Projekt Knappenroth

Von Tonia Koch · 18.10.2005
Vor über 30 Jahren sollte in Saarbrücken ein Supermarkt gebaut werden. Er wurde es schließlich nicht. Der Investor, der bereits Millionen in das Projekt gesteckt hatte, prozessierte und stellte Anspruch auf Entschädigung. Vor deutschen Gerichten scheiterte er damit. Nun hat der Europäische Gerichtshof das letzte Wort. In einem der längsten Prozesse der Bundesrepublik geht es um Hunderte Millionen Euro.
Es ist große Pause in der Grundschule am Saarbrücker Knappenroth. Ansonsten geht es ruhig zu in der Gegend. Um die Ecke sorgen ein paar Besucher im Altenheim für spärlichen Verkehr. Das wäre ganz anders gekommen, hätte der Kaufmann Jürgen Gräßer seine Pläne verwirklichen können. Damals vor dreißig Jahren.

Ein Supermarkt mit einer Verkaufsfläche von 8000 Quadratmetern sollte hier die Kassen klingeln lassen sollen. 900 Wohneinheiten in Hochhäusern mit bis zu 19 Etagen waren für die kauffreudige Klientel vorgesehen. Doch es kam anders als geplant. In letzter Sekunde verweigerte die Stadt Saarbrücken 1974 die Baugenehmigung. Gräßer wollte oder konnte eine Bankbürgschaft nicht bereitstellen, mit der die Erschließungskosten in Höhe von 4,5 Millionen Mark gesichert werden sollten. Der Bauherr fühlte sich durch die Forderung betrogen und klagte.

Das Landgericht Saarbrücken wies die Klage ein Jahr später ab. Das aber wollte der Kaufmann nicht akzeptieren, er ging in Berufung und es beginnt der längste Zivilprozess der deutschen Geschichte. Seit Jahrzehnten nun widmet sich Gräßer seinem Fall. Er will sein Recht und glaubt noch immer, das Recht auf seiner Seite zu haben. Was ihn durchhalten lasse, sei ein unerschütterlicher Glaube an die bestehende Rechtsordnung.

Gräßer: "Einfach das Vertrauen, das man in die Rechtsposition eines Landes hat, und wenn man das nicht mehr hätte, müsste man ja auswandern. Aber da ich immer noch in Deutschland bin, ist ein Zeichen dafür, dass ich noch immer den Glauben und die Hoffnung habe, dass Recht gesprochen werden muss. "

Gräßer äußerte sich vor zwei Jahren in einem Interview des saarländischen Rundfunks. Heute wollen weder Gräßer noch sein Anwalt zum Stand des Verfahrens gegenüber Deutschlandradio Stellung nehmen.
Längst geht es nicht mehr gegen die Stadt, sondern gegen das Saarland und gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Was seine Schadensersatzansprüche gegen die Stadt anlangt: Diese sind im April 2003 endgültig abgewiesen worden. Sehr zur Erleichterung der Stadtverwaltung kann die Stadt Saarbrücken in dieser Angelegenheit nicht mehr zur Kasse gebeten werden. Jürgen Wohlfahrt, Rechtsdezernent.

Wohlfahrt: "Es ist deswegen nicht dazu gekommen, weil die Gerichte am Schluss gesagt haben, es ist ein Vermögensschaden gar nicht entstanden. Und deshalb sind die Klagen in Wahrheit abgewiesen worden. "

Dieses Urteil des Oberlandesgerichtes Saarbrücken, das der Bundesgerichtshof in Karlsruhe bestätigte, kam für alle Beteiligten etwas überraschend, denn im Verlauf des Rechtsstreites war zuvor mehrfach zu Gunsten des Klägers entschieden worden. Erstmals 1980.

Der BGH, der Bundesgerichtshof in Karlsruhe, war der Ansicht, dass der Kaufmann Jürgen Gräßer einen Anspruch auf Schadensersatz habe, weil die Stadt keinen triftigen Grund gehabt hätte, die Verhandlungen über die Erschließungskosten des Bauvorhabens abzubrechen. Das Oberlandesgericht in Saarbrücken wurde daher aufgefordert, zu prüfen, warum die Erschließungskosten auf 4,5 Millionen Mark festgesetzt wurden, nachdem zunächst lediglich 2,5 Millionen Mark in Rede standen. Die Richter vermuteten, dass das Bauvorhaben aus "sachfremden Erwägungen" zum Platzen gebracht worden war, sprich, dass politische Ränkespiele dafür ausschlaggebend waren.
Gerd Bauer, langjähriger Vorsitzender der CDU-Fraktion im Saarbrücker Stadtrat, erinnert sich.

