Psychisch Kranke in Indien

Stigmatisiert und ausgeschlossen

Die "Mission Ashra" ist das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im indischen Odisha. Sieben von ihnen stehen hinter einem Gitter und gucken raus.
Die "Mission Ashra" ist das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im indischen Odisha. © Thomas Kruchem
Von Thomas Kruchem · 26.03.2018
Sie werden verstoßen und menschenunwürdig behandelt. Psychisch Kranke haben auch in Indien keine Lobby und benötigen deutlich mehr Zuwendung. Ein globales Problem, bei dessen Einordnung ein Blick in die deutsche Psychiatriegeschichte hilft.
Jarnadapur, ein Dorf östlich der Großstadt Cuttack im indischen Bundesstaat Odisha. Auf der Hauptstraße herrscht fast städtischer Betrieb; und keineswegs alle Bewohner des Dorfs sind bitterarm. Die Familie des Lehrers Pravat Barik zum Beispiel lebt in einem schmucken Steinhaus.
Neben der Eingangstür stehen zwei Mopeds; Pravats Frau Sukodei kocht auf einem modernen Gasherd. Auf dem Betonboden der Terrasse sitzt eine magere Frau um die 40 in lachsrot-lila geblümtem Kleid und gelber Jacke. Sie spricht ununterbrochen vor sich hin. "Meine Schwägerin Senadei", erklärt Sukodei Barik.
Eine magere Frau um die 40 in lachsrot-lila geblümtem Kleid und gelber Jacke sitzt auf dem Betonboden einer Terrasse.
Diese Frau sitzt seit 20 Jahren auf der Terasse und spricht vor sich hin.© Thomas Kruchem/Deutschlandradio
"Seit sieben Jahren sitzt Senadei auf der Terrasse, schreit, schlägt um sich und läuft nachts ruhelos umher. Anfangs brachten wir sie ein paarmal zum Gunia, zum traditionellen Heiler. Dessen Rituale aber halfen nicht. Vor fünf Jahren fuhr mein Mann mit Senadei nach Cuttack ins psychiatrische Krankenhaus.
Sie habe eine Psychose, sagte der Arzt und verschrieb ihr Medikamente. Die Tabletten aber nahm Senadei nicht; sie spuckte sie dauernd aus. Und wir hatten irgendwann keine Lust mehr, ihr mit den Tabletten hinterherzurennen. Jetzt sitzt sie halt da; und ich muss sie füttern und waschen – wie ein kleines Kind".

Die Botenstoffe spielen verrückt

Psychische Erkrankungen: Denken und Fühlen verändern sich. Betroffene nehmen die Realität verzerrt wahr – bis hin zu Wahnvorstellungen. Zu den häufigsten dieser Erkrankungen zählen, neben Schizophrenie, Depressionen und bipolare Störungen, die sich in extremen Stimmungsschwankungen äußern.
Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Viele Experten vermuten, dass bei Schizophrenie und wiederkehrenden Depressionen Botenstoffe im zentralen Nervensystem verrücktspielen. Auch traumatisierende Erlebnisse können seelische Krankheiten auslösen.
Mindestens 150 Millionen Menschen weltweit leiden, wie Senadei Barik, an psychischen Erkrankungen, die fachkundiger Behandlung bedürfen. Die meisten dieser Kranken leben in Entwicklungsländern – oft versteckt von überforderten Familien in dunklen Hütten, bisweilen angekettet, ohne Zugang zu ärztlicher Hilfe, ihrer Würde beraubt.

