. Und weil er Angst hat, ihnen nicht zu genügen, wird er schnell aggressiv. Als Arthur Schnitzler seine Erzählung veröffentlicht, hat man den autoritären Charakter im Sinne Adornos noch längst nicht auf den Begriff gebracht. Schnitzlers Erzählung ist in vielem ihrer Zeit voraus. Sie erscheint am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1900 in der wichtigsten Zeitung Wiens, der "Neuen Freien Presse", und ist sofort ein Skandal. Leutnant Gustl sitzt in einem Konzert. Und seine Rede ist der erste konsequente innere Monolog in der Literaturgeschichte überhaupt. Der Leutnant, der eine typische kleinbürgerliche Herkunft hat, zeigt sich geprägt von Unsicherheit und Gewaltvorstellungen. Am nächsten Tag steht ihm ein Duell mit einem Arzt bevor, den er im Geiste fortwährend als "Sozialisten" beschimpft. An der Garderobe nervt ihn dann der Mann vor ihm:

"'Sie, halten Sie das Maul!' - Das hätt' ich nicht sagen sollen, ich war zu grob. Na, jetzt ist's schon g'scheh'n! - 'Wie meinen?' - Jetzt dreht er sich um. Den kenn ich ja! Donnerwetter, das ist ja der Bäckermeister, der immer ins Kaffeehaus kommt. Was macht denn der da? Hat sicher auch eine Tochter oder so was bei der Singakademie. Ja, was ist denn das? Ja, was macht er denn da? Mir scheint gar. Ja, meiner Seel', er hat den Griff von meinem Säbel in der Hand. Ja, ist der Kerl verrückt?"

Der brave Bäckermeister sagt zu Gustl einfach "dummer Bub!" Da bleibt von der äußeren Fassade des Leutnants nichts mehr übrig. Er sieht zunächst nur noch den Selbstmord als Ausweg und irrt in der Nacht herum. Doch als er frühstücken will, erreicht ihn die Nachricht, dass der Bäcker inzwischen an einem Schlaganfall gestorben ist. Da vergisst Gustl sofort seine Selbstmordgedanken und rüstet zum Duell.

Die äußere Form ist genauso radikal wie der Inhalt. Durch den inneren Monolog des Leutnants Gustl wird die gesamte Phrasenhaftigkeit der k&k-Monarchie deutlich. Gustl entlarvt sich selbst: Die äußeren Werte wie Moral, Ehre und Treue dem Kaiser gegenüber wirken sofort lächerlich. Er ist den wechselnden Stimmungen zwischen Hochmut und Haltlosigkeit hilflos ausgeliefert. Gerade durch die exakt wiedergegebene Mündlichkeit, durch die Wiederholungen und Stockungen entfaltet sich die enorme Wirkung dieser Erzählung. Die assoziativen Abschweifungen Gustls, die Arthur Schnitzler meisterhaft vorführt, verdanken sich offenkundig der Lektüre Sigmund Freuds. Schnitzler steht völlig im Bann der gerade entwickelten Psychoanalyse und wendet sie auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als solche an. Dass die Donaumonarchie in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nur noch durch Verdrängung aller inneren Probleme existiert, wird durch die Figur des Leutnant Gustl exemplarisch deutlich.

"In einer Viertelstund' geh ich hinüber in die Kasern' und lass mich vom Johann kalt abreiben. Um halb acht sind die Gewehrgriff', und um halb zehn ist Exerzieren. – Und nachmittag um vier. Na wart', mein Lieber, wart', mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt. Dich hau' ich zu Krenfleisch!"

Arthur Schnitzler ist bei Erscheinen des "Leutnant Gustl" 38 Jahre alt. Die Veröffentlichung kostet ihm seinen Offiziersrang als Oberarzt der k&k-Armee und entfesselt eine antisemitische Pressekampagne gegen ihn. Der militärische Standesdünkel, der hier gezeigt wird, die leeren Phrasen, die zeigen, wie ausgehöhlt die Donaumonarchie von innen bereits ist, die Unfähigkeit des Leutnants, aus einer Affäre wie derjenigen mit dem Bäckermeister irgendwelche Lehren zu ziehen – dies alles birgt im Jahr 1900 gewaltigen Sprengstoff. Schnitzler hat viele Feinde, aber er wird zu einem großen Autor.