Publizist von Lucke: Sloterdijk gründet seine Thesen auf ein Zerrbild

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Ulrike Timm · 22.10.2009
Der Politikwissenschaftler und Publizist Albrecht von Lucke hat dem Philosophen Peter Sloterdijk vorgeworfen, mit seinen Thesen ein Zerrbild der Wirklichkeit zu zeigen. Hinter Sloterdijks Betonung der Freiheit verschwänden Gleichheit und Gerechtigkeit regelrecht, sagte Lucke.
Ulrike Timm: Wenn Philosophen sich verzwirbeln, dann kann das zu sehr schwer verdaulichen Zeitungsartikeln führen. Aber die Debatte, die der Philosoph Peter Sloterdijk losgetreten hat und heute mit einem Artikel in der politischen Zeitschrift "Cicero" fortsetzt, die wollen wir aufnehmen, denn hier geht es wirklich ums Ganze: Wie sollte eine gerechte Gesellschaft aussehen? Wie viel darf die dem Einzelnen abverlangen und wie viel Unterstützung darf der Schwächere erwarten?

Peter Sloterdijk meint, viel zu sehr habe sich der Staat eine Umverteilung zugunsten des Sozialen zu eigen gemacht, und er träumt in letzter Konsequenz von einem Staat, der die Steuern durch freiwillig gegebene, milde Gaben ersetzt. Vor allem gelte dabei eine Art Aristokratie des Geistes, darf sich nicht länger ausbeuten lassen, indem sie ärmere, erfolglosere und auch faulere Schichten ohne Gegenleistung alimentiere. Harter Tobak also.

Was bedeuten diese Thesen für den Sozialstaat, das Gemeinwesen einer Gesellschaft? Darüber sprechen wir jetzt mit Albrecht von Lucke, er ist Politikwissenschaftler und Redakteur der Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag!

Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Frau Timm!

Timm: Ich grüße Sie. Und weil es so harter Tobak ist, erst mal vorsichtig vorweg gefragt: Haben Sie Herrn Sloterdijk auch so verstanden?

von Lucke: Durchaus habe ich ihn so verstanden, das haben Sie, glaube ich, sehr prägnant wiedergegeben. Man kann ja sagen: Der neue Artikel ist gewissermaßen zunächst mal, böse gesprochen, der Aufguss eines älteren. Die Debatte begann bereits im Sommer mit einem großen Aufschlag von Peter Sloterdijk in der "FAZ", in der er gewissermaßen erklärte: Wir müssen uns fundamental verabschieden von der Vorstellung, dass der Staat primär Ausgleich leistet für gewissermaßen die, ja, die Tatsache, dass Kräfte am Werke sind, die stark sind, die gewissermaßen leisten müssen, von der alten These, dass zunächst mal Ausbeutung der Schwachen geleistet wird durch diejenigen, die Arbeitskraft ausbeuten.

Die alte linke These sei gewissermaßen überholt, wir hätten es mit einem völlig neuen Phänomen zu tun, nämlich gewissermaßen mit der Staatskleptokratie, der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven. Der Staat leiste als großes Ungeheuer die Umverteilung zulasten der Produktiven, und das wäre das neue Phänomen.

Und das versucht er in dem neuen Artikel gewissermaßen mit einer großen Überbauthese zu verbinden. Er stellt fest: Wir sind in einer Phase der Lethargokratie, eines Gemeinwesens der Verfettung und der seit Kohl bestehenden, ja, nicht mehr tätigen, produktiven Werktätigkeit gewissermaßen oder Kräftigkeit dieses Gemeinwesens, und jetzt gelte es, zum Zeitpunkt dieser neuen Koalition von Schwarz und Gelb, ein neues Manifest der Leistungsträger zu begründen.

Timm: Wenn ich das jetzt ganz böse zusammenfasse, kann man natürlich auch sagen: Elitäre Klasse, kämpft gegen die Armen, die euch ausbeuten. Das ist jetzt sehr zugespitzt. So wurde das von vielen gelesen, deswegen der Streit. Das ist natürlich letztlich – und das betont Sloterdijk auch immer wieder –, es ist eine Utopie. Aber was würde es bedeuten, wenn das tatsächlich Wirklichkeit wäre, ein Staat ohne Steuern, bei dem die Schwachen vom Gutdünken der Reicheren abhängig wären letztlich?

von Lucke: Das ist ganz richtig, er formuliert eine Utopie, er hat die Vorstellung, dass der Staat von einem Nehmenden zu einem Gebenden werden könnte, dass gewissermaßen die guten Kräfte freigelegt werden. Der Mensch, der gleichermaßen aus nehmenden und gebenden Kräften, aus Gier und Stolz, bestehe, solle sich in seinen gebenden Kräften entfalten können, und die Leistungsträger sollten aus freiem Antrieb gewissermaßen geben.