Aufklärung über Stigmatisierung

Promad Ogah, ein psychotherapeutisch ausgebildeter Sozialarbeiter der lokalen Hilfsorganisation USS, besucht regelmäßig Dörfer wie Jarnadapur; er klärt die Dorfbewohner auf über psychische Erkrankungen; er organisiert Betroffenen einen Termin im psychiatrischen Krankenhaus von Cuttack.
"Als wir vor drei Jahren unser Aufklärungsprogramm hier begannen, fanden wir mehrere psychisch Kranke versteckt in dunklen Kammern oder festgebunden mit Ketten und Stricken. In anderen Dörfern verstecken Familien ihre psychisch Kranken bis heute. Weil sie die Kranken nur so kontrollieren können, weil sie sich schämen oder auch, weil sie handfeste Interessen verfolgen: Ist zum Beispiel in einer Familie einer von drei Brüdern psychisch krank, wollen manchmal seine Brüder gar nicht, dass es ihm besser geht. Denn nur solange er krank ist, können sie über sein Landeigentum verfügen."
Viele Dorfbewohner mieden den Kontakt mit psychisch Kranken, berichtet Promad Ogah. "Stigmatisierung" nennen das die Experten: Menschen würden ausgegrenzt, weil die Gemeinschaft sie wegen bestimmter Eigenschaften als fremd, unangenehm oder gar bedrohlich erlebe, erklärt Volker Roelcke, Professor für Medizingeschichte an der Universität Gießen. Ursache des Stigmas könne eine Lepraerkrankung sein, Homosexualität, eine politisch radikale Position oder eben eine psychische Erkrankung.
"Die Stigmatisierung hat sicher sehr viel zu tun mit Vorstellungen, was wir selbst sind, wie wir sein sollten auch; das hat sehr viel mit sozialen Normen zu tun. Und Menschen, die sich anders verhalten, ganz offensichtlich, und das nicht zu verstecken versuchen, die sind eine Herausforderung für unser Selbstverständnis von uns, von unserer Gruppe. Die werden sozusagen abgewertet; man grenzt sich massiv von denen ab; und man geht zum Teil sehr aggressiv gegenüber solchen Menschen vor."

Hexer, Hexen und Dämonen

Ein Phänomen, das es – wie in Asien oder Afrika – auch in Europa gab und gibt, erklärt Roelcke. Bis in die frühe Neuzeit wurden in Europa tausende Menschen als vom Teufel besessene Hexen oder Hexer verbrannt, weil sie sich auffällig verhielten.
Der Priester und Heiler Manhanta Kailaaz trägt nichts als einen orangefarbenen Sarong und gelb-rote Zeichen seiner Würde auf dem glattrasierten Schädel. Er behandelt sehr unterschiedliche Patienten auch psychisch Kranke.
Der Priester und Heiler Mahanta Kailaaz behandelt psychisch Kranke© Thomas Kruchem/Deutschlandradio
"Das konnten zum Beispiel allein lebende Frauen sein, die ein relativ unabhängiges und manchmal eben auch sexuell unabhängiges Leben geführt haben, oder Menschen, die in anderer Weise gegen Konventionen verstoßen haben; die mussten überhaupt nicht psychisch krank sein; es konnte aber sein, dass sie auch damals als verrückt etikettiert worden sind. Und dann wurde man eben zur Hexe gemacht und konnte dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden."
So wie viele Deutsche bis ins 19. Jahrhundert hinein können viele Dorfbewohner Indiens bis heute mit dem Begriff "psychische Krankheit" nichts anfangen. Für sie verursachen Dämonen und schlechtes Karma geistige Verwirrung.

Der Dämonenaustreiber

Am weiß getünchten Hindu-Tempel im östlich von Cuttack gelegenen Dorf Amiyajhari prangen in Blau- und Rottönen gemalte Szenen aus der indischen Mythologie. Drinnen, in einer mit Kerzen beleuchteten Nische mit blumengeschmückten Götterstatuen, beginnt die Puja, das im Hinduismus täglich praktizierte Gebetsritual.
Mahanta Kailaaz, der massig wirkende Priester, trägt nichts als einen orangefarbenen Sarong und gelb-rote Zeichen seiner Würde auf dem glattrasierten Schädel. Heilige Sprüche murmelnd, bringt er den Göttern Wasser und Blüten dar, glimmende Räucherstäbchen und eine Opferspeise aus gekochtem Reis und Gemüse. Der Priester ist auch als Gunia, als traditioneller Heiler, ausgebildet. Zu ihm kommen Menschen mit Kopfschmerzen und Unterleibsbeschwerden, mit Krebs – und psychischen Störungen.
Aus einer Plastiktüte kramt der Heiler getrocknete und offenbar verschimmelte Brocken von Kürbispflanzen, Zweige verschiedener Sträucher und eine Wurzel der Heilpflanze Achyranthes Aspera aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse. Die Pflanzenteile, erklärt Kailaaz, werden gemahlen und, in Wasser aufgelöst, Patienten eingeflößt.
"Schon mehr als 150 Menschen haben sich mit meiner Hilfe von Dämonen befreit. Die übrigen haben meine Anweisungen leider nicht befolgt. Besessene dürfen zum Beispiel kein Marihuana konsumieren und keinen Alkohol. Sie dürfen kein scharfgewürztes Gemüse essen und keinen ungekochten Reis. Und sie müssen zweimal am Tag baden. Sonst wirkt meine Medizin nicht."

