Psychiater über Internet und seelische Gesundheit

Wie die Sucht nach Zucker

Ein junger Mann sitzt am 03.03.2017 in Frankfurt am Main (Hessen) in einer S-Bahn und benutzt dabei sein Smartphone.
Jeder für sich - und alle mit Smartphone: Surfen zählt mittlerweile zur Lieblingsbeschäftigung in der U-Bahn. © dpa / picture-alliance / Hauke-Christian Dittrich
Jan Kalbitzer im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 25.04.2018
Macht die exzessive Nutzung von Internet und Smartphone uns langfristig süchtig und krank? Komplette Abstinenz hält der Psychiater Jan Kalbitzer für unsinnig. Viel wichtiger sei es, schon früh Impulskontrolle zu üben, um zu einem gesunden Umgang mit digitalen Medien zu finden.
Kinder, die am Frühstückstisch schon mit ihren Smartphones herumdaddeln, Leute, die in der U-Bahn oder im Café nichts mehr von ihrer Umgebung wahrnehmen, weil sie vollkommen von ihrem Tablet absorbiert sind: Viele ihrer Mitmenschen nervt und erschreckt das. Sind wir eine süchtige Generation - macht uns das Internet krank und irgendwie "gestört"?
Für Jan Kalbitzer, Psychiater an der Berliner Charité, stellt sich die Frage genau anders herum: Internet und Smartphone gehören inzwischen nun mal zu unserem Leben - die Uhr zurückdrehen zu wollen, wäre sinnlos. Deshalb: Wie ist ein gesunder Umgang damit möglich? Diesem Thema widmet sich in Berlin ein Kolloquium der Daimler-Benz-Stiftung: "Internet und seelische Gesundheit – Forschung jenseits von Technikangst und Bedenkenlosigkeit". Kalbitzer hält dort einen Vortrag.
Der Psychiater Jan Kalbitzer 
Der Psychiater Jan Kalbitzer.© Deutschlandradio / Matthias Dreier

Schlimmer ist die Angst vor neuer Technik

Viel besorgniserregender als eine mögliche Internetsucht finde er "die Angst, die wir davor haben, mit dem Neuen umzugehen. Wir werden als Menschen ganz grundsätzlich verändert werden durch das Internet und das Smartphone. Aber es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und sich Angst machen zu lassen."
Entscheidend sei, dass "wir lernen, mit unseren Impulsen umzugehen". In einer reizüberfluteten Welt sei es wichtig "die Contenance zu bewahren". Das könne man auch Kindern schon beibringen: Das man nicht immer sofort auf alles reagieren müsse
Kalbitzer, der 2016 das Buch "Digitale Paranoia" veröffentlicht hat, plädiert beispielsweise dafür, Kinder schon früh beim Umgang mit dem Internet zu begleiten – von Verboten à la "ab 16 darfst du vier Stunden ins Internet" hält der Psychiater nichts. "Eltern müssen sich früh sehr viel Zeit nehmen, um ihre Kinder dazu zu erziehen. Und dazu kann ich nur raten. Wenn Eltern mit ihren Jugendlichen gemeinsam die AGBs von Facebook oder Instagram lesen, dann lernen oft beide was."

Komplette Abstinenz hilft nicht

Kalbitzer findet es ebenfalls nicht sinnvoll, eine bestehende oder vermeintliche Internetsucht mit kompletter Abstinenz zu kurieren. Man müsse vielmehr trainieren "damit umzugehen, dass es da ist. Ich würde es eher wie Zucker betrachten: Es ist immer anwesend, man kann es essen, man isst es auch gerne, aber man muss versuchen, ein gutes Verhältnis dazu zu finden."
Es sei eine gesellschaftliche Herausforderung, eine gemeinsame Kultur für den gesunden Umgang mit den digitalen Medien zu finden. Kalbitzer sagte weiter: Er finde es beispielsweise ganz und gar nicht verwerflich, wenn sich Leute in der U-Bahn oder an der Bushaltestelle mit ihrem Smartphone beschäftigten. Das sei eine Art, sich aus Lärm und Menschenmassen um sich herum zurückzuziehen wie in einen Schutzraum.
"Die Leute regen sich auf über die Smartphones, mit denen Kinder und Jugendliche dort spielen. Aber niemand regt sich mehr auf über die vier Reihen von Autos, die da lang fahren und ihre Abgase in die Luft blasen."
(mkn)

Jan Kalbitzer: Digitale Paranoia: Online bleiben, ohne den Verstand zu verlieren
C.H.Beck, 2016, 208 Seiten, 16,95 Euro

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