Prävention in Bayern

Jugendarbeit wider den Islamismus

Ein Kugelschreiber zeigt auf einen Text, in dem die Worte "Jihad-Salafismus" zu lesen sind.
Ein Kugelschreiber zeigt auf einen Text, in dem die Worte "jihad-Salafismus" zu lesen sind. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Von Joseph Röhmel · 29.01.2015
Die Gefahr vor islamistischen Gewalttätern wächst - nicht zuletzt seit den Terroranschlägen von Paris. Wie können die kirchliche und staatliche Jugendarbeit in Bayern hier gegensteuern? Auf der Suche nach Lösungen bei Imamen und Pädagogen.
"Terror? Terror bringst du in die Gesellschaft, indem du Leute umbringst."
Ein mehrstöckiges Bürogebäude in Bayern: In einem kahlen Raum zieht sich Stefan F. eine schwarze Jacke über und setzt sich auf einen braunen Holzstuhl. Ich richte mein Smartphone auf ihn. Klick.
Für das Bild, das ich von ihm mache, lässt sich Stefan F. nur von hinten fotografieren. Er will verhindern, dass die Menschen in seiner Heimatstadt auf ihn zeigen - schau mal, da kommt der Terrorist. Denn das wollte Stefan F. vor einigen Monaten noch sein: ein Islamist, jemand, der im Auftrag Allahs tötet, der Terror nach Deutschland bringt. Er hatte ähnliche Ziele, wie die Terroristen von Paris:
"Das wären amerikanische oder deutsche Soldaten oder Agenten oder sonst was gewesen - einfach Leute, die dazu beitragen, dass Muslime auf der ganzen Welt sterben."
Heute schämt sich der 31-Jährige, der erst vor einigen Jahren zum Islam konvertiert ist, für seine Pläne. Er ist klein, trägt einen Vollbart, eine Glatze und Brille. Er hat rotgeränderte Augen, wirkt wie ein gehetzter Hund. Grund genug hat er: Schließlich ermittelt der Generalbundesanwalt gegen Stefan F. Der Vorwurf: Er soll versucht haben, in Deutschland eine islamistische Terrorzelle zu gründen. Er allein, behauptet Stefan F., wäre kaum in der Lage gewesen, einen Terroranschlag zu verüben. Er wollte vor allem jemand sein, der den Anschlag plant und andere rekrutiert. Er sah sich als die blitzgescheite Spinne im Netz - ein Mathematiker und IT-Spezialist:
"Mit meinen mathematischen Fähigkeiten wäre ich eigentlich nur in der Lage gewesen, ein Netzwerk aufzubauen, es so zu organisieren, dass nichts auffliegt. Das wäre ne wichtige Aufgabe gewesen
Stefan F. hat seine Spuren im Internet so verwischt, dass ihn kaum noch jemand finden kann. Das Unsichtbarmachen wollte er auch anderen Muslimen beibringen. Er bot deshalb Schulungen im Internet an. Schließlich fand er eine Frau im Netz - eine Frau, die vorgab, Germanistik zu studieren und viele Fragen zur Sicherheit im Internet hatte:
"Mich hat das total fasziniert, wie eine Frau, die Germanistik studiert, so intelligent und bewandert mit Computern sein kann. Ich hab ihr dann ein paar Sachen gezeigt, wie man anonym kommuniziert. Und dann sind diese ganzen Ideen entstanden, wie man denn ein Netzwerk aufbauen könnte - mit ihr zusammen."
In Wirklichkeit täuschte ihn in die Frau. Sie war keine Germanistik-Studentin, sondern arbeitete für den Bayerischen Verfassungsschutz. Er vertraute sich ihr an, sprach davon, einen Zweig der Al-Kaida in Deutschland gründen zu wollen. Und er plante auch einen Survival-Urlaub im Wald mit Kampfsporteinlagen. Irgendwann wollte er Märtyrer werden
"Für mich bedeutet des halt: Es ist schade, dass sowas heutzutage überhaupt passiert. Meiner Meinung nach ist es halt so, nur weil es Muslime getan haben, heißt es nicht, dass jeder andere Muslim so ist, wie diejenigen, die es verübt haben."