Bauer: "Es gab offensichtlich eine politische Mehrheit, die gerade 74 entstanden war im Saarbrücker Stadtrat, die diesem Gräßer-Projekt ablehnend gegenüber stand. Man hat immer wieder berichtet, dass gerade auch die FDP - mit Rücksicht auf den mittelständischen Einzelhandel in Rastpfuhl/Malstatt - großes Interesse daran hatte, einen solch großen Einkaufsmarkt - wie ihn Gräßer bauen wollte - zu vermeiden. "

Das Gerücht, die Erschließungskosten für das Bauvorhaben im Knappenroth seien künstlich hochgerechnet worden hielt sich seitdem hartnäckig. Noch bevor sie im Amt gewesen sei, habe die neue gelb/rote Ratsmehrheit die Fäden gesponnen, um den Bau zu verhindern. Maßgeblich beteiligt an dieser Verhinderungsstrategie sei auch Oskar Lafontaine gewesen, der ebenfalls 74 ins Amt des Oberbürgermeisters gewählt wurde. Die Aktenlage freilich gibt dies alles nicht her. Jürgen Wohlfahrt Rechtsdezernent der Stadt.

Wohlfahrt: "Was viele einfach ignorieren, die Klage von Herrn Gräßer war bereits anhängig, bevor die neue Stadtregierung ihr Amt angetreten hat. Die Klage ist also noch unter dem alten Regime eingereicht worden, das lässt sich belegen. "

Aber die Stadt selbst hat mächtig zur Legendenbildung beigetragen. Es war ihr nicht gelungen in der vom Gericht festgesetzten Frist nachzuweisen, warum die Erschließungskosten auf 4,5 Millionen Mark festgesetzt worden waren. Noch einmal Jürgen Wohlfahrt.

Wohlfahrt: "Die Erschließungskosten sind mehrfach gerechnet worden und nach der Aktenlage – wie sie mir bekannt ist – war die Forderung der Stadt auch im Ergebnis zutreffend. Allerdings ist der Vortrag zu spät eingebracht worden zum Gericht und das Gericht hat diesen Vortrag als verspätet zurückgewiesen. "

Für die Stadt sollte sich dieses Versäumnis als folgenschwerer Fehler erweisen, denn die Richter am BGH stellten fest, dass allein die Stadt die Schuld dafür trägt, dass der potentielle Bauherr Gräßer nicht zum Zug gekommen war. Er sei deshalb zu entschädigen. Und zwar nicht nur für seine entstandenen Unkosten, sondern auch für die entgangenen Gewinne.

1986, elf Jahre nach dem Start des Verfahrens, spricht das Oberlandesgericht Saarbrücken dem Kaufmann Jürgen Gräßer 5,8 Millionen Mark plus Zinsen zu. Gräßer ist das zu wenig, er wendet sich erneut an Karlsruhe. Und auch die Stadt geht erstmals in Revision. 15 Jahre wird über die Schadenshöhe ergebnislos gestritten. Während das Verfahren dahindümpelt, werden die Schadensersatz-Forderungen für die Stadt immer bedrohlicher. Die oppositionelle CDU und auch die Grünen raten der Verwaltungsspitze dringend zum Vergleich. Gerd Bauer.

Bauer: "Bevor die letzten Urteile gefällt wurden, war es in den frühen 80er Jahren und dann auch Anfang der 90er Jahre eigentlich so, dass die damals damit befassten jeweiligen Gerichtsinstanzen ja durchaus nicht immer alle auf der Seite der Stadt geurteilt haben, sondern es auch Urteile gab, die Gräßer Recht gegeben hatten. Und in diesen Fällen, als das so war, dass wir erkennen mussten, da laufen wir jetzt wirklich Gefahr, dass es bei diesem Urteil bleibt, da laufen wir Gefahr – und das waren Urteile, die zu Lasten der Stadt gegangen wären, da war ich dann der Auffassung - und mit mir auch die CDU-Ratsfraktion -, wir sollten hier einen Vergleich anstreben, weil sonst zu befürchten stand, dass der Schaden, den die Stadt erlitten hätte so groß geworden wäre, was die Höhe des Schadenersatzes anbetrifft, dass er für die Stadt nicht mehr vertretbar gewesen wäre. "