Psychopharmaka wirken oft nicht besser

Psychiater in Indien sehen in ihren traditionell arbeitenden Konkurrenten regelmäßig Scharlatane oder gar Verbrecher. Tatsächlich berichten indische Medien immer wieder über psychisch Kranke, die von Heilern gezwungen wurden, Urin zu trinken und Kot zu essen; Heiler hätten Kranke totgeschlagen oder in ihren Häusern verbrannt. Der deutsche Psychiatriehistoriker Volker Roelcke bestreitet die Existenz solcher Praktiken nicht. Aber sie seien keineswegs die Regel.
"Es gibt Untersuchungen, die sich ganz genau mit Feldforschung und teilnehmender Beobachtung anschauen, was in solchen Heilkulten zum Beispiel an Tempeln oder so geschieht. Und man sieht durchaus, dass da die Zustände der Betroffenen besser werden, nicht alle, aber doch ein erheblicher Teil. Und dass es da zu Remissionen, würde man als Mediziner sagen, kommt; also die Symptome verschwinden."
Vielleicht nur vorübergehend, sagt Roelcke; aber Psychopharmaka wirkten oft auch nicht besser. Und er erinnert an Exorzismen, Teufelsaustreibungen, die bis heute auch in Westeuropa stattfinden – im Namen der katholischen Kirche.

Die Zustände im psychiatrischen Krankenhaus Cuttack

Sozialarbeiter Promad Ogah und seine Kollegen haben einigen hundert psychisch Kranken eine Reise in die Großstadt Cuttack ermöglicht. Auf dem weitläufigen Gelände des staatlichen Medical College stehen die Flachbauten des Instituts für psychische Gesundheit – eines der wenigen Krankenhäuser in Odisha, die psychische Erkrankungen behandeln.
Die geschlossene Frauenstation des psychiatrischen Krankenhauses in Cutlack im Osten Indiens: Mehrere Patientinnen liegen dicht an dicht. Schmutzige, geflieste Wände. 
Die geschlossene Frauenstation des psychiatrischen Krankenhauses in Cuttack im Osten Indiens© Thomas Kruchem/Deutschlandradio
In den weiß gekachelten Zwölf-Bett-Zimmern der Frauenstation sitzen oder liegen Patientinnen auf Betttüchern oder blanken Matratzen; fast neben jedem Bett wachen ein oder zwei Angehörige. Eine junge Frau mit feingeschnittenem Gesicht starrt gegen die Wand – argwöhnisch beobachtet von ihrer Mutter, die einen teuren Sari und viel Goldschmuck trägt. Manasi Panda, die für die Station verantwortliche Sozialarbeiterin, schüttelt den Kopf.
"Diese Patientin leidet seit zwei Jahren an Schizophrenie,", sagt sie, "ihr Bruder seit fünf oder sechs Jahren. Von diesem Bruder wurde sie übrigens mehrmals vergewaltigt. Die Eltern des Mädchens haben jetzt Angst, dass die Leute von der Krankheit der Tochter erfahren und niemand sie heiratet. Ihnen liegt die Verheiratung ihrer Tochter offenbar mehr am Herzen als deren Gesundheit."
An einer Gittertür, neben einem Wachmann, steht ein junger Mann in Fußketten. Ein weiterer Wachmann öffnet, mit einem langen Holzknüppel in der Hand, die Tür zu einem dunklen Trakt fast ohne Fenster:
Die geschlossene Frauenstation. Abbröckelnde Kacheln, schmutzige Fußböden; auch die Gänge vollgestellt mit Betten. Frauen schreien, weinen, wimmern, sprechen ins Nichts. Es riecht beißend nach Schweiß, Urin und Fäkalien.

