Prekäre Beschäftigung

Wenn der Lohn nicht reicht

Ein Mann greift im auf der Schloßstraße im Bezirk Steglitz/Zehlendorf in Berlin am 15.06.2014 in einen Papierkorb, um an eine Pfandflasche zu kommen.
Immer mehr Menschen sammeln Pfandflaschen um zu überleben. © picture alliance / Wolfram Steinberg
Von Amelie Ernst und Carsten Burtke · 15.08.2017
Die 5-jährige Ella träumt von neuen Kleidern, ihre Mutter wäre schon dankbar für einen Job, mit dem sie sich und ihre Tochter ernähren kann. Ella und ihre Mutter sind kein Einzelfall. Viele Menschen können von Teilzeitstelle oder Mini-Job nicht mehr leben.
Wenn ich groß bin, dann werde ich Prinzessin, sagt Ella. Gemeinsam mit ihrer Mutter Dörte Riem steht die Fünfjährige vor der Potsdamer Arbeitsagentur. Die eine träumt von einem Schloss und schönen Kleidern, die andere einfach von einer Arbeit, von der sie und ihre Tochter leben können. Mehrere Jahre jobbte Dörte Riem im Callcenter. Viel Geld verdiente sie dort nie, musste immer aufstocken. Jetzt ist sie alleinerziehend - ein neuer Job muss her.
"Als ich alleinstehend war, noch kein Kind hatte, da war das alles o.k. Aber mit ihr jetzt geht das nicht. Man verdient auch mit 40 Stunden kein Geld in der Call-Center-Branche. Das ist ja so wenig Geld, was man da kriegt."
900 Euro netto, allein 700 gingen für die Miete weg, erzählt die 44-Jährige.
Um genügend Geld zu verdienen und trotzdem noch Zeit für ihre Tochter zu haben, will Dörte Riem neu anfangen: Sie hat eine Trainerausbildung gemacht und will in die Erwachsenenbildung wechseln. Wenn auch nicht gleich in Vollzeit.

40 Stunden auf Mini-Job-Basis

"Ich fang jetzt im September an zu arbeiten. 40 Stunden im Monat – auf Mini-Job-Basis. Und dann werde ich im Oktober auch anfangen zu studieren – über die Fern-Uni. Das ist in Teilzeit. Dauert dann ein bisschen. Irgendwann hab‘ ich’s vielleicht. Und das, glaub‘ ich, krieg ich schon hin. Aber wenn‘s dann richtig ans Arbeiten geht, so 30, 35, 40 Stunden, wird’s dann schwierig."
Denn auch in Potsdam schließen die meisten Kindergärten nachmittags um 16 oder 17 Uhr – auch wenn dann die Kurse in der Erwachsenenbildung noch laufen oder gerade erst beginnen.
"Es muss mehr Möglichkeiten geben, das Kind ganztags betreuen zu lassen. Also Ganztagsschulen – das wird ja im nächsten Jahr interessant für mich -, aber auch Kindergärten müssen viel mehr ganztags da sein."
Zweimal die Woche vier bis fünf Stunden - Simone Kramer in Düsseldorf ist mit ihrem Minijob in der Küche ganz zufrieden. Allerdings liegt das auch daran, dass die 48-Jährige noch ein Haupteinkommen hat – als Hausmeisterin.

Meist sind es Frauen

"Mir gefällt's hier richtig gut. Vier, fünf Stunden bin ich als Küchenhilfe angestellt an den Schulen bei der Mittagsausgabe und als Spülkraft. Sonst wäre eben zweite Lohnsteuerkarte, da hätte ich Lohnsteuerklasse sechs dann, ne … dann habe ich noch mehr Abzüge, also 450 ist schon ganz gut."
Doch warum der Stress, warum zwei Jobs? Weil der eine nicht reicht – schon gar nicht, um fürs Alter vorzusorgen, sagt Simone Kramer.
"Ja, dass ich mit den anderen Arbeitskollegen zusammen arbeite, dass ich viel unter Leute komme, Mitte des Monats mehr Geld auf dem Konto habe, dass ich mir was leisten kann, Urlaub oder einkaufen gehen, besser einkaufen gehen, schöne Sachen kaufen."
Simone Kramers Chefin Birgit Malzahn nickt verständnisvoll. Die meisten Bewerber, die sich bei ihr in der Düsseldorfer Dienstleistungsagentur Casablanca melden, möchten einen Minijob und keine Teilzeitstelle. Meist sind es Frauen.
"Ein Minijobber, eine Minijobberin arbeitet unter 15 Wochenstunden, bekommt den gleichen Lohn, den gleichen Urlaub, hat den gleichen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wie alle anderen sozialversicherungspflichtigen Mitarbeiter auch."

