Quälende Schuld

12.11.2009
Als Ennio Flaianos Roman "Alles hat seine Zeit" 1947 in Italien erschien, war das ein ungünstiger Moment. Das Buch, das im Original "Tempo di uccidere", also "Zeit des Tötens" heißt, dreht sich um den verheerenden Abessinienkrieg, den Mussolini 1935 vom Zaun gebrochen hatte.
Das afrikanische Abenteuer kostete 700.000 Äthiopiern das Leben und ging 1941 eher ruhmlos zu Ende. So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wollte aber niemand an die imperialistischen Gelüste des faschistischen Regimes erinnert werden. Obwohl Flaiano mit dem damals gerade ins Leben gerufenen Premio Strega ausgezeichnet wurde und auch bei der Kritik auf ein positives Echo stieß, fand der großartige Roman keine Leser.

"Alles hat seine Zeit" ist die ungefilterte Innenschau eines italienischen Soldaten in Äthiopien, der sich mit erbarmungsloser Folgerichtigkeit immer tiefer in Schuld verstrickt. Flaiano, Jahrgang 1910 und Abessinien-Veteran, operiert mit einem Ich-Erzähler. Der namenlose Offizier entpuppt sich als exemplarischer Durchschnittsmensch: mehr oder weniger tapfer, eher selbstbezogen, durchschnittlich rassistisch.

Der Roman beginnt mit einem Unfall. Ein Lastauto, mit dem der Offizier unterwegs ist, kommt an einer steilen Kurve mitten im Buschland zu Fall. Er überlebt den Sturz unbeschadet, macht sich wegen starker Zahnschmerzen aber auf den Weg in die nächste Stadt. Unter der brennenden Sonne verliert er den Pfad und sucht Schutz in einem Wäldchen. An einem Tümpel beobachtet er eine schöne Äthiopierin mit einem weißen Turban auf dem Kopf, die sich unbefangen wäscht.

Plötzlich begehrt er die Frau. Die Fremde wehrt sich zuerst, gibt dann aber nach und verbringt den Nachmittag mit dem Italiener. Die beiden schlagen ein Lager auf, und als sich mitten in der Nacht ein wildes Tier nähert, feuert der Offizier mehrere Schüsse ab. Ein Querschläger fügt der Frau, die Mariam heißt, eine tiefe Bauchwunde zu. Weil er fürchtet, dass sie ohnehin wird sterben müssen, versetzt der Soldat ihr einen Gnadenschuss, begräbt sie und geht fort. Aber Mariam lässt ihn nicht mehr los.

Es ist der nüchterne Ton, der einen zuerst packt. Mitleidlos und gleichgültig breitet der Erzähler die Vorkommnisse aus, fast so, als schriebe er einen Rapport. Ab und zu blitzt kalte Wut auf – der Mann wehrt sich gegen die Macht, mit der die Tote Besitz von ihm ergreift. Zwischen der unerklärlichen, phantastischen und bedrohlichen afrikanischen Umgebung und den sachlichen Beschreibungen entsteht ein bezwingendes Gefälle, das die Spannkraft des Romans ausmacht. Flaiano, der später als Drehbuchautor von Antonioni und Fellini berühmt wurde und zu den spitzfindigsten Beobachtern gesellschaftlicher Veränderungen gehörte, erzählt die Geschichte eines Kontrollverlusts.

Flaianos Zwangssystem erinnert nicht nur an die großen Kafka-Romane, sondern vor allem an Dino Buzzatis halluzinogenen Erzählraum in seinem Hauptwerk "Die Tartarenwüste" (1940). Gleichzeitig knüpft Flaiano an die phantastisch-surreale Tradition eines Landolfi an, gibt seiner Geschichte am Ende aber eine reale Wendung, die das Ganze fast noch bestürzender macht. Mit dem Zukunftsoptimismus des Neorealismus hat das nichts mehr zu tun. Unerbittlich rückt Flaiano der Wirklichkeit auf den Leib.

Besprochen von Maike Albath

Ennio Flaiano: Alles hat seine Zeit
Aus dem Italienischen von Susanne Hurni
Manesse Verlag, Zürich 2009
508 Seiten, 22,95 Euro