Schädliche Behandlung

Das Institut für psychische Gesundheit in Cuttack verfüge über 120 Betten, berichtet Sozialarbeiterin Manasi Panda. Die Stationen seien zu 170 Prozent belegt; behandelt werde fast ausschließlich mit Medikamenten, die die Patienten meist selbst bezahlen.
Eine solche, vorwiegend auf Psychopharmaka setzende Behandlung halten viele Experten für schädlich; sie fordern mehr Psychotherapie, für die im Krankenhaus von Cuttack allerdings wenig Zeit ist. Ein weiteres Problem: Gegen Schizophrenie verschreiben indische Ärzte meist nicht die neuesten, nebenwirkungsarmen, aber teuren Medikamente, sondern günstigere Neuroleptika einer älteren Generation. Die haben schwere Nebenwirkungen – besonders, wenn man sie unregelmäßig nimmt.

Auch in Hessen waren die Fenster vergittert

Ein vergleichender Blick in die deutsche Provinz: Das Philippshospital für psychisch Kranke im hessischen Riedstadt ist bis heute ein eigenes Dorf, mehrere hundert Meter entfernt von der nächsten Siedlung. Ein über 500 Jahre altes Hospital, in dem Krankenpfleger Peter Gomes ein kleines Psychiatriemuseum leitet – und das Archiv mit über zehntausend Krankenakten aus mehreren Jahrhunderten. Im Park zwischen 130 Jahre alten Gebäuden deutet Gomes auf eine efeuüberwucherte, fast drei Meter hohe Sandsteinmauer.
"Hier sieht man die Mauer und obendrüber noch einen Eisenzaun, verstärkt, damit die Patienten nicht weggelaufen sind letztendlich."
Gomes deutet auf zentimeterstarke Löcher in den Fensterleibungen wuchtiger mehrstöckiger Gebäude.
"Alle Fenster waren vergittert. Damals war Psychiatrie nämlich so. Und die Schlafsäle…"
Schlafsäle mit Dutzenden unruhiger Patienten, die dem Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff fast den letzten Nerv raubten. Am 23. Mai 1967 ließ sich Wallraff als Alkoholiker ins Philippshospital einweisen, sagt seine Krankenakte. Am 1. Juni wurde er als gebessert, aber nicht arbeitsfähig entlassen.
"Er hat mit 30 Leuten in einem Raum geschlafen, was auch für ihn sehr anstrengend war, weil es Tag und Nacht sehr unruhig war, was man ja auch nachvollziehen kann. Und er hat‘s nur eine Woche geschafft. Und wenn man überlegt: Patienten, die haben ihr Leben lang hier verbracht, 30, 40 Jahre; sind auch hier gestorben letztendlich."

Arbeit statt Therapie

Noch in den 1960er Jahren ähnelte der Alltag der 2.000 Patienten im Philippshospital dem von Gefängnisinsassen. Und die Patienten wurden zur Arbeit angehalten – im Viehbetrieb mit 600 Schweinen, an Webstuhl und Spinnrad, in der Schuhmacherei. Wirkliche Therapie habe kaum stattgefunden, berichtet Klinikdirektor Harald Scherk.
"Viel mehr außer Medikamenten konnte man gar nicht tun. Wir hatten noch nicht, wie heutzutage, Sozialarbeiter, die vieles organisiert haben, wie es außerhalb des Krankenhauses weitergehen könnte. Es gab kaum Psychologen oder Psychotherapeuten. Es gab auch in den sechziger Jahren nur zehn Ärzte für 2000 Patienten. Und das hat natürlich eine individuelle Behandlung sehr schwierig gemacht. Das kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen."

Desinteresse reicher Länder an psychischen Krankheiten

Vikram Patel ist ein aus Mumbai stammender Psychiater, der seit Jahrzehnten für die Rechte psychisch Kranker in armen Gesellschaften kämpft. Er lehrt an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts; das Time Magazine zählt ihn zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Erde.
Psychische Erkrankungen seien weltweit für 15 Prozent der Kosten und Lasten verantwortlich, die Erkrankungen insgesamt verursachen, erklärt Patel. Industrieländer gäben jedoch nur fünf Prozent ihres Gesundheitsbudgets für die Behandlung psychischer Krankheiten aus, Entwicklungsländer sogar weniger als ein Prozent. Die Folgen sind dramatisch: In Indien, China und Afrika bleiben mehr als 90 Prozent der akut behandlungsbedürftigen psychisch Kranken unbehandelt.
"Es gibt keine andere Gruppe gesundheitlicher Probleme, die so stark marginalisiert und diskriminiert wird wie psychische Probleme – nicht einmal HIV/Aids", so Pantel. "Und das beeinflusst natürlich die Lebensqualität der Kranken. Die Lebenserwartung psychisch Kranker ist weit geringer als die anderer Menschen."
Warum werden psychisch Kranke derart diskriminiert? Vor allem in Südasien und Afrika herrsche bis heute eine tief sitzende Angst vor psychischen Erkrankungen, meint Patel. Die Kranken hätten keine Lobby; und auch unter Ärzten dominiere die Meinung, jede Behandlung psychisch Kranker sei kompliziert, langwierig, teuer und selten erfolgreich. Vorurteile, die auch Entscheidungen bedeutender Geldgeber der Weltgesundheitsorganisation beeinflussen.
"Mir macht nicht fehlendes Interesse der WHO selbst an psychischen Erkrankungen Sorgen, sondern das völlige Desinteresse der reichen Länder und Stiftungen, die die WHO finanzieren. Warum ignorieren sie psychische Erkrankungen einfach?"