Kluge Präventionsarbeit über Kirchengrenzen hinweg
Das Haus Hochland in Kempten im Allgäu - ein Restaurant mit Veranstaltungsraum. Hier spricht der 17-jährige Ashhad über das Unfassbare - die blutigen islamistisch motivierten Terroranschläge von Paris.
Mann1: "Man muss die Öffentlichkeit aufklären, informieren. Einserseits betrifft das die eigenen Gemeindemitglieder. Denn es ist eine gefährliche Entwicklung. Zweitens muss man die Mehrheitsgesellschaft informieren. Denn die Mehrheitsgesellschaft hat in der Mehrheit Angst vor dem Islam bzw. kennt den Islam kaum. Daher kommen einige Vorurteile und Ängste."
Genau zur richtigen Zeit findet eine schon längst geplante Podiumsdiskussion statt. Das Thema: Was kann eine Stadt wie Kempten tun, um mit jungen Muslimen klar zu kommen, die sich radikalisieren. Vertreter der Stadt, der Polizei, evangelischer, katholischer Kirche und dem deutschen Ableger der "Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion", kurz DITIB, sitzen auf dem Podium:
Mann1: "Wir müssen eine kluge Präventionsarbeit entwickeln - ohne Zweifel. Das müssen wir zusammen tun."
Mann2: "Präventionsarbeit heißt, dass ich was mache, bevor etwas passiert. Wenn ich ne salafistische Szene hab, dann tue ich mich schwer, Präventionsarbeit zu leisten. Das muss im Vorfeld geschehen, dass ich einfach als Schüler, als Jugendlicher, als Heranwachsender informiert bin, um die Entstehungsgeschichten, um die Folgen, die auch auf mich im Leben zukommen können, jetzt gar nicht mal allein von strafrechtlicher Seite, sondern auch für mich persönlich, fürs Leben."
Abseits der Diskussion machen sich einige junge Muslime ihre Gedanken, suchen nach Strategien, damit sich Jugendliche erst gar nicht radikalisieren - die 26-jährige Pinar zum Beispiel, lange schwarze Haare, kritischer Blick. Der Islam sei friedlich, sagt sie:
"Das heißt, dass wir uns immer mehr informieren sollten, was eigentlich der Islam aussagt, weil der Islam sagt ja eigentlich mehr aus. Diese Terroranschläge machen uns bewusst, dass wir eigentlich lernen sollten, miteinander friedlich umzugehen."
Die Stadt Kempten im Allgäu hat ein Problem, das immer größer wird. Immer wieder driften junge Muslime ab, folgen der islamischen Strömung Salafismus. Das heißt, sie lehnen westliche Lebensweise grundlegend ab: Egal ob Instrumentalmusik, Disko oder kurze Röcke. Ihre Antwort heißt stattdessen: Radikalisierung und der Traum vom Heiligen Krieg, dem Dschihad.
So wie der Berufsschüler David G., der nach Syrien ging und sich der Terrormiliz Islamischer Staat anschloss. Anfang Januar 2014 geisterte dann ein Bild durch die Medien: David G. liegt tot und blutüberströmt auf dem Boden.
Ratlosigkeit macht sich breit. Die Stadt Kempten ist der Ort in Bayern, an dem eigentlich Strategien entwickelt werden müssen, wie mit radikalen Muslimen umgegangen werden soll. Bisher ist aber wenig passiert. Viele fragen sich: Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Kritik an den Moscheegemeinden von den Salafisten
Spurensuche in der Kemptener DITIB-Moschee. Es ist Samstag. An diesem Tag trifft sich die Moscheegemeinde regelmäßig - zum Beten …
… und Essen. Auf einer Terrasse brutzeln Hühnchen und Fleischspieße auf dem Grill.
