Projekte gegen Gesichtserkennung

Das System mit Daten fluten

Biometrische Erfassung von Körpermerkmalen, durch einen Scanner. Umwandlung von Körper- und Kopfform in digitale Daten.
Ein Scanner fasst Kopfform und Körpermerkmale. © imago / Jochen Tack
Von Thomas Reintjes · 01.09.2016
Trotz Protesten von Datenschützern ist in vielen Städten der Welt automatische Gesichtserkennung durch Überwachungskameras längst Realität. Künstler wie Leo Selvaggio haben Wege gefunden, das Überwachungssystem auszuhebeln.
London und Peking sind Weltspitze in der Video-Überwachung mit jeweils mehr als 400.000 Kameras. Auf Platz drei: Chicago. Dort lebt der Künstler Leo Selvaggio.
"Für viele andere Städte, in den USA und international, gilt Chicago als Vorbild. Ich habe gemerkt, dass ich eine Verantwortung habe, mich da einzubringen, weil ich von ganzem Herzen dagegen bin."

1000 Kilometer vernetzte Glasfaserleitung allein in Chicago

Chicago hat deshalb Modellcharakter, weil Kameras und Sensoren hier mit einem Netz aus rund 1000 Kilometer Glasfaserleitung mit einer Zentrale verbunden sind. Das System soll verdächtiges Verhalten erkennen können. Ob dabei auch systematisch Gesichtserkennungsprogramme eingesetzt werden, weiß Leo Selvaggio allerdings nicht.
"Da mangelt es an Transparenz. Aber ich kann sagen, dass Gesichtserkennung von der Polizei eingesetzt wird, um Verdächtige zu überführen und festzunehmen."
Doch allein die Möglichkeit massenhaften Einsatzes von Gesichtserkennung ist für Selvaggio schon erschreckend. Allein die Existenz des stadtweiten Überwachungssystems:

"URME": Kunstharzmasken mit dem Gesicht des Künstlers Leo Selvaggio

Wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden, ändern wir unser Verhalten, sagt er. Mit seinem Projekt URME, geschrieben U R M E, ermöglicht es Selvaggio Menschen, ihr Gesicht gegen ein anderes auszutauschen - gegen seines. Auf seiner Website bietet er Masken an, die seinem Gesicht nachempfunden sind. Aus Kunstharz 3D-gedruckt und fotorealistisch bemalt, inklusive Stoppelbart. Für umgerechnet rund 180 Euro kann sich jeder eine Kopie von Selvaggios Gesicht bestellen. So lässt sich die eigene Identität vor den Kameras verbergen. Aber dem Künstler geht es um mehr.
"Oberflächlich geht es bei dem Projekt um individuellen Schutz. Aber die Tragweite geht darüber hinaus, indem es durch zivilen Widerstand große Überwachungssysteme grundsätzlich unterminiert."
Fußball DFB-Pokal 1. Runde: Karlsruher SC - Alemannia Aachen am Sonntag (31.07.2011) im Wildparkstadion in Karlsruhe. Karlsruher Fans protestieren zu Beginn der zweiten Halbzeit mit Papptellern vor den Gesichtern gegen das Projekt «Parallele Gesichtserkennung in Videoströmen».
Auch deutsche Fußballfans protestierten am 31.07.2011 mit Pappteller-Masken gegen Gesichtserkennung.© picture alliance / dpa / Uli Deck
Leo Selvaggio führt das Überwachungsnetzwerk in Chicago ad absurdum, wenn sein Gesicht gleichzeitig an mehreren Orten auftaucht. Aber es ist nur sein Gesicht. Nicht sein Körper, nicht seine Person. Selvaggio will auch zu Diskussionen darüber anregen, woran sich unsere Identität eigentlich festmachen lässt und wer über sie bestimmt. Dafür hat er die Kontrolle über seine Identität aufgegeben. Durch die Masken kann nun jeder behaupten, Selvaggio zu sein - zumindest gegenüber Kamerasystemen. Menschen würden schnell bemerken, dass es sich um eine Maske handelt. Der Künstler fürchtet, dass er dafür noch einen hohen Preis bezahlen muss. Er hält es für möglich, dass er irgendwann im Gefängnis landet, weil jemand mit seiner Maske ein Verbrechen begeht. Andererseits hätte das aus seiner Sicht auch was Gutes:
"Falls das passiert, oder besser wenn das passiert, würde das zu einer sehr interessanten Diskussion darüber führen, wie diese Technologien in der Rechtssprechung genutzt werden. Nach diesem öffentlichen Dialog strebe ich schon seit dem ersten Tag des Projekts, um die Auswirkungen der Technologie auf unsere Gesellschaft zu diskutieren. Ein Gerichtssaal wäre ein dramatischer Schauplatz dafür."

Untertauchen in der Datenmasse

Selvaggio will das Projekt aber auch von dem Fokus auf sich selbst wegführen und in Zukunft auch anderen ermöglichen, ihre Gesichter als Masken vervielfältigen zu können. Eine ähnliche Strategie verfolgt die Schweizer Künstlerin Simone Niquille. Sie setzt mit ihrem Projekt "Facebay" auf digitale Vervielfältigung von Profilbildern und Identitäten.
"Sein Gesicht bewusst zu verbreiten könnte helfen, das wahre Profil zu verschleiern. Das ist der Grundgedanke von Facebay. Ein Portal, wo man anstatt sich zu verstecken, bewusst Inhalte anbietet, um zu verschleiern, wer man ist. Mehr als mich zu verstecken interessieren mich Verschleierungstaktiken."
Auf Facebay kann jeder sein Profilbild hochladen und allen zur Verfügung stellen. Je mehr es nutzen, desto besser - so die Überlegung. Wir haben ohnehin schon die Kontrolle darüber verloren, wer was mit unseren Daten und unseren Identitätsmerkmalen anstellt, sagen beide Künstler. Staaten und Internetfirmen speichern und tracken, sammeln und verknüpfen alles, was sie über uns wissen. Also bleibe uns nur noch, das System mit Daten zu fluten, in denen unsere wahre Identität dann verschwimmt.
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