Psychisch kranke Frauen haben es noch schwerer

Im ländlichen Indien allerdings stehen die Familien zu ihren psychisch kranken Angehörigen – zumindest, solange es sich um Männer handelt. Nur ein Viertel der Patienten in der Psychiatrie von Cuttack sind Frauen.
Lang gestreckte rot gestrichene Gebäude mit Vordach und Hof - Mission Ashra für psychisch kranke Fraun im indischen Staat Odisha
Die Mission Ashra ist das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im indischen Staat Odisha unterstützt von ihren Familien verstoßenen psychisch kranken Frauen, ihre Würde zurückzugewinnen.© Thomas Kruchem/Deutschlandradio
Psychisch kranke Männer würden in Indien, wenn irgend möglich, verheiratet, um ihre Versorgung sicherzustellen, erklärt die Psychotherapeutin Itimayee Panda. Psychisch kranke Frauen dagegen würden sehr oft versteckt; sie würden brutal geschlagen, wenn sie nicht "normal" funktionierten, und im Extremfall fortgejagt.
Itimayee Panda leitet Mission Ashra – das einzige Heim für psychisch kranke Frauen im Staat Odisha, nahe der Hauptstadt Bhubaneswar. Das Heim wird von der Hilfsorganisation People’s Forum betrieben.

Den Frauen ihre Würde zurückgeben

Langgestreckte, rot gestrichene Gebäude mit Schlafsälen für 240 Frauen. Einige liegen auf Schlafmatten oder dem Betonboden der Säle; andere sitzen im Schatten der mit Stroh überdachten Terrasse oder laufen ruhelos hin und her, sprechen mit sich selbst, murmeln, singen. Eine Atmosphäre der Zuflucht vor dem Bösen draußen, aber auch beklemmender Einsamkeit – gemildert nur durch zwei junge Frauen, die einander liebevoll im Arm halten und lächeln.
Itimayee Panda: "All diese Frauen haben keine Familie mehr. Man hat sie auf der Straße aufgelesen und im Polizei- oder Krankenwagen zu uns gebracht. Auch Frauen, die Angehörige in der Psychiatrie von Cuttack quasi entsorgen, landen schließlich bei uns."
Nur in etwa jede vierte Frau ist ansprechbar. Auch deshalb schaffen es Mitarbeiterinnen der Mission Ashra oft nicht, die Ursprungsfamilie ausfindig zu machen. Einmal wöchentlich komme ein Psychiater, der Medikamente verschreibe, berichtet Itimayee Panda. Zwei junge Psychologinnen führten, soweit möglich, Gespräche. Es gebe Veranstaltungen, bei denen im Heim lebende Frauen tanzten und Geschichten erzählten. Mission Ashra tue alles, um den von ihren Familien verstoßenen Frauen ihre Würde zurückzugeben.
Die Organisation People‘s Forum finanziert den Betrieb des Heims größtenteils aus Spenden. Der indische Staat zahle aus seinem kargen Gesundheitsbudget hundert Rupien, einen Euro 25, pro Patientin und Tag, berichtet die Leiterin.