Die Vorstellung, zu was das führt, die ist allerdings reichlich spekulativ, und das macht auch das Spannende dieser Thesen aus oder beziehungsweise das Provozierende, denn wer wollte glauben – und da wundert man sich bei Sloterdijk –, dass das Menschenbild eines durchaus konservativ sich gerierenden Philosophen, dass das Menschenbild in Wirklichkeit so positiv wäre, dass also die Vorstellung greift, dass gewissermaßen aus reinem benevolenten Verhalten die gut Situierten, die Besserverdienenen freigiebig geben würden? Und da hat selbst ein … in eher linker Position große Zweifel, dass das funktionieren würde, im Gegenteil, wir kämen wahrscheinlich zu einem Staat, der gleichermaßen als Schrumpfform nur noch vom Wohlverhalten der gut Situierten überlassen wäre. Und da hätte man Zweifel, wenn man sich die Phänomene der letzten Zeit – ein Phänomen wie Zumwinkel et cetera und viele andere – betrachtet, dass diese Mildtätigkeit wirklich funktionieren würde.

Timm: Wenn wir mal vom Könnte, vom Konjunktiv, ins Jetzt gehen und gucken auf unser Gemeinwesen, das ja bei allem Hickhack noch auf große Werte gründet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die großen Werte der Aufklärung – ja, wären die dann praktisch obsolet, wenn ein Staat abhängt vom Altruismus einiger weniger, den es dann gibt oder nicht?

von Lucke: Die wären damit nicht notwendig obsolet, aber genau darum geht es im Kern. Es geht um die ganz große Frage: Wie verhalten sich die beiden Grundwerte, Freiheit versus Gleichheit, Gerechtigkeit? Das ist die eigentliche Frage. Und Sloterdijk macht ja diesen Aufschlag mit dem Magazin "Cicero" nicht ohne Grund zu diesem Zeitpunkt. Es geht jetzt, gerade im Beginn der neuen Koalition, um die Frage: Wie werden die Pflöcke eingerammt? Und er hat die These, die er jetzt sehr abschwächt, aber er hat sie früher viel stärker formuliert: Es geht darum, gewissermaßen ... Die normale Reaktion, wie er sagte im ursprünglichen "FAZ"-Artikel, die eigentlich wäre ein fiskalischer Bürgerkrieg, die Leistungsträger müssten sich verweigern. Er sagt jetzt, zu diesem Zeitpunkt geht es darum, gewissermaßen Freiheitskomponenten freizusetzen. Es geht darum, einen neuen Vertrag, gutmeinenden Vertrag der Leistungsträger zu formulieren. Und in dieser Vorstellung soll dem Begriff der Freiheit – mit all dem Interesse, was jetzt auf die Liberalen, also die FDP, fokussiert wird – ein ganz neuer Stellenwert beigemessen werden.

Dahinter verschwindet aber regelrecht das Moment der Gleichheit und der Gerechtigkeit, das spielt die zentrale Rolle nicht mehr. Und darum geht es. Es geht um ganz neue Aushandlungsprozesse und Kämpfe um die Frage: Wollen wir uns heute noch um die Frage der Gerechtigkeit in dem Maße kümmern? Denn das Bild – und das ist ja das Entscheidende –, das Bild, was Sloterdijk zeichnet, das scheint mir in ganz großem Maße ein Zerrbild zu sein. Wir haben es ja in den letzten Jahren gerade nicht zu tun gehabt mit einer Form von permanenter Belastung der Leistungsträger.

Die Regierung Schröder – und deswegen ist sie nicht zuletzt abgewählt worden – hat in hohem Maße auch die Steuern der Leistungsträger gesenkt. Wir haben heutzutage Steuersätze, die weit unter der Zeit der Kohl-Ära lagen bei den Leistungsträgern, bei den Gutverdienenden, und das ist zum Teil zu erheblichem Maße von den schwach Situierten getragen worden. Deswegen haben wir ja vor allem Absatzbewegungen nach unten, Leute, die sich gar nicht mehr produktiv in dieser Gesellschaft betätigen können und die kaum auf die Beine kommen, das ganze Phänomen Hartz IV. Und dieses Phänomen, dass das wirklich eine erhebliche Kluft in der Gesellschaft gibt, an dem geht Sloterdijk weitgehend vorbei. Das interessiert ihn auch nicht zentral.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. In den letzten Tagen gab es ja noch eine zusätzliche, lebhafte Debatte um ein sehr umstrittenes Interview des mittlerweile weitgehend entmachteten Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin, der generell nur noch hochqualifizierte Zuwanderer wollte, also Leistungsträger, und die Integrationswilligkeit vieler Ausländer ganz generell abstritt. Sind diese Gedanken mit denen von Sloterdijk kompatibel und passen gut in die Zeit?

von Lucke: Ja, sie passen offensichtlich derartig in die Zeit, dass Sarrazin enormen Zuspruch bekommt. Das liegt aber auch in erheblichem Maße daran, dass die genauen Worte von Sarrazin gar nicht immer kolportiert werden und bei ganz genauer Betrachtung ist es so: Sloterdijk beruft sich auch ausdrücklich auf Sarrazin. Er sagt, dass Sarrazin Integrationsschwierigkeiten angemerkt hätte von türkischen und arabischen Teilen der Bevölkerung, das wäre sofort unterdrückt worden.

