Querschnitt durch die moderne chinesische Lyrik

09.10.2009
In den 92 Prosagedichten, die das Hörbuch enthält, ist von poetischer Autonomie die Rede, vom Interesse an der Postmoderne des Westens. Expressionistische Töne werden in der Wahrnehmung moderner Großstadtexistenz angeschlagen.
Yan Jun "Charta. Ein Sonett":

"Ich fordere die Abschaffung der Kunst und die Veränderung des Lebens. Ich fordere, dass Salz in die Wunden gestreut wird und Gift in den Schnaps und dass die kalte Schulter fremde Wärme sucht"."

Dieses Hörbuch ist nichts für Mußestunden.

""... ich fordere die Befreiung der eingesperrten Wörter, ich fordere die
Forderung, das Verbot des Verbots, die Abschaffung der Abschaffung, die
Verspottung des Spotts"."

Es lässt dem Hörer keine Zeit, sich genussvoll in eine poetische Welt zu versenken, von der hierzulande wenig gesprochen wird. Beim ersten Ton spitzt man die Ohren.

""Ich fordere, dass das Schweigen gebrochen und die Stille bewahrt wird"."

Yan Jun, der den Querschnitt durch die zeitgenössische chinesische Lyrik der letzten zweieinhalb Jahrzehnte eröffnet, ist Jahrgang 1973. Er ist einer der Jüngsten, die Chinas Lyrikszene hat. Wie die gleichaltrige Yin Lichuan, die im Beat-Style textet, präsentiert er seine Texte mit Soundcollagen und Musik. Das Internet verstehen sie als eine zeitgemäße literarische Bühne. Selbstbewusst spricht Yin Lichuan vom Lebensgefühl junger Intellektueller in Peking und vom Konflikt mit der Elterngeneration.

Yin Lichuan "Familienbande am Wochenende":

""Papa beugt sich über den Zeitungsstapel und zieht einen Artikel heraus, der geeignet ist, uns allen einen Schreck einzujagen. Aus dem Fundus seiner Erinnerungen holt er die gesammelten Einschätzungen zur Weltlage dieser Woche hervor (…) Ich wende mich ab. Papa, können wir denn nicht wie wirkliche Freunde über den Irak und das verdammte Wetter reden, über die
Zukunft Amerikas und Chinas."

Die 92 Prosagedichte enthalten klassische lyrische Themen wie Liebe und Tod sowie die Zyklen des Lebens und der Natur. Doch Dichten im klassischen Sinn erscheint den neun Lyrikern und zwei Lyrikerinnen obskur. Ein Begriff, der nach der Kulturrevolution jene Lyrik stigmatisieren sollte, die dem maoistischen Regelkanon und Einheitsplural widersprach.

Von poetischer Autonomie ist die Rede und vom Interesse an der Postmoderne des Westens. Expressionistische Töne werden in der Wahrnehmung moderner Großstadtexistenz angeschlagen. Chen Dongdong, Jahrgang 1961, im Gedicht "Tief in meiner Shanghaier Schlaflosigkeit":

"Das alte Jahrhundert. Neoklassizismus. Ein Donner zertritt unter seinen Hufen das Licht. Millionen Gespenster wollen mich ausfüllen. Ein Mädchen mit entblößter Taille. Die ionischen Säulen werden von Tag zu Tag dünner. Die Jahreszeit entzündet wie eine Fackel den Regen. Blindwütig bespritzt er die goldenen Türen der Banken. Die Vorsehung, die dahinter waltet, offenbart sich jäh in einem Blitz"."

Charismatische Stimmen wie die von Corinna Harfouch und Frank Arnold, Sophie Rois, Ulrich Noethen und Hanns Zischler versetzen die poetischen Klangkörper in temporeiche Sprachabläufe. Doch ob piano oder presto – stets ist von einem Ich die Rede, das sich genussvoll als Fremdes feiert.

Xi Chuan, Jahrgang 1963, hat als profunder Kenner der Lyrikszene eine aufregend-schöne Auswahl getroffen, die unter die Haut geht. Der Hörbuchtitel bezieht sich auf sein Gedicht "Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe". Humorvoll thematisiert er darin den Beginn der chinesischen Moderne. Die Literatur der sogenannten "Schmetterlinge und Mandarinenten" stand einst abwertend für populäre Literatur und verschlissene Symbole im klassischen Stil.

""Kaum auf die Autobahn gefahren, begehe ich ein Massaker an Schmetterlingen; oder diese stürzen sich, kaum sehen sie mich kommen, aus freien Stücken in den Tod. Sie zerschmettern an der Windschutzscheibe. Ausgerechnet an meiner Windschutzscheibe. Einer nach dem andern sterben sie, verwandeln sich in Tropfen, in gelbe Kleckse, die der Scheibenwischer nicht entfernt. Notgedrungen halte ich an, teils um ihnen mein Beileid zu bezeugen, teils um den Moment, an dem ich meine Schuld begleiche, hinauszuzögern. Aber sofort kommt die Polizei, kontrolliert meine Papiere, erteilt mir einen Strafzettel und befiehlt mir, unverzüglich meine Fahrt fortzusetzen, da das Anhalten auf der Autobahn verboten sei. Unverzüglich zerschmettern so noch mehr Schmetterlinge an meiner Windschutzscheibe."

Die akustische Virtuosität des Hörbuchs wird von einem Booklet begleitet, das alle Texte zweisprachig enthält. Damit wird nicht nur die Leistung der Übersetzer Marc Herman und Raffael Keller gebührend gewürdigt. Die fremde Eleganz der Schriftzeichen lässt den Wunsch entstehen, die Gedichte nicht nur auf Deutsch, sondern auch im Original zu hören.

Besprochen von Carola Wiemers

Schmetterlinge auf der Windschutzscheibe. Moderne chinesische Lyrik
Fly Fast, Berlin 2009
2 CDs, 138 Minuten, 19,90 Euro