Todbringende Diskriminierung

Deutsche Regierungen mussten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch mit kargen Gesundheitsbudgets auskommen. Sie zeigten damals nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber psychisch Kranken - sie zeigten Schlimmeres. Schon im Ersten Weltkrieg starben zehntausende deutsche Psychiatriepatienten, weil das ihnen zugeteilte Budget für Essen, Heizung und Bekleidung viel geringer war als das für andere Kranke. In den Krisenzeiten der zwanziger Jahre wurde dann todbringende Diskriminierung psychisch Kranker allmählich auf eine ideologische Grundlage gestellt, berichtet Psychiatriehistoriker Professor Roelcke.
"Man sieht, dass bei den Anstaltsdirektoren, den Direktoren psychiatrischer Anstalten, eine Diskussion geführt worden ist, dass die Pflegesätze reduziert werden sollten und dass man für unproduktive Menschen in den Anstalten eine differenzierte Ressourcenzuteilung vornehmen soll. Also hier wird ganz klar über den Lebenswert gesprochen schon lange vor dem Nationalsozialismus; und das wird unter ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert. Und man ist eben auch bereit, Menschen sterben zu lassen, nicht aktiv zu töten, aber durch Unterernährung, Mangelversorgung das Sterberisiko massiv zu erhöhen."

Alexis Carrel und "lebensunwertes Leben"

In den 30er Jahren entwickelte sich unter hochkarätigen Intellektuellen Europas und der USA eine Bewegung, die die Euthanasie beim so genannten lebensunwerten Leben befürwortete. Zu den bekanntesten Euthanasiebefürwortern zählt Alexis Carrel, Träger des Nobelpreises für Medizin 1912. 1935 erschien Carrels bis in die 70er Jahre weltweit verkaufter Bestseller "Der Mensch – das unbekannte Wesen".
Volker Roelcke: "In diesem Buch hat er ganz klar gesagt: Mediziner können den Lebenswert oder Lebensunwert von Menschen beurteilen; und in einer sozusagen rational durchorganisierten Gesellschaft sollten Mediziner darüber entscheiden, wer zum Beispiel am Lebensende nicht mehr lebenswert ist oder eben, weil er eine psychische Ruine ist oder sonst was. Diese Menschen sollten schmerzfrei getötet werden."
Übreinandergestapelte Kartons mit Notakten über Euthanasieopfer aus der NS-Zeit
Notakten von Euthanasie-Opfern der Tötungsanstalt Hadamar© Thomas Kruchem/Deutschlandradio
Die Nationalsozialisten setzten Carrels Ideen radikal und systematisch um: Im Rahmen der berüchtigten Aktion T4 wurden von Ende 1939 bis August 1941 dauerhaft arbeitsunfähigen Patienten psychiatrischer Krankenhäuser ermordet – insgesamt 70.000 Menschen, 20 Prozent der Anstaltsinsassen. Das Philippshospital in Riedstadt überstellte 600 Patienten an die Tötungsklinik im nahe gelegenen Hadamar. Es folgte bis Kriegsende die so genannte wilde Euthanasie, der weitere 200.000 Menschen zum Opfer fielen.
Professor Roelcke, der selbst ausgebildeter Psychiater ist, sieht die Rolle seines Berufsstandes dabei überaus kritisch:
"Psychiater haben die Initiative für solche Dinge ergriffen. Sie haben natürlich mit dem Staat aufs engste zusammengearbeitet. Kein Psychiater, der an den Tötungsaktionen beteiligt war, ist dazu gezwungen worden. Und es waren auch nicht einige wenige perverse Nazis, die das gemacht haben; sondern unter den etwa 40 Gutachtern, die über Leben und Tod entschieden haben, war etwa ein Dutzend Psychiatrieprofessoren."