Die Rente reicht nicht

Egal ob im Hauptberuf Hotelfachfrau oder Einzelhandelskaufmann, ob Geld für Strom und Miete oder für Reisen: Für viele der 7,6 Millionen Minijobber in Deutschland ist der Zweitjob notwendig und attraktiv zugleich: Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind über 80 Prozent von ihnen mit ihrer Arbeitszeit zufrieden und wollen gar nicht aufstocken. Auch Regina Blechschmidt wirkt zufrieden, lächelt viel. Die 64-Jährige putzt als Minijobberin in Privathaushalten. Dabei ist sie eigentlich schon seit einem Jahr in Frührente.
"Da fällt ihnen die Decke auf den Kopf. Und so ist man unter Leuten. Wenn ich früh auf Arbeit komme, das ist wie eine Familie, wenn ich da rein komme. Wir verstehen uns einwandfrei. Es macht Spaß, das Leben jetzt."
Trotzdem putzt Regina Blechschmidt nicht nur zum Spaß. Die Rente reicht nicht, sie war lange arbeitslos – Grundsicherung hieße die Alternative.
"Was sind schon 660 Euro Rente? Ich muss ja dazu verdienen. Wenn ich hier nicht arbeiten hätte dürfen, hätte ich müssen zum Sozialamt gehen…"

Unterbezahlt

Auch Patricia Teiche würde ein Minijob helfen – andererseits möchte die 20-jährige Berlinerin erstmal ihre Friseurlehre beenden. 315 Euro verdient sie im zweiten Lehrjahr – für eine eigene Wohnung reicht das nicht.
"Ich wohn‘ bei meiner Mama zu Hause mit meinem Freund zusammen. Mein Freund arbeitet. Der kauft alles ein, füllt den Kühlschrank. Ich muss noch meine eigenen Rechnungen zahlen. Und da ist dann auch schon wieder das ganze Geld hin."
Wer Friseur oder Friseurin werden will, der muss genügsam sein: 265 Euro zahlen Berliner Chefs im ersten Lehrjahr; künftige Verkäufer im Einzelhandel oder Dachdecker bekommen von Beginn an über 600 Euro. Die Friseurinnung verweist darauf, dass die Friseurausbildung sehr betreuungsintensiv sei und der Neuling während der Lehre noch keine Kunden allein bedienen könne. Patricia Teiche fühlt sich trotzdem unterbezahlt – da ist auch das Trinkgeld der Kunden kein Trost.

Ein Tag, 1,50 Euro Trinkgeld

"Ich bin die letzten Tage mit 1,50 Euro nach Hause gegangen. Vorgestern war mal ein guter Tag. Da hab‘ ich von einer Kundin 5 Euro bekommen, weil ich sehr viel an ihr gemacht habe. Also wir kriegen nicht viel Trinkgeld. Ich hab‘ auch schon überlegt aufzuhören. Aber meine Leidenschaft hat mich doch dazu gebracht weiterzumachen. Jetzt muss ich eben BAB beantragen – diese Ausbildungsbeihilfe. Aber es ist traurig, weil man sich natürlich im Hinterkopf denkt: Toll, vom Staat werde ich finanziert. Aber man will ja eigenständig in der Welt sein. Auch sagen können: Hey, ich kann von meinem Geld leben. Aber es geht leider nicht mit dieser Vergütung."
Auch Dörte Riem in Potsdam würde ihrer Tochter und ihren Freunden gern sagen, dass sie von ihrer Arbeit leben kann. In Callcentern sei das jedenfalls kaum möglich, sagt sie – es müsse sich grundsätzlich etwas ändern.

"Die Löhne müssen steigen"

"Den größten Knackpunkt sehe ich in den Löhnen. Dass für Menschen, die keinen Hochschulabschluss haben oder halt auch in Call-Centern arbeiten – dass die einfach mehr Geld kriegen. Mindestlohn ist ein Witz in meinen Augen. Der muss viel höher sein. Die Löhne müssen steigen, dass die Lebenshaltungskosten nicht mehr so raufhauen. Es gibt ja Familien, die arbeiten beide komplett, und trotzdem sind sie kurz über dem Hartz-IV-Niveau. Das kann’s ja auch irgendwie nicht sein."
Dörte Riem will sich auf all das nicht mehr einlassen. Sie hofft jetzt, dass sich ihre Qualifizierung gelohnt hat – und dass es klappt mit der Vollzeitstelle in der Erwachsenenbildung. Mit einer Stelle, bei der auch noch Zeit für ihre Tochter bleibt.
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