Private Erinnerungen an die Perestroika

Von Stefan Berkholz · 12.05.2013
Kaum jemand hat den Lauf der Weltgeschichte gegen Ende des 20. Jahrhunderts stärker verändert als der sowjetische Präsident und Reformer Michail Gorbatschow. Nach Büchern über seine politischen Erfahrungen und die deutsche Wiedervereinigung legt er jetzt seine Autobiografie vor.
Als Prolog hat der 82-Jährige Auszüge aus seinem Tagebuch um die Jahrtausendwende freigegeben. Im September 1999 war Ehefrau Raissa gestorben, sie wurde nur 67 Jahre alt. Michail Gorbatschow fühlt sich bis heute schuldig. Schuldig, dass er ihr nicht hat helfen können, schuldig, sie am Ende überlebt zu haben.

So ist das Buch …

"... anders als alle Bücher, die ich bisher verfasst habe."

Und nun seiner geliebten Frau gewidmet.

"Ich beschloss, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Das hatte ich schon lange vor, brachte es aber nicht fertig. Dieses Buch ist mir schwergefallen."

Ein Buch über das gemeinsame Leben ist es aber nur in Ansätzen geworden. Und es ist auch nicht etwas völlig Neues. Legt man die voluminösen "Erinnerungen" von 1995 daneben, erkennt man, dass vor allem der 18 Jahre alte Text zusammengefasst wurde - ergänzt um ein paar verstreute Passagen zum Privatleben und einige Aktualisierungen.

Aber selbst das Kapitel über "Raissa", Michail Gorbatschows lebenslange Liebe seit der Studentenzeit, findet sich so ähnlich und bis in Worte und Dialoge hinein gleich im vorangegangenen Text. Nun hat er diese Passagen ausgeschmückt und mit ein paar Details angereichert.

"Wer Raissa nur einmal sah oder ihr nur einmal kurz begegnete, mochte den Eindruck haben, sie sei gekünstelt oder manieriert. Die sie näher kannten, wussten um ihr Taktgefühl, ihre Zuwendung und Zuverlässigkeit und hatten in ihr einen ebenbürtigen und interessanten Gesprächspartner."

Ansonsten konzentriert er sich ganz auf seinen Lebensweg, die Stationen seiner politischen Karriere, auf Begegnungen mit Weggefährten, Rivalen, Förderern, und die politischen Umwälzungen in seiner Heimat - und nebenbei in der Welt.

Die deutsche Wiedervereinigung wird kaum erwähnt
Was diesmal fehlt sind die Kapitel zur Außenpolitik. Auch der Prozess zur deutschen Wiedervereinigung kommt kaum vor. Erich Honecker beispielsweise ist nur einmal erwähnt, Helmut Kohl nicht viel häufiger.

Auffallend ist, das Gorbatschow Putin zwei Mal namentlich erwähnt und einmal sogar anerkennend über eine Begegnung vom Anfang der 1990er-Jahre, also vor dessen Zeit als Regierungschef.

"Übrigens muss ich Putin gegenüber, den ich damals kennenlernte, Gerechtigkeit walten lassen. Als Erster stellvertretender Bürgermeister St. Petersburgs kümmerte er sich um mich, holte mich ab und begleitete mich bei meinen Reisen durch die Stadt, wobei er ein großes Taktgefühl, echte Gastfreundschaft und ein feines Verständnis kommunaler und weit darüber hinausgehender Probleme bewies."

In den kritischen Anmerkungen zu Putins Regierungsjahren nennt er Russlands Präsidenten dann nicht mehr namentlich.

Seine "Erinnerungen" von 1995 sind ausführlicher und authentischer, weil viele Jahre näher am historischen Geschehen als die aktuelle Fassung. Jetzt berichtet er eher nüchtern, analysiert und deutet, fasst zusammen. Es ist so etwas wie der Bericht eines Historikers geworden.

Ergänzende Notizen finden sich über den Präsidentschaftswahlkampf von 1996. Darin wird die Ausgrenzung und Diffamierung durch den Nachfolger Jelzin deutlich.

Und er rügt den "zynischen Umgang" des Westens mit Russland und vor allem die konservative US-amerikanische Führung um Dick Cheney, den Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, den Nachfolger von Cheney, und Robert Gates, den Direktor der CIA. Nicht ohne Bitterkeit schreibt er:

"Der konservativste Teil des amerikanischen Establishments und seine Vertreter um Bush sowie schließlich auch der amerikanische Präsident selbst setzten auf Jelzin, da dessen Ziele, die Union zu zerstückeln und aufzulösen, im Interesse der amerikanischen Führung waren. Offenbar fand diese, ein geschwächtes Russland unter Jelzin sei eher in ihrem Interesse als die Perspektive einer erneuerten Union, für die sich Gorbatschow einsetzte."

Cover: "Alles zu seiner Zeit. Mein Leben."
Cover: "Alles zu seiner Zeit. Mein Leben."© Hoffmann und Campe Verlag
Gorbatschow übt Selbstkritik: Es gab Fehler beim Reformprozess
Für seine eigene Politik verhehlt er nicht eine Reihe von Fehlern im Reformprozess: das Konsumangebot hätte ausgebaut, die Rüstungsindustrie "mutiger und konsequenter" umgestellt, die Reformierung der KPdSU rascher umgesetzt werden müssen.

Auffallend defensiv und beinahe entschuldigend klingt er in diesen Passagen - man spürt förmlich, welchen Anfeindungen der ehemalige Regierungschef in seiner Heimat ausgesetzt war oder immer noch ist. Doch sein Fazit für seine bahnbrechenden Umwälzungen ist eindeutig:

"Die Perestrojka war als Alternative zu den beiden historischen Extremen konzipiert: dem egoistischen, auf Privatbesitz schwörenden Kapitalismus auf der einen Seite und dem stalinistischen Totalitarismus auf der anderen. Zugleich war sie eine ebenso spontane wie zielstrebige Bewegung, um die positiven Aspekte des Sozialismus und Kapitalismus miteinander zu verschmelzen. Für sich genommen war die Perestrojka eine historische Leistung: Immerhin befreite sich die sowjetische Gesellschaft aus eigener Kraft vom totalitären System und bereitete auch anderen Ländern und Völkern den Weg hin zu Freiheit und Demokratie."

"Alles zu seiner Zeit", so der Titel des aktuellen Buches, war eine Weltrevolution. "Mein Leben", so der Untertitel, schildert diese einzigartige, herausragende Gestalt in der Menschheitsgeschichte aus eigener, nun analysierender Perspektive. Der 82-Jährige Gorbatschow hat mit diesem Buch ein abgewogenes politisches Testament für die Nachwelt hinterlassen und damit auch eine Orientierung für die Gestaltung der Welt in der Zukunft geliefert.

Michail Gorbatschow: Alles zu seiner Zeit. Mein Leben.
Aus dem Russischen von Birgit Veit
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013
550 Seiten, 24,99 Euro


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