Psychologie der Achtsamkeit

Warum Zeitsparen keine Muße bringt

Eine Frau steht an der Ampel, ruht in sich und entzieht sich - mitten in der Stadt - der Hektik des Alltags.
Eine Frau steht an der Ampel, ruht in sich und entzieht sich - mitten in der Stadt - der Hektik des Alltags. © imago/Westend61
Stefan Schmidt im Gespräch mit Mandy Schielke · 04.11.2017
Sie stehen an der Ampel und statt sich zu ärgern, spüren Sie in den Körper hinein, schauen sich um, fühlen sich wohl. Genau das ist "Muße", meint der Psychologe Stefan Schmidt. Ein angenehmer Zustand, der reiner Selbstzweck ist - und der im Kopf beginnt.
Es fühle sich leicht an, man merke Muskelentspannung – "ich habe so ein körperliches Gefühl auch von Freiheit und Gelassenheit". Stefan Schmidt spricht über Muße, die uns abhanden gekommen zu sein scheint, so dass es gar nicht so einfach ist, den Zustand der Muße überhaupt zu beschreiben.
Ein wesentliches Merkmal der Muße sei, dass sie "unverfügbar" ist, meint Schmidt, der an der Europa-Universität Viadrina Gesundheitsforschung betreibt und auch für den Sonderforschungsbereich Muße der Universität Freiburg arbeitet:
"Die Muße ist unverfügbar, (…) die kann ich nicht ein- oder ausschalten: Sie ist Selbstzweck. Und in dem Moment, wo ich versuche, etwas Selbstzweckmäßiges zu verzwecken, ist es kein Selbstzweck mehr."

"Das, was ich gerade tue, genügt mir"

Die Muße sei eher Entspannung als Anspannung, aber sie ist – laut Schmidt – noch mehr:
"Muße ist so eine Orientierung in der Gegenwart, es hat was mit Freiheit zu tun, es hat was mit Gelassenheit zu tun, und es hat was mit Unproduktivität in dem Sinne zu tun, dass ich jetzt nicht funktional unterwegs bin (…) – das, was ich gerade tue, genügt mir."
Wer allerdings irrigerweise glaube, er könne durch effektives Arbeiten Zeit sparen, um später mehr Freizeit zu genießen, der mache genau die gegenteilige Erfahrung:
"Je mehr ich in Unruhe und Tätigkeit im Tun-Modus und in Produktivität unterwegs bin, desto mehr gewöhnt sich mein inneres Sein, mein Geist, auch an diesen Punkt. (…) Wenn man dann mal die Zeit hat, dann findet man die Ruhe nicht mehr, weil man ja innerlich schon so auf Unruhe gepolt ist."

Angenehm empfundene Gegenwartsausdehnung

Weil Muße etwas Gegenwärtiges sei, sei es hilfreich, dem Körper und dem Bewusstsein mit Achtsamkeit zu begegnen, um zur Muße zu kommen. Zur Muße gehöre die "innere Bereitschaft und die innere Bewusstseinsfähigkeit", in der Gegenwart zu verweilen, um schließlich dann Ruhe zu finden, wenn die Welt Ruhe anbiete. Und zur Muße gehöre es, den Körper zu spüren:
"Ich halte mich mit meinem Bewusstsein mal intentional in der Gegenwart auf und lerne mal, mit all dem, was dann plötzlich hochkommt – zum Beispiel an Unruhe auch – damit umzugehen, damit ich erstmal so einen inneren Anker habe."
Es ist die "Gegenwartsausdehnung", die wir dann als so angenehm empfinden, meint Schmidt. Bisweilen lasse sich diese Erfahrung auch bei der Arbeit, etwa am Schreibtisch, machen:
"Wenn ich mal einen ruhigen Zeitrahmen habe, dass ich konzentriert an einem Text zum Beispiel arbeiten und schreiben kann und mir das gelingt und dieses Gelingende und Erfüllende auch passiert, dann komme ich so ein bisschen rein in ein Gegenwartsbewusstsein, wo auch die Zeit in den Hintergrund tritt, ich total zufrieden bin mit dem, was ich tue, und gleichzeitig – auf einer anderen Perspektive – bin ich trotzdem noch produktiv. Also in einem produktiven, funktionalen Rahmen, geht dann inhaltlich diese Freiheit der Muße auf." (huc)

Hören Sie hier die ganze "Echtzeit"-Sendung vom 4. November 2017:
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