Rache der Tochter

18.01.2006
Zusammen mit ihrem Mann entschließt sich Madame Kampf, einen Ball auszurichten, um den Aufstieg in die feine Pariser Gesellschaft zu zelebrieren. Von der Feier ausgeschlossen ist die 14-jährige Tochter Antoinette. Für diese Zurückstufung rächt sie sich. Es kommt zum Eklat. Niemand erscheint zu dem Empfang, außer einer spöttischen Verwandten.
Es ist schon erstaunlich, wie viele Autoren der Zwischenkriegszeit wir im Moment wieder vorgeführt bekommen. Nicht immer handelt es sich dabei um literarische Wiederentdeckungen von der Qualität und dann auch Breitenwirkung jenes Sandor Márai, dessen "Glut" uns vor einigen Jahren im Grunde erst zu Bewusstsein gebracht hat, was für eine pulsierende Literatur in den dreißiger und sogar noch vierziger Jahren etwa das Herkunftsland Márais, nämlich Ungarn, besaß. Márai hat damals, wie so viele Künstler und Intellektuelle seines Landes, zunächst sein Glück in Frankreich gemacht und von dort auf seine Heimat gewissermaßen zurückgestrahlt.

Von der heute hier vorgestellten Irène Némirovsky lässt sich Ähnliches behaupten. Die 1903 in Kiew als Tochter eines jüdischen Bankiers geborene Erzählerin ist auch in Frankreich zum Schreiben gelangt. Allerdings war es ihr nicht vergönnt, in ihrer Heimat jemals literarisch Fuß zu fassen. Die Sowjetunion hatte, anders als das bürgerliche Ungarn, keinen Bedarf an einer so mondänen Autorin. Überhaupt war ihr keine glückliche Entfaltung der eigenen Talente beschieden: 1942 wurde Irène Némirovsky im von Deutschen besetzten Paris nach Auschwitz deportiert, wo sie auch ums Leben kam.

Ihr großer Gesellschaftsroman, "Suite Francaise", eine Bestandsaufnahme der französischen Lebenswirklichkeit unter der Okkupation, blieb Fragment und wurde in Frankreich bei seiner Wiederentdeckung im Jahre 2004 die literarische Sensation des Jahres. Weder Julien Green noch Marcel Aymé, weder Drieu La Rochelle noch Robert Brasillach oder Emmanuel Bove, die alle eindringliche literarische Zeugnisse der für Frankreich so schwarzen Jahre hinterlassen haben, wagten sich an einen solchen panoramaartigen Wurf, wie ihn ihre jüdische Kollegin in Angriff genommen hat.

Hier soll es nun aber nicht um die "Suite" gehen, sondern um eine frühere Arbeit der Autorin, um einen kleinen Roman, besser eine große Novelle, überschrieben "Der Ball". Sie erschien 1930. Im Kern geht es darum um ein Eifersuchtsdrama zwischen Mutter und Tochter. Madame Kampf ist von gesellschaftlichem Arriverungswillen zerfressen. Ihre Tochter vernachlässigt sie darüber mit einer Roheit, die ihre ganze Charakterlosigkeit enthüllt. Doch Antoinette, eine frühreife 14-Jährige, lässt sich nicht alles bieten. Als die Eltern zu einer großen Einladung rüsten, die auch der politischen Karriere des Herrn Papa nutzen soll, hintertreibt sie durch einen geschickten Schachzug den "Ball".

Sie erweist sich damit nicht zuletzt als Fleisch vom Fleisch ihrer Mutter: zielstrebig und grausam. Das Buch überzeugt auf eine geradezu erschreckende Weise durch die Kaltblütigkeit, mit der die Autorin hier ein Milieu von Neureichen der Lächerlichkeit, man kann sogar sagen: der Verachtung preisgibt. Dies ist eine Gesellschaftskritik, die ganz unpolitisch, ganz unideologisch, die vielmehr ästhetisch und moralisch daherkommt. Pikant ist das Detail, dass das geschilderte Milieu ausdrücklich als jüdisch gekennzeichnet wird und der Autorin später den Vorwurf des jüdischen Selbsthasses eintrug. Je mehr der Faschismus in den dreißiger Jahre an Boden gewann, desto stärker distanzierte sich Irène Némirivsky denn auch von der Darstellung jüdischer Kreise, die sie schon in ihrem immens erfolgreichen Erstling "David Golder" von 1929 mit Hohn und Spott übergossen hatte.

Heute wird man den "Ball" eher als psychologische Studie lesen. Und als gnadenlos auf die gesellschaftliche und menschliche Katastrophe zulaufende Fallgeschichte. Es handelt sich um eine Fahrt in den Abgrund, die dem Leser den Atem stocken lässt…


Irène Némirovsky: Der Ball
Übersetzt von Claudia Kalscheuer
Zsolnay, Wien 2005
99 S., 17, 90 Euro.