Doch die Verwaltungsspitze sah, wie die Ratsmehrheit, keine Veranlassung zu Verhandlungen. Die Stadt hatte von Anfang an die These vertreten, Gräßer habe zu keinem Zeitpunkt über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, das Bauvorhaben in die Tat umzusetzen. Und wer nicht hätte bauen können, dem hätten auch keine Gewinne zunichte gemacht werden können. Ergo stünde ihm kein Schadensersatz zu. Ähnlich wie Gräßer sah sich daher auch die Stadt als Opfer der schleppend arbeitenden saarländischen Justiz.
Dem Geschäftsmann wurde es zu bunt. Er beschwerte sich erfolgreich beim Bundesverfassungsgericht. Im August 2000 rügten die Hüter der Verfassung das saarländische Oberlandesgericht wegen überlanger Verfahrensdauer im Fall des Kaufmanns Gräßer. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, selbst Richter, schloss sich damals der Kritik an, bemängelte jedoch auch das Verhalten der Stadt.

Müller: "Ich muss ihnen ganz ehrlich sagen, ich halte das für einen dicken Hund, dass da einem saarländischen Staatsbürger seit Jahrzehnten sein Recht vorenthalten wird. Das ist, so richtig die Entscheidung, die Karlsruhe getroffen hat, ist, ich will sie jetzt überhaupt nicht kritisieren, aber das ist nicht nur ein Problem der saarländischen Justiz, das ist ein Problem, dass offensichtlich seitens der Stadt der Versuch gemacht wurde, den Herrn Gräßer kaputt zu prozessieren. "

Der Rüffel aus Karlsruhe zeigte Wirkung. Das Oberlandesgericht entschied ein Jahr später den Fall Gräßer gegen die Stadt Saarbrücken. Für Gräßer war es ein Paukenschlag. Er verlor den Prozess endgültig.
Wer jedoch glaubte, der Kaufmann würde nun seinen juristischen Kampf aufgeben, sah sich getäuscht. Aus dem Fall Gräßer gegen die Stadt wurde ein Fall Gräßer gegen das Land. Stephan Weth, Professor für deutsches und europäisches Prozessrecht an der Universität Saarbrücken.

Weth: "Man kann sich des Eindrucks - nach der Zeitungslektüre - nicht ganz erwehren, dass die Niederlage gegen die Stadt jetzt wettgemacht werden soll, indem man nunmehr das Land verklagt. "

Im Verfahren gegen das Land, das Gräßer von Baden-Württemberg aus führt, fordert der Kläger das Saarland auf, ihm jeglichen Schaden zu ersetzen, der ihm durch die zeitliche Verzögerung vor dem Saarländischen Oberlandesgericht entstanden sei. In Rede stehen inzwischen über 100 Millionen Euro. Die erste Instanz, das Landgericht Karlsruhe, gibt Gräßer Recht. Nach einer derart langen Prozessdauer könne sozusagen guten Gewissens nicht ausgeschlossen werden, dass ein Schaden entstanden sei. Das Land müsse deshalb haften. Aber ein grundsätzlicher Anspruch auf Schadensersatz heißt längst nicht, dass er auch tatsächlich zu leisten ist. Wolfgang Schild, Staatssekretär im saarländischen Justizministerium.

Schild: "Im Grunde ist das Urteil in Karlsruhe, im Landgericht Karlsruhe, ein formeller Sieg, denn was tatsächlich zu ersetzen ist, das wird erst im anschließenden Verfahren, in der Leistungsklage, wo es darum geht: Eine Millionen, zehn Millionen. 100 Millionen, da ist der eigentliche Streit dann zu führen. "

Zu einer Entscheidung wird es jedoch sobald nicht kommen, denn das Berufungsverfahren, das vom Land gegen das erstinstanzliche Urteil angestrengt wurde, ruht, weil Jürgen Gräßer inzwischen pleite ist und Konkurs anmelden musste. Die Banken, an die der Geschäftsmann schon vor Jahrzehnten seine Forderungen abgetreten hatte, sind offenbar nicht mehr bereit, einen weiteren juristischen Schlagabtausch zu finanzieren. Zumal diesmal viel dafür spricht, dass sich das Land mit seiner Sicht der Dinge durchsetzen wird. Wolfgang Schild.

