Preis der Leipziger Buchmesse

    "Die scharfen Auseinandersetzungen stehen uns noch bevor"

    Leipziger Buchmesse
    Es bleibt spannend um den Buchpreis: Es gäbe noch keinen Favoriten, sagt Müller. © AFP / Robert Michael
    Burkhard Müller im Gespräch mit Sven Crefeld  · 23.03.2017
    Der Preis der Leipziger Buchmesse gilt als einer der renommiertesten Auszeichnungen im Literaturbetrieb. Er wird in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung verliehen. Burkhard Müller ist Juror für den Übersetzungspreis und verrät, wie die Jury ihre Entscheidung trifft.
    Deutschlandradio Kultur: Warum ist es so wichtig, dass auf der Leipziger Buchmesse auch die Übersetzer gefeiert und geehrt werden?
    Burkhard Müller: Erstens, weil auf diese Weise nicht nur die deutsche Literatur in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern auch die ausländische. Und dann, weil natürlich immer vergessen wird, dass das, was wir an ausländischer Literatur haben, uns nicht auf direktem Weg erreicht, sondern immer durch die Hand der Übersetzer geht. Wir lesen nicht das Werk der Autoren, wir lesen das Werk der Übersetzer, und da bleibt wirklich kein Stein auf dem anderen. Eine gute oder schlechte Übersetzung entscheidet über das Schicksal des Werks.
    Deutschlandradio Kultur: Wie ist die Jury zu der Shortlist von fünf Büchern gekommen?
    Burkhard Müller: Es wurden ungefähr 120 Vorschläge eingereicht. Die Verlage schlagen vor, denn es ist ja ein Preis des Börsenvereins. Die Jury ist zu siebt, wir müssen uns diesen großen Berg ein bisschen einteilen. Meine Kollegin Maike Albath und ich haben die Übersetzungen gesichtet: Was kommt überhaupt nicht in Frage, was kommt vielleicht in Frage, und das haben wir unseren Kollegen unterbreitet. Die Auswahl der fünf, auf die wir uns geeinigt haben, war nicht ganz leicht. Zum Beispiel sind dieses Jahr die zwei großen klassischen Romane der chinesischen Literatur überhaupt das erste Mal komplett auf Deutsch erschienen. Es ist klar, dass wir davon nur einen nehmen können.
    Deutschlandradio Kultur: Wieso, gibt es einen Proporz?
    Burkhard Müller: Das nicht, aber der Preis sollte doch eine gewisse Vielfalt der Weltliteratur spiegeln.
    Deutschlandradio Kultur: Die ist erreicht, fünf große Sprachen sind vertreten.
    Burkhard Müller: Das Chinesische ist eine große und kleine Sprache zugleich. Groß, weil viele Leute das sprechen und China wichtig ist, aber klein, weil uns doch sehr wenig aus dieser Weltgegend im deutschen Buchhandel erreicht. Es schien uns jedenfalls nicht verkehrt, dass das bekannteste und berühmteste Buch der chinesischen Literatur überhaupt auf Deutsch greifbar ist. Ein Werk mit weit über tausend Seiten, noch dazu ein altes Chinesisch, die erste Druckausgabe ist ungefähr 400 Jahre alt. Da ist sehr viel, was uns fremd ist. Nicht ohne Grund haben bisherige Verlage und Übersetzer davon die Finger gelassen. Jetzt hat es jemand gewagt. Das sollte man durch die Nominierung schon honorieren.

