Protestlesung des Börsenvereins gegen Erdogan

„Die Toten wissen nicht, dass sie gestorben sind“

28.09.2018, Berlin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) und seine seine Frau Elke Büdenbender (l) begrüßen Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, und seine Frau Emine Erdogan vor Schloss Bellevue.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine seine Frau Elke Büdenbender begrüßen Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, und seine Frau Emine vor Schloss Bellevue. © picture alliance/Ralf Hirschberger/dpa
Von Ludger Fittkau · 28.09.2018
Dem Empfang des türkischen Staatspräsidenten Erdogan in Berlin hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels „ein Zeichen für Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte“ entgegengesetzt - mit einer Lesung von Texten inhaftierter Autoren.
"Wenn an Sommermorgen die ersten Sonnenstrahlen sich durch die nackten Eisengitter zwängen und wie glänzende Speere auf mein Kissen fallen, höre ich das muntere Gezwitscher der Zugvögel, die sich unter dem Vordach des Innenhofes ihr Nest gebaut haben. Untermalt von dem eigenartig knirschenden Geräusch, das entsteht, wenn Gefangene in den Nachbarhöfen auf leere Plastikflaschen treten."
Diese Zeilen des in der Türkei inhaftierten Schriftstellers Ahmet Altan leiten eine Art Traumreise ein, die weit über die Gefängniszelle hinausgeht. Bis nach Paris oder Wien. Hauke Hückstädt, der Leiter des Frankfurter Literaturhauses liest aus dem Buch "Ich werde die Welt nicht wiedersehen". Immer wieder holt den träumenden Dichter die unerbittliche Realität des politischen Gefangenen in der Türkei ein:

"Jeder ist jemand"

"Wer gegen Menschenrechte verstößt, ist ein politischer Verbrecher. Die Würde des Menschen ist unantastbar und wer an der Macht ist und glaubt, sie sei antastbar und sie antastet, ist ein politischer Verbrecher. Der Theaterschriftsteller George Tabori schreibt: Jeder ist jemand. Es gibt Autokraten und Diktatoren, die glauben, nicht jeder ist jemand. Niemand ist niemand. Das gilt auch für Präsident Erdogan, den man daran erinnern muss, dass der Verstoß gegen Menschenrechte ein politisches Verbrechen ist."
Michel Friedman liest anschließend aus dem Text "Lebenslang für die Freiheit" von Can Dündar. Zuvor drückte bereits Alexander Skipis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels sein Entsetzen darüber aus, dass der türkische Staatschef offenbar mit Drohungen den freiwilligen Verzicht Dündars auf die Pressekonferenz Erdogans mit der Bundeskanzlerin in Berlin erreichen konnte:
"Und im Zusammenhang mit dieser Pressekonferenz ist bekannt geworden, dass Präsident Erdogan Frau Merkel schon im Vorfeld des Besuches eine Liste übergeben hat. Eine Liste mit 69 sogenannter Terroristen, die aus Deutschland an die Türkei ausgeliefert werden sollten. Und unter diesen Journalisten ist auch Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur von Cumhuriyet, einer oppositionellen Zeitung in der Türkei, die es jetzt so nicht mehr gibt. Und als Herr Erdogan erfahren hat, dass der Journalist Dündar akkreditiert ist für die Pressekonferenz heute Mittag, hat er damit gedroht, diese Pressekonferenz platzen zu lassen, wenn er dabei ist."

Niederlage für die Pressefreiheit

Dass Can Dündar angesichts dieser Situation auf die Teilnahme an der Pressekonferenz verzichtete, wertet Alexander Skipis als Niederlage für die Pressefreiheit: "Ich finde das für ein Land wie die Bundesrepublik als beschämend, das so etwas geschehen konnte." Denn die Menschenrechte seien nicht verhandelbar und daran müsste sich auch die Bundesregierung halten, fordert Alexander Skipis.
Für den in der Türkei inhaftierten Autor Ahmet Altan geht es aktuell darum, ob er jemals wieder aus dem Gefängnis kommen kann. Es steht in Kürze ein Gerichtstermin an, dem er bangend entgegenblickt, berichtete der Journalist Pitt von Bebenburg von der "Frankfurter Rundschau", der mit Ahmet Altan Kontakt hält. Im Buch "Ich werde die Welt nie wiedersehen" beschreibt Altan auch die Szene, als er von der Polizei von zu Hause abgeholt wird und die Türen des Polizeiautos hinter ihm zufallen. Pitt von Bebenburg liest aus dem Text:
"Die Toten, so heißt es, wissen nicht, dass sie gestorben sind. In der islamischen Mythologie gibt es die Vorstellung, dass der bestattete Leichnam sich erheben und nach Hause zurückkehren möchte, sobald die Trauergemeinde sich von seinem Grab entfernt hat. Erst wenn er beim Versuch, aufzustehen, mit dem Kopf an den Grabdeckel stößt, begreift er, dass er gestorben ist. Als die Autotüren zugingen, stieß auch mein Kopf an den Sargdeckel. Ich konnte die Türen dieses Autos nicht öffnen und ich konnte nicht aussteigen. Ich konnte nicht nach Hause zurückkehren."

"Ohne große Worte gewähren meine Freunde mir Gastrecht"

Doch die Gefängnismauern sind zwar für den Körper eine Grenze, aber nicht für den Geist. Darüber hat Deniz Yücel immer wieder aus seiner einjährigen Haft berichtet, auch aus seinem Buch "Wir sind ja nicht zum Spaß hier" wird heute Abend gelesen. Auch Ahmet Altan beschreibt, wie er die Gefängnismauern immer wieder überwindet:
"Die mich hier eingesperrt haben, mögen die Macht dazu besitzen. Doch im Gefängnis festzuhalten, dazu reicht ihre Macht nicht. Auf den Flügeln meiner unendlichen Vorstellungskraft werde ich die ganze Welt bereisen. Außerdem habe ich überall auf der Welt Freunde, die mir beim Reisen helfen. Wobei ich die meisten von ihnen überhaupt nicht kenne. Jedes Auge, das meine Zeilen liest, jede Stimme, die meinen Namen nennt, nimmt mich wie eine kleine Wolke bei der Hand und fliegt mit mir über weite Ebenen, Wälder, Quellen, Meere, Städte und Straßen. Ohne große Worte gewähren meine Freunde mir Gastrecht in ihren Häusern, Sälen und Zimmern. Ich schreibe diese Zeilen in einer Gefängniszelle, aber ich bin nicht gefangen. Ich bin Schriftsteller."
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