Promenadologe Martin Schmitz

Von der Wissenschaft des Spazierengehens

Martin Schmitz ist Professor für Spaziergangswissenschaft
Spaziergangswissenschaft - was ist das eigentlich? © Deutschlandradio / Bodo Hartwig
Moderation: Matthias Hanselmann · 14.09.2017
Martin Schmitz hat einen unspektakulären Namen, aber er verlegt spektakuläre Bücher. Zudem hat er einen Lehrstuhl für ein Fach inne, von dem nur die wenigsten gehört haben: Er ist Professor für Spaziergangswissenschaft in Kassel.
Die Herausforderung des Sehens und der Sinn für außergewöhnliche Perspektiven führten Martin Schmitz in die Promenadologie, die Wissenschaft des Spazierengehens. Das Fachgebiet wurde in den 1980er-Jahren von dem Planungswissenschaftler und Soziologen Lucius Burckhardt und seiner Frau, der Schweizer Künstlerin Annemarie Burckhardt, in Kassel als kulturwissenschaftliche und ästhetische Disziplin entwickelt.
Ziel der Spaziergangswissenschaft ist es, die Bedingungen der Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen und die Umweltwahrnehmung zu erweitern. Martin Schmitz war ein Schüler von Lucius Burckhardt und hat seit 2013 den Annemarie-und-Lucius-Burckhardt-Lehrstuhl an der Kunsthochschule Kassel inne.

Der spaziergangswissenschaftliche Ansatz

Im Deutschlandfunk Kultur begründete Schmitz die Relevanz des spaziergangswissenschaftlichen Ansatzes, der die Gestaltung des Raumes kritisch reflektiere und rückkoppele an städtebauliche oder verkehrstechnische Planungen. Dabei forme die Art und Weise, in der sich die Menschen fortbewegten, ihre Welterfahrung:
"Wenn man eine Aussage über einen Raum treffen möchte, wenn man sich eine Stadt oder eine Landschaft erschließen möchte, dann muss man sich darin bewegen. Die einfachste Form das zu tun, ist, zu Fuß zu gehen. Aber wir fliegen heutzutage so preiswert wie nie zuvor und das hat zu völlig anderen Wahrnehmungsformen geführt. Wir erleben die Welt im Schnelldurchlauf."
Portrait des Spaziergangswissenschaftlers Martin Schmitz
Spaziergangswissenschaftler Martin Schmitz© Patricia Schindler
Wer spazieren gehe, sagte Martin Schmitz, erlebe die Orte, an denen er vorbeigeht wie auf einer Perlenschnur aufgereiht.
"Die Promenadologen sagen, die Wahrnehmung beruht auf dem kinematographischen Effekt der Bewegung."
Die Wahrnehmung der Welt gründe aber zugleich auch auf Vorstellungen, die wir bereits in uns haben, noch bevor wir etwas wahrnehmen. Um dies zu veranschaulichen, habe der Soziologe Lucius Burkhardt auf den Astronauten Neil Armstrong verwiesen. Der habe nach seiner Reise zum Mond gesagt, es sehe dort aus wie am Gran Canyon.

Die Kultur der Currywurst-Buden

"Unsere Weltwahrnehmung ist ein Konstrukt, das wir im Kopf haben."
In seiner Diplomarbeit erforschte Schmitz die Kultur der Currywurst-Buden:
"Ich stellte fest, dass immer mehr von diesen Buden verschwinden und habe mich gefragt, warum. Ich habe nachgeforscht und mich mit der Geschichte der Imbiss-Kultur beschäftigt."
46 Currywurst-Buden waren es in Kassel einmal und sie wurden nach und nach verboten.

Proletarische Esskultur

"Currywurst-Buden sind ein Stück proletarischer EsskKultur, ein Stück Kultur, das ganz viele Menschen jeden Tag erleben. Dort, wo sie sich bewegen. Ein bourgoiser Mensch kann den Code einer guten Imbissbude natürlich gar nicht lesen."
1983 publizierte er seine Diplomarbeit als Buch gemeinsam mit der Kasseler Künstlerin Birgit Knop unter dem Titel "Currywurst mit Fritten – Über die Kultur der Imbissbude".
Martin Schmitz gründete auch einen eigenen Verlag, der in Berlin unter anderem die Bücher der "Genialen Dillettanten" publizierte, und leitete eine Kunstgalerie, bevor er 2013 nach Kassel zurückging und 2016 die Annemarie-und-Lucius-Burkhardt-Professur übernahm.
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