    Differenz von Zeit und Raum in der Übersetzung auflösen

    Deutschlandradio Kultur: Das Englische oder Französische ist sicher geläufig, aber können die sieben Juroren denn Chinesisch oder verstehen sie genügend Russisch? Auf welcher Grundlage wird beurteilt, ob eine Übersetzung gelungen ist?
    Burkhard Müller: Von uns kann keiner Chinesisch. Wir haben daher ein Gutachten angefordert, weil wir uns etwas auf hoher See gefühlt haben. Wir haben das Gutachten sehr sorgfältig geprüft; weniger ob es Recht oder Unrecht hat, sondern welche Kriterien es anlegt und ob uns die auch wichtig vorkommen: Scheint uns das stichhaltig oder ein wenig pedantisch? Wir sind also keine Sklaven des Gutachtens gewesen. Bei den anderen Sprachen gibt es immer mindestens einen, der wenigstens ein bisschen davon kann. Es ist natürlich wichtig, dass eine Übersetzung originalgetreu ist und dem Original nicht in Gesicht schlägt. Aber vor allem ist wichtig, dass ein gut lesbares deutsches Buch herauskommt. Man muss schauen, ob es als deutsches Buch funktioniert.
    Irgendwelche Übersetzungsfehler kriegen wir auf diese Weise natürlich nicht ins Visier, aber das ist nicht das Entscheidende – sondern, ob die Differenz von Zeit und Raum so gelöst worden ist, dass man sagen kann, dieses Buch kann man heute lesen. Es ist ja ein Preis des Buchhandels, das heißt: Der Leser steht im Blick. Hat man eine Sprache wie Chinesisch, dann gibt es die philologischen Übersetzungen, die aber im Deutschen offenbar so gut wie überhaupt nicht lesbar sind. Demgegenüber dann doch der Versuch, dem Leser ein Stück China in die Hand zu drücken.
    Deutschlandradio Kultur: Aber was hebt eine der fünf nominierten Übersetzungen noch heraus gegenüber anderen großen Leistungen? Wie will man das vergleichen?
    Burkhard Müller: Ich denke – womit ich aber keine völlige Einigkeit in der Jury erzielt habe – dass jemand einen Pluspunkt kriegt, je nachdem welche Differenzen, welche Distanzen er überbrückt. Wir haben hier zwei Übersetzungen, den Cervantes und die chinesische "Reise", die beide jeweils über 400 Jahre alt sind, die es schaffen, zugleich den zeitlichen Abstand zu wahren und lesbar zu sein. Die vollbringen meiner Meinung nach eine größere Leistung als meinetwegen die Übersetzung eines Gegenwartsromans aus dem Englischen. Das Englische ist uns sehr nahe von der eigenen Erfahrung, und die Gegenwart teilen wir. Der Platonow ist irgendwo in der Mitte, der ist 80, 90 Jahre alt, das ist noch die Zeitgeschichte, wenn auch in einer historisch besonderen Situation. Aber der Cervantes, das ist natürlich eine fremde Welt. Und noch fremder ist "Die Reise in den Westen", von dem wir nicht mal den Autor kennen. "Kompass" von Mathias Enard und "Shark" von Will Self sind mittelstarke Gegenwartsromane, hier ist die Distanz nicht so groß, und "Die Baugrube" ist ein relativ schmaler Roman.
    Deutschlandradio Kultur: Indirekt werden mit dem Übersetzer-Preis auch jene Verlage belohnt, die den Mut haben, ein Buch wie den Sieger von 2016 "Die Tutoren" übersetzen zu lassen und zu publizieren. Denn es steckt so viel Arbeit und Geld dahinter, bei ungewissem Verkaufserfolg!
    Burkhard Müller: Das rechnet sich für einen Verlag vermutlich nicht, ein Buch wie "Die Tutoren" zu machen. Es waren, glaube ich, alle glücklich, dass Bora Cosic beziehungsweise seine Übersetzerin Brigitte Döbert den Preis bekommen hat. Damit ist das Hauptwerk der serbischen Literatur überhaupt auf Deutsch verfügbar. Das Ding hat einen äußerst eigenen Sound, der in der Übersetzung gut rüberkam. Dieses Buch ist jetzt da. Es war eine außerordentliche Leistung, dieses Stück Weltliteratur verfügbar zu machen, auch wenn es wahrscheinlich kein kommerzieller Erfolg ist. 2016 war die Entscheidung der Jury ziemlich einstimmig, und selbst einige der anderen Kandidaten waren damit einverstanden, dass "Die Tutoren" und nicht sie selbst den Preis bekommen haben.