Ein langer Weg hin zur menschenwürdigen Psychiatrie

Eine nach heutigen Maßstäben menschenwürdige Psychiatrie entwickelte sich in Deutschland erst lange nach dem Krieg. Ab Mitte der 50er Jahre stellten erste Medikamente die Behandlung psychischer Erkrankungen auf eine neue Grundlage. Viele Patienten konnten nach kurzem Klinikaufenthalt wieder arbeiten, litten allerdings oft an den Nebenwirkungen der Psychopharmaka.
Einen sozialpsychiatrischen Aufbruch markierten dann in der DDR die so genannten Rodewischer Thesen von 1963. Die DDR wollte weg von der bloßen Verwahrpsychiatrie hin zur therapeutisch orientierten Psychiatrie – was in der Folge allerdings an Geldmangel scheiterte.
In Westdeutschland lenkte die 68er Bewegung den Blick auf – nach wie vor – menschenunwürdige Verhältnisse in psychiatrischen Krankenhäusern; und 1975 legte eine vom Bundestag beauftragte Kommission einen schonungslosen Bericht vor, der, so Professor Roelcke "dazu geführt hat, dass diese zum Teil riesengroßen psychiatrischen Anstalten mit mehreren tausend Patienten, die separat außerhalb großer Ortschaften lagen, dass die nach und nach verkleinert worden sind; dass eine so genannte gemeindenahe Psychiatrie aufgebaut worden ist; dass psychiatrische Abteilungen in kommunalen Krankenhäusern eingerichtet worden sind."
Auch im Philippshospital in Riedstadt änderte sich viel: Schlafsäle wurden in Zwei- und Dreibettzimmer umgewandelt; Psychologen und Psychotherapeuten eingestellt, Räume für Ergotherapie, Musikzimmer und eine Turnhalle eingerichtet. Die Zahl der erwachsenen Patienten sank von zeitweise 2.000 auf heute 200. Und natürlich wurden die Gitter an den Fenstern abmontiert und die Mauer geöffnet, berichtet Klinikdirektor Harald Scherk:
"Das Gelände wurde geöffnet und wird jetzt auch als Park mitbenutzt. Die Psychiatrie versucht halt, sozusagen in die Gemeinde herein zu wachsen. Und Sie sehen ja: Das war früher praktisch ein eigener Stadtteil; und jetzt von beiden Seiten wachsen die anderen Anteile von Riedstadt langsam auf das Hospital zu; und vielleicht in 20 Jahren ist es Teil der normalen Dörfer hier."

USS setzt auf Barfuß-Psychiatrie

Vor internationalen Gremien und Regierungen fordert derweil Harvard-Professor Vikram Patel mehr Aufklärung und mehr Geld für psychische Erkrankungen. Patel hat auch eine Art Barfuß-Psychiatrie entwickelt. Kommunale Gesundheitsarbeiter sollen Betroffene und interessierte Familien in armen Gesellschaften mobilisieren und Kranke behandeln.
Die kleine Hilfsorganisation USS setzt solche Konzepte in fast hundert nordostindischen Dörfern um – unterstützt von einem der wenigen Hilfswerke, die sich überhaupt für psychisch Kranke engagieren, dem katholischen Misereor aus Deutschland.

Lokale Selbsthilfegruppen machen den Unterschied

Auf dem Platz vor dem Tempel von Kundi haben sich 30 Angehörige und Freunde von psychisch Kranken versammelt. Unter ihnen ein Gesundheitsarbeiter und die fünfzigjährige Bhasini Behera, die seit 18 Jahren ihren an chronischer Schizophrenie leidenden Mann betreut.
"In unserer Versammlungen erfahren Familien, wie man erkennt, dass ein Mensch psychisch krank ist, was die Symptome sind. Wir sagen den Angehörigen auch, wie sie für ihre Kranken eine Invalidenrente von 500 Rupien plus zehn Kilo Reis monatlich beantragen können. Besonders wichtig aber ist, dass wir alle richtig umgehen mit den Kranken. Psychisch Kranke wissen nicht, ob das, was sie tun, gut oder böse ist. Wir sollten deshalb nicht aggressiv auf sie reagieren, nicht zornig oder mit Vorwürfen, sondern verständnisvoll."
Das Engagement lokaler Selbsthilfegruppen sei kein Allheilmittel, sagt Professor Vikram Patel. Aber es markiere den entscheidenden Unterschied zwischen menschenunwürdigem Dasein und menschenwürdigem Leben psychisch Kranker.
"Solche Initiativen haben die Gesundungsraten bei psychisch Kranken drastisch verbessert. Diese Raten sind mancherorts durchaus vergleichbar mit denen in Industrieländern, wo ausschließlich Fachkräfte psychisch Kranke behandeln. Und die Betreuung psychisch Kranker durch kommunale Gesundheitsarbeiter ist weit preisgünstiger als die Betreuung durch Fachkräfte. Das sollte auch den Industrieländern zu denken geben, wo sich die Behandlung oft noch zu stark auf das rein Medizinische konzentriert – auf Diagnose und Medikamente. Der Ansatz, den wir in Entwicklungsländern entwickeln, betont die aktive Rolle der Patienten: Sie werden so behandelt, wie sie es als akzeptabel empfinden – zuhause in ihrem Dorf."
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