Premiere am Schauspiel Stuttgart

Der innere Kosmos von Frank Castorf

Die Schauspieler (v.l.) Andreas Leupold, Wolfgang Michalek, Horst Kotterba, Manja Kuhl, Matti Krause und Astrid Meyerfeldt vom Schauspiel Stuttgart bei einer Probe von "Tschewengur" am Schauspielhaus in Stuttgart in einer Inszenierung von Frank Castorf, aufgenommen am 19.10.2015.
Die Schauspieler (v.l.) Andreas Leupold, Wolfgang Michalek, Horst Kotterba, Manja Kuhl, Matti Krause und Astrid Meyerfeldt in "Tschewengur" am Schauspielhaus Stuttgart. © picture alliance / dpa / Thomas Aurin
Von Elske Brault · 22.10.2015
Auch bei Andrej Platonovs "Tschewengur" am Schauspiel Stuttgart bleibt Regisseur Frank Castorf sich treu: Seine Inszenierung ist laut, kalauernd, bunt und angestrengt. Warum ihn das an sein erstes und letztes AC/DC-Konzert erinnert, erklärt unsere Kritikerin.
Es gibt Konstanten des Castorf-Theaters. Die Damen (Hanna Plaß, Katharina Knap, Manja Kuhl, Astrid Meyerfeldt, Sandra Gerling) tragen Perücken und Pailletten-besetzte Abendkleider oder wilde Zirkus-Rokoko-Fantasiekostüme und sind sehr zickig und anspruchsvoll, aber auch allesamt unerreichbar schön. Die Herren (Horst Kotterba, Wolfgang Michalek, Andreas Leupold, Johann Jürgens, Matti Krause) treten eher in über den Hosenbund hängenden Hemden und schwarzen Stiefeln auf, sie kriegen relativ rasch eins auf die Fresse und bluten, oder sie verschlucken sich an irgendwelchen Naturalien, die ihnen dann aus dem Mund sabbern. Videokameras sind ganz wichtig und immer dabei, damit wir das auch alles schön in Nahaufnahme sehen. Alle schreien permanent oder sprechen zumindest so ekstatisch und aufgedreht, dass ein Dauerton exaltierter Hysterie dem Zuschauer permanent gegen die Ohren knallt.
Wahrscheinlich ist das, was wir da zu sehen bekommen, tatsächlich der innere Kosmos von Frank Castorf. Der würde immer noch gern an die schicken jungen Frauen rankommen, spürt aber, dass er für sie ein sabbernder Greis ist. Das verletzt ihn und macht ihn bluten, innerlich. Doch während so eines Theaterabends dreht er (Video) das Innere nach außen. Und alle machen mit, werden angesteckt von dieser ungeheuren Energie, mit der Castorf fünf Stunden lang mit größtenteils unverständlichen Texten auf die Zuschauer eindrischt. Es ist ja nicht Castorfs Schuld, wenn der Zuschauer für diese Texte zu blöd ist. Die Schauspieler können sie auswendig lernen, wirklich eine Glanzleistung des Ensembles übrigens, da muss das Publikum sie doch verstehen können! An einer Stelle darf Astrid Meyerfeldt es sogar ganz explizit sagen: "Bücher brauchen wache Leser. Langweilig werden Bücher durch langweilige Leser oder langweilige Zuschauer." Wer diesen Theaterabend also langweilig findet, hat selbst schuld. Wurde schließlich keiner gezwungen, diesen Volkshochschulkurs zu buchen: "Russische Revolution mit allen ihren Auswüchsen, parteiinterne Machtkämpfe, Folter, Hungersnot, Leidenschaft, Generationenkonflikt. Seminarleiter: Frank Castorf."
Wollte man so etwas wie Handlung konstruieren, hätte der Abend drei Teile. Teil eins: Die Biografie Andrej Platonovs, von dem wir erfahren, dass er der größte Schriftsteller der russischen Literatur ist, größer auf jeden Fall als Hemingway, der seinerseits größer ist als Erich Maria Remarque. Also dieser ungeheuren Größe wegen lohnt der Volkshochschulkurs wirklich wirklich wirklich.
Es soll gefühlt, gedacht und gelernt werden
Teil zwei: In der fiktiven Stadt Tschewengur lebt in einem Hühnerstall ein liebendes Paar, sie (Astrid Meyerfeldt) hat 17 Kinder geboren, von denen nur acht überlebt haben, der Vater hat aber so ein großes Herz, dass er auch noch einen Waisenknaben aufnimmt, und zwischen leiblichem und Waisensohn gibt es dann einen Kampf um die Liebe des Vaters. Konkurrenzkampf und Platz-behaupten-Wollen in der Familie als Ursprung des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie.
In Teil drei tagt dann der Schauspieler-Revolutionsrat und zerpflückt uns die Familiengeschichte theoretisch-philosophisch, da herrscht so ein Foucault-Baudrillard-Grundton, den man im Programmheft nachlesen kann mit Texten von Joseph Brodsky und Boris Groys. Soll ja nicht nur gefühlt, sondern auch ordentlich gedacht und gelernt werden.
Die Bühne von Aleksandar Denic setzt wie alles an diesem Abend ganz kräftige Zeichen, auf der einen Seite einer aus Holzbrettern zusammengenagelten Westernstadt (Theater ist Provisorium!) dreht sich ein Windmühlenrad, wohl um anzudeuten, dass der Kampf für die Revolution immer heroisch und vergeblich ist wie der von Don Quixote. Auf der anderen Seite ragt dem Publikum der Kopf einer alten Dr. Schiwago-Filmlokomotive entgegen, und der wirkt nicht nur antropomorph, sondern wird im Laufe des Abends auch mit Schauspieler Horst Kotterba kommunizieren und aufmunternd blinken.
Das Problem ist ja wahrlich nicht der Mangel an Inhalt oder Zeichen, sondern deren Häufung. Die Effekte erschlagen sich alle gegenseitig, heraus kommt ein Einheitsbrei von laut und permanent und kalauernd und bunt und angestrengt. Das kann für Fans ganz toll sein. Und ist sicher auch interessant, wenn man es zum ersten Mal erlebt. Ich war auch einmal in meinem Leben auf einem AC/DC-Konzert und habe das alles staunend erlebt: Das Stadion voller Menschen und die mittelalten Bartträger, die sich die Lungen aus dem Leib schreien, und die wummernden Bässe und die Kanonendonner. Das war schon eine seltsame, fremde Welt. Aber ich werde nie wieder ein AC/DC-Konzert besuchen. Und auch nie wieder einen Theaterabend von Frank Castorf.
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