Privatsphäre ist von gestern

06.11.2012
In seinem neuen Buch "Mehr Transparenz wagen" wirbt der Amerikaner Jeff Jarvis für eine neue Form der Öffentlichkeit: Je mehr jeder preisgibt und je mehr Daten kursieren, umso besser können Produkte und Services weiterentwickelt werden.
Der amerikanische Journalismusprofessor und Blogger Jeff Jarvis gehört zu den Leuten, denen der Öffentlichkeit gegenüber kaum etwas peinlich zu sein scheint. Mit offenherzigen Schilderungen über seine Prostatakrebs-Erkrankung und deren Folgen für Penis und Potenz hat er auch hierzulande für Aufmerksamkeit gesorgt – und für Kopfschütteln.

Dem eitlen Jarvis, so scheint es, ist nichts zu intim, um es nicht für sein Image als Internet-Ikone und satte Vortragshonorare auf Medienkongressen auszuschlachten. Sein aktuelles Buch "Mehr Transparenz wagen" schlägt genau in diese Kerbe: Darin wirbt er für eine neue, zeitgemäße Form von Öffentlichkeit, die er selbst lebt.

Das ist wenig überraschend, zumindest auf den ersten Blick. Doch so befremdlich manch öffentlicher Auftritt des Amerikaners auch sein mag und so wenig neu sein Plädoyer für einen freizügigeren Umgang mit Informationen auch ist: Jeff Jarvis kann sein Anliegen profund, anregend und lesenswert belegen.

Erfindungsreichtum, Fortschritt und kultureller Wandel einer Gesellschaft – so seine These – hängen von der Interaktion ihrer Bürger ab. Je mehr Austausch es dank neuer Technologien gibt, desto mehr Menschlichkeit ist möglich, meint er.

Das hat er nicht nur selbst so erfahren, als er nach dem Öffentlichmachen seiner Krankheit von Ratschlägen und Zuspruch profitierte. Jarvis bringt auch viele Beispiele aus der (amerikanischen) Wirtschaft – von der "Co-Creation" von Autos bei "Local Motors", modernem Kundenservice via Twitter wie beim Elektronikhändler "Best buy" bis hin zu bekannten Empfehlungsdiensten wie Foursquare oder Blippy, bei denen User ihre Aufenthaltsorte und Einkäufe der Öffentlichkeit preisgeben.

Die Mitwirkung Vieler schafft eben nicht nur völlig neue Beziehungen und ein starkes Gemeinschaftsgefühl: Dank der Vielfalt an Daten, die kursieren, entstehen auch bessere Produkte und Services, die ständig weiterentwickelt werden. Autorität und wirtschaftlicher Erfolg hat in Zukunft der, der diesen Wandel managen kann, lautet sein Fazit.

Spannend wird es, wenn sich Jarvis mit der Kehrseite der Mitteilsamkeit, der Bedrohung unserer Privatsphäre auseinandersetzt. In einem historischen Rückblick zeichnet er die Debatten um den Schutz des Privaten nach, die erst Ende des 19. Jahrhunderts mit den ersten tragbaren Fotokameras aufkamen.

Was ist öffentlich, was ist privat? Bis heute herrscht darüber keine Einigkeit, denn Privatsphäre ist ein nebulöser Begriff, den jeder für sich anders definiert. Deshalb, schlägt Jarvis vor, müsse jeder selbst entscheiden, was er im Zeitalter der digitalen Medien preisgeben möchte und was nicht.

Transparenz, fordert er, dürfe nicht mit Nacktheit verwechselt werden. Eine Alternative zum Teilen von Informationen gibt es aus seiner Sicht aber nicht, zu groß ist seiner Meinung nach der Nutzen, der daraus entsteht: Statt unter der Fahne des Privatsphäreschutzes diesen Geist zurück in die Flasche drücken zu wollen, müsse sich die Gesellschaft auf Normen über den Gebrauch der Daten verständigen.

Besprochen von Vera Linß

Jeff Jarvis: Mehr Transparenz wagen! Wie Facebook, Twitter & Co die Welt erneuern
Aus dem amerikanischen Englisch von Lutz-W. Wolff
Quadriga Köln 2012
320 Seiten, 24,99 Euro



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Jeff Jarvis: "Mehr Transparenz wagen! (DKultur, Lesart)
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