    Das Preisgeld ist ein "Ehrensold"

    Deutschlandradio Kultur: Gibt es dieses Mal wieder eine absehbare Tendenz?
    Burkhard Müller: Es hat natürlich jeder seinen Favoriten, aber es steht nichts auf der Shortlist, wo einer oder zwei Juroren dagegen gewesen wären. Aber es sind auch nicht alle von jedem Buch gleichermaßen begeistert. Die wirklichen scharfen Auseinandersetzungen stehen uns noch bevor. Ich versuche, mich nicht zu sehr festzulegen und auf die Vorschläge der Kollegen einzugehen. Ich weiß wirklich nicht, welches der fünf Bücher am Ende den Preis bekommt.
    Deutschlandradio Kultur: Am Donnerstag lesen alle 15 Kandidaten – Belletristik, Sachbuch, Übersetzung – in Leipzig zwischen 11 und 14 Uhr aus ihren Werken. Ist das schon die Zeit, in der die Jury über die Preisvergabe entscheidet?
    Burkhard Müller: Erst danach. Wir moderieren ja auf der Messe die Auftritte dieser Leute. Wir tagen zwei Mal, am Mittwoch und am Donnerstag. Um 16 Uhr haben wir bestimmt, wer die drei Preisträger sind. Die Jurysprecherin Kristina Maidt-Zinke weiß dann, wer gewonnen hat, und verkündet die Sieger. Sie muss daher auch keinen Umschlag mit den Namen bekommen, es kann kein Lapsus wie bei den Oscars passieren.
    Deutschlandradio Kultur: Insgesamt 20.000 Euro werden an die fünf Nominierten vergeben. Muss man sarkastisch sagen, dass erst mit dem Preisgeld ein faires Honorar für einen Übersetzer solch anspruchsvoller Literatur hergestellt ist?
    Burkhard Müller: Auch das Leipziger Preisgeld ist letztlich nur ein "Ehrensold", nichts anderes heißt ja Honorar. Die Lage der Übersetzer in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar deutlich verbessert. Sie werden jetzt immer genannt auf dem Schmutztitel vom Buch, bei Rezensionen. Es gibt jetzt bessere Verträge; die etwas würdelosen Zustände von früher gibt es nicht mehr. Dennoch, gerade die literarischen Übersetzer sind nicht völlig zufrieden mit ihrer Lage. Die typische Übersetzer-Biografie ist ein Gemischtwarenladen, in dem das Übersetzen nur einen kleinen Teil ausmacht. Vom Übersetzen können nur wenige leben. Da ist nämlich eine unheilvolle Dynamik drin: Wenn für einen Unterhaltungsroman 12 bis 15 Euro pro Seite bezahlt werden, dann ist das okay, so ein Ding kann man runterschrubben. Wer ein guter Übersetzer ist, kriegt die besseren Romane und auch etwas mehr Geld, sagen wir 20 oder 22 Euro pro Seite, muss aber vielleicht doppelt und drei Mal so lang daran arbeiten. Das ist eine verhängnisvolle Dynamik, die teilweise vom Übersetzerfonds ausgeglichen wird. Er vergibt jedes Jahr ungefähr 50 literarische Stipendien und versucht, genau diese Differenz auszugleichen. Aber da geht es nicht um große Beträge. Selten, dass einmal jemand 10.000 Euro kriegt. Ich weiß das, weil ich auch in dieser Jury sitze.
    Deutschlandradio Kultur: ... außerdem sind Sie noch ein sehr produktiver Literaturkritiker. Gibt es einen Tag im Jahr, an dem Sie kein Buch aufschlagen?
    Burkhard Müller: Da muss ich lange zurückdenken. Fällt mir momentan keiner ein.
    Deutschlandradio Kultur: Also kein Overkill zur Buchmesse?
    Burkhard Müller: Doch, absoluter Overkill. Gerade bei dem Preis der Leipziger Buchmesse wird man als Juror von den 350 Büchern erschlagen.

    Burkhard Müller ist Latinist, er lebt in Chemnitz, hat 2008 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik erhalten und den Preis "Übersetzerbarke" 2012.

    Überblick über alle Nominierten mit den Jury-Begründungen: Preis der Leipziger Buchmesse