Schild: " Wir haben immer die Rechtsauffassung vertreten, wenn – was rechtskräftig festgestellt ist - kein ersatzfähiger Schaden gegenüber der Stadt geltend gemacht werden kann, kann durch die lange Prozessdauer auch kein größerer ersatzfähiger Schaden entstanden sein. "

Aufgrund der Insolvenz kann nur der Insolvenzverwalter oder das beklagte Land den Karlsruher Prozess zu Ende bringen. Und es ist davon auszugehen, dass das Saarland die Wiederaufnahme betreiben wird, um sich nicht erneut dem Vorwurf auszusetzen, die Dinge bis zum St. Nimmerleinstag liegen zu lassen. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dem Saarland bereits schwarz auf weiß bescheinigt, dass im Fall Gräßer die juristischen Mühlen im Saarland besonders langsam mahlen. An der rechtlichen Bewertung hat das Verfassungsgericht allerdings keine Kritik geübt. Darauf legt Justizstaatssekretär Schild Wert.

Schild: "Die Verfahrensdauer ist inakzeptabel lang, aber es ist nicht inakzeptabel, dass er den Prozess nicht gewonnen hat. "

Für Gräßer aber doch. Deshalb hat er die innerstaatliche Ebene verlassen und ist beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vorstellig geworden. Im vergangen Jahr wurde die Eingabe akzeptiert und es ist damit zu rechnen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die überlange Verfahrensdauer als einen Verstoß gegen die Menschenrechte werten wird. Staatssekretär Wolfgang Schild.

Schild: "Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hat, dass das überlang ist, wäre ich töricht anzunehmen, wenn ich jetzt sagen würde, ich gehe davon aus, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das nicht feststellen wird. "

Auch Professor Weth zweifelt nicht daran, dass die Straßburger Richter die Bundesrepublik aufgrund der überlangen Verfahrensdauer an den Pranger stellen werden.

Weth: "In unserem Fall steht die Verpflichtung aus Artikel 6 der Menschenrechtskonvention in Frage, nämlich Prozesse in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen. Dies ist sicherlich im Gräßer-Prozess nicht geschehen und daher wird mutmaßlich Straßburg urteilen, dass die Bundesrepublik hier ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen ist und gegebenenfalls auch eine Entschädigungssumme ausweisen. "

Auf 400 Millionen Euro belaufen sich die Schadensersatzforderungen, die Gäßers Anwalt in Straßburg geltend gemacht hat. Allein hundert Millionen seien nötig, um den Prozess in Straßburg zu verfolgen, hat der Kläger vorgerechnet. Folgen die Straßburger Richter dieser Rechnung, dann könnte die Angelegenheit Gräßer die Bundesrepublik teuer zu stehen kommen. Doch Straßburg misst an der Elle Menschenrechte und fungierte bislang nicht als supranationale Revisionsbehörde, die Beschlüsse deutscher Gerichte auf den Kopf stellt. Dennoch darf der Kläger davon ausgehen, dass der Europäische Menschengerichtshof ihm Schmerzensgeld zubilligt. Allerdings dürfte sich diese Summe - gemessen an den Forderungen - bescheiden ausnehmen.

Es gehört zu den Besonderheiten dieses Prozesses, dass der Kläger stets exorbitant hohe Streitwerte angesetzt hat. Damit hat er die Anwälte reicher und die Banken beziehungsweise ihre Kunden ärmer gemacht. Die Spekulationen der Geldinstitute, die Stadt und damit der Steuerzahler möge am Ende für fiktive Gewinne aufkommen, haben sich zumindest bislang nicht erfüllt. Allein der städtische Haushalt wurde mit mehreren Millionen Euro belastet. Jürgen Wohlfahrt.

Wohlfahrt: "Wir haben jetzt gegenüber Herrn Gräßer ungefähr 3,5 Millionen Euro Kostenerstattung im Insolvenzverfahren angemeldet. Aber das sind jetzt natürlich nur die Auslagen, die errechnet sind. All das, was so hier intern an Verwaltungskosten, also Personalkosten nicht berechnet entstanden ist, ist natürlich um ein Vielfaches höher. Aber da solche Kosten nicht erstattungsfähig sind, sind sie auch nicht dokumentiert. "

Andererseits wäre Jürgen Gräßer ohne die Hilfe der Banken, an die er seine Forderungen abgetreten hatte, längst nicht soweit gekommen, weil er viel früher den Offenbarungseid hätte leisten müssen. Auch das darf nicht sein, dass nur derjenige in der Lage ist alle Rechtsmittel auszuschöpfen, der es sich leisten kann. Der Faktor Zeit spiele daher eine ganz wesentliche Rolle. Wolfgang Schild.

Schild: "Dass Gerichte in angemessener Zeit entscheiden, ist wirklich auch Teil unseres Empfindens von Gerechtigkeit. "

An dieser Stelle hat die Justiz zweifelsohne Handlungsbedarf.