Er macht sich gewissermaßen anschlussfähig an den Diskurs und das zeigt, dass dieser gemeinsame Diskurs, dies Zusammenspiel genau zentral auf diese Frage abstellt. Aber natürlich geht Sloterdijk auch nicht im Kern auf das ein, was Sarrazin wirklich gesagt hat, und das geht natürlich weit darüber hinaus, dass er gesagt hätte, es gibt Integrationsprobleme. Sarrazin hat dezidiert einen Diskurs angeschlagen, der mit rassistischen Momenten gespielt hat.

Wenn es beispielsweise heißt, die Türken erobern Deutschland genauso wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben, durch eine höhere Geburtenrate, dann waren das Zitate, die explizit NPD-kompatibel sind, und damit, muss ich sagen, … denn die NPD beispielsweise propagiert diesen Kampf der Wiegen, wenn man es so nennen will.

Timm: Das ist ja eine ganz merkwürdige Allianz, die sich da auftut oder aufzutun scheint. Dann wäre ja Sarrazin sozusagen der Sloterdijk des kleinen Mannes, der populistische Sloterdijk.

von Lucke: Das ist böse formuliert, denn man muss schon sagen, Sloterdijk würde sich hüten natürlich, sich dezidiert zu solchen Thesen zu verstehen. Das wollte ich damit gesagt haben.

Aber die Fähigkeit, anschlussfähig zu sein, zu sagen, das muss doch gesagt werden können, ohne genau zu sagen, was da eigentlich gesagt worden ist, ohne genau zu sagen, was ist da gekommen, … Also, wenn gesagt würde, auch bei Sarrazin, die Produktiven sollen bleiben, der Rest soll nach Hause, also, im NPD-Jargon gesagt, Heimreise statt Einreise, dann sind das genau Phänomene, die wir bis dato gar nicht kannten. Und diese dringen mittlerweile in einer Weise in die Mitte vor – offensichtlich natürlich aufgrund der Tatsache, dass wir Probleme haben, die wollen wir sicherlich nicht leugnen.

Aber damit werden Diskurse möglich gemacht, die man vor Kurzem nicht für möglich erachtet hätte. Und diese Melange, sich gleichsam – und das ist die Tendenz, sowohl bei Sarrazin als auch bei Sloterdijk –, sich immer gewissermaßen unter dem Verdikt des Tabus zu sehen, der großen political correctness, die führt dazu, dass man eigentlich gleichsam immer die eigenen Aufschläge danach anschließend verharmlost.

Und das ist ein Prinzip: harter Einstieg, bei Sloterdijk vor Kurzem mit dem "FAZ"-Artikel, mit der Aufforderung antifiskalischer Bürgerkrieg, anschließend Verharmlosung, um zu sagen: Es war doch alles nicht so gemeint. Und das führt dazu, dass man letztlich immer als Opfer dieser Gesellschaft dasteht.

Timm: Das ist natürlich eine sehr ausführliche Debatte, auch eine zum Teil sehr eitel geführte Debatte, die da durch die Feuilletons fegt derzeit. Nun muss natürlich ein Philosoph wie Peter Sloterdijk wissen – und das weiß er auch: Das wird nicht als Traum gelesen, das wird als Zeitkommentar gelesen.

Und alle fragen sich eigentlich: Was hat ihn geritten, das so provokant darzustellen, dass man ihn jetzt in die Nähe von den Thesen von Thilo Sarrazin rücken kann, dass das überhaupt möglich ist? Haben Sie eine Vorstellung davon, was ihn da geritten hat?

von Lucke: Na, das sind natürlich auch die Prinzipien des Medienbetriebs. Es ist doch ganz klar: Der Tabubruch und die These, die starke These, wird belohnt, und das ist schon lange das Prinzip von Peter Sloterdijk, das macht er brillant, als Wortakrobat, wie wir kaum einen haben.

Aber das Prinzip ist ganz klar: Er will damit etwas setzen und das – und das sei als Letztes gesagt: Es kommt natürlich genau zu dem Zeitpunkt, wo wir in eine neue Phase der Republik eintreten, wo gewissermaßen Schwarz-Gelb hochgradig bedürftig ist nach Deutungseliten und sich viele Menschen anheischig machen, Deutung für dieses schwarz-gelbe Produkt zu geben und zu sagen: Wir sind die Stichwortgeber, wir wollen das neue, liberale Segment dieser Gesellschaft bedienen. Das ist der Anspruch dieser Debatten.

Timm: Und dieser Streit wird weitergehen. Wir sprachen darüber mit dem Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Vielen Dank für Ihren Besuch im Studio!

von Lucke: Ich danke Ihnen, Frau Timm!