Prosa um des Lebens Willen

09.07.2012
Seit 2002 veröffentlicht der in Paris lebende Paul Nizon in Abständen seine "Journale", die er selbst einen "Seitenflügel seines Werks" nennt. Seine Prosa ist geprägt von einem geradezu manisch wirkenden Selbstbezug. "Urkundenfälschung" bezieht sich auf die Jahre 2000 bis 2010.
Seine Bücher sind atemlos dem Augenblick auf den Fersen und seinen Glücksversprechen, zu denen Frauen gehören, vor allem aber die Möglichkeit der Selbsterfindung, der Geburt aus der Sprache. Der 1929 in Bern geborene Wahl-Pariser Paul Nizon ist der Ekstatiker unter den deutschsprachigen Schriftstellern und das schon seit mehr als 50 Jahren. Prosa schreibt er um des Lebens Willen. Sie entwirft das Leben erst, in ihr findet er sich erfindend.

Die in Frankreich begeisterter als in Deutschland aufgenommene Variante des Avantgarde-Projektes einer Verschmelzung von Leben und Kunst lässt, so sollte man meinen, keinen Raum für die "Journale", die Nizon seit 2002 auf Anregung ihres Herausgebers Wend Kässens publiziert. Zeigen sie doch, dass Nizon sich nicht nur tagein, tagaus mit dem Selbstentwurf durchs Schreiben beschäftigt, sondern auch mit gleich mehreren Ehefrauen, Kindern, Träumen, Reisen, Lesungen, Interviews, Kollegen.

Nizon aber schätzt die "Journale" als einen Seitenflügel des Werkes, einen "gigantischen Kommentar zum eher schmalen Gefilterten". Daher tragen die tagebuchähnlichen Bände Titel wie "Die Erstausgabe der Gefühle", die sie den Romanen "Canto", "Das Jahr der Liebe" oder "Das Fell der Forelle" zur Seite stellen, und daher klaffen in ihnen wochen- oder gar monatelange Lücken, was auf starke Bearbeitungen hinweist.

"Urkundenfälschung", der vierte Journalband, umfasst die Jahre 2000 bis 2010. Eine Chronologie zu Werk und Biographie hilft, die knappen Erwähnungen von Romantiteln, Namen, Orten sowie Nizons beruflichen Stationen als Museumsangestellter, Kunstkritiker, Schriftsteller einzuordnen. Anmerkungen sind unnötig. Denn Nizons liebster Gegenstand ist er selbst.

Ausführlichere Erwähnung finden immerhin einige bildende Künstler, mit denen der Schriftsteller befreundet ist, ebenso eine lebenslange Mäzenatin, die nach ihrem Tod gewürdigt wird. Nizon porträtiert auch eindrucksvoll seinen ebenfalls toten Freund Elias Canetti. Lebende Kollegen, allen voran der bei Paris lebende Peter Handke, erwähnt Nizon nur, um sich mit ihnen in den Kategorien Ästhetik und Erfolg zu vergleichen. Menschen aus Fleisch und Blut sind in diesem Buch selten. Selbst der Sohn und die bald geschiedene Ehefrau tauchen nur am Rande auf. Paul Nizon ist ein einsamer Mensch voller Depressionen und Zweifel am eigenen künstlerischen Rang, von denen er sich zeitweise durchs Schreiben befreien kann. Gierig verzeichnet er jedes Lob.

Einige Bücher erscheinen, an neue denkt Nizon fortwährend, auch aus Geldnot. Er schildert die Wohn- und Schreiborte, denkt über den Zusammenhang seiner Bücher, vor allem aber über den Anfang seines Lebens als Schriftsteller nach. Angedeutet wird das traurige Schicksal Marias, einer jungen römischen Prostituierten, in die Nizon verliebt zu sein glaubte und die seinem Willen zur ekstatischen Künstlerexistenz zum Opfer fiel. Nizon wagt den Gedanken, er habe Maria möglicherweise missbraucht für seine Karriere, und scheint diese Urszene dann eilig zu vergessen: Aus den Erlebnissen wird der Kern eines neuen Romans. Diese Selbsterfindung ist kaum von Selbstbetrug im Zeichen von Selbstverliebtheit zu unterscheiden. All das ist nicht selten kaum erträglich. Und zugleich tragisch.

Besprochen von Jörg Plath

Paul Nizon: Urkundenfälschung
Journal 2000-2010
Herausgegeben von Wend Kässens
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
375 Seiten, 24,95 Euro

Links bei dradio.de:
Paul Nizon: Urkundenfälschung. Journal 2000-2010
Paul Nizon: "Romane. Erzählungen. Journale"
Paul Nizon: "Die Zettel des Kuriers"
Paul Nizon: "Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973-1979"