Geschnittene Gurken und Zwiebeln liegen in großen, silbernen Schüsseln. In einer Wohnküche hängt ein schwarzer Flachbildfernseher - türkischer Fußball im türkischen Fernsehen. Durch die Moschee laufen Kinder, spielen fangen, kicken einen blauen Gummiball durch die Gegend. Eine familiäre Atmosphäre. Viele hier haben David G. und andere Salafisten gekannt, auch der Imam, ein Mann im roten Pullover, weißer Hose, grauen kurzen Haaren. Der Imam spricht nur Türkisch. Deshalb übersetzt Moschee-Vorstand Korhan Erdön:
"Zu seiner Anfangszeit hier in Kempten kann er sich erinnern, dass dieser David hin und wieder in die Moschee gekommen ist. Am Ramadan-Fest war er häufiger hier. Und er ist als Extremist gar nicht aufgefallen am Anfang. Die einzige Auffälligkeit war, dass er anders gebetet hat. Der Imam und die Leute hier wussten am Anfang nicht, dass er zu einer extremen Szene gehört."
Die Salafisten fielen zunehmend negativ auf. Sie kritisierten, dass die Moscheegemeinde an die Sunna glaubt, also die Überlieferungen des Propheten. Dabei sei ihrer Überzeugung nach der Koran die einzig wahre Quelle. Ihren Protest zeigten sie deutlich:
"Während die anderen im Gebetsraum dann die Sunnagebete gemacht haben, haben die angefangen, mit ihren iPhones zu spielen, haben laut gesprochen, haben sich in die Ecke gefläzt, haben sich wirklich auffällig verhalten. So haben sie demonstriert: Wir sind gegen die Sunna des Propheten und wir möchten eigentlich gar nicht, dass die Gemeinde hier das macht. Das war das eigentlich Störende auch.
In der Frage von David an den Imam ging es immer wieder um den Dschihad. Er wollte verstehen, was der Dschihad ist sozusagen. Und da hat man gemerkt, dass eine falsche Auffassung vorherrscht. In einem Krieg in Syrien zu fallen, hat unser Imam gesagt, das ist kein Dschihad. Um in den Krieg zu ziehen, müssen ganz viele Voraussetzungen erfüllt sein: Wir müssen mit unserem Leben hier bedroht sein. Wir müssen hier mit unserem Eigentum bedroht sein. Aber, das ist ja hier laut deutschen Grundgesetz und Verfassung nicht der Fall. Wir dürfen hier frei leben und keiner greift uns an."
Mehr als 570 Salafisten leben in Bayern. 50 davon sind nach Syrien oder in den Irak ausgereist. Und es wird befürchtet, dass die Zahlen weiter steigen. Es gibt einfach niemanden, der die Sprache radikaler Muslime spricht - weder Lehrer in der Schule, noch die Imame in den Moscheegemeinden, beklagt Harry Harun Behr, Professor für islamische Religionslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg:
"Es gibt generell unter jungen Menschen in der heutigen Zeit eine große spirituelle und theologische Neugier auf Fragen der Philosophie, des Lebens, der Religion, bis hin zur Frage nach Gott. Dummerweise versagen unsere gesellschaftlichen Institutionen. Sie finden in dieser Hinsicht keine Antworten."
Auch der potentielle Terrorist Stefan F. hat als Jugendlicher lange nach Antworten gesucht - quer durch alle Religionen.
"Ich hab einen langen Weg hinter mir in dem Sinne, dass ich damals evangelischer Christ war. Ich hab an Kindergottesdiensten und Jugendgruppen teilgenommen. Irgendwann war ich dann auch mal bei den Jesus Freaks, die diese krasse Anbetung von Jesus praktiziert haben - ganz ungefährliche Leute. Dann hat sich das so weiterentwickelt, dass ich essentielle Fragen gestellt habe: Hat Gott es überhaupt nötig auf die Welt zu kommen, sich selbst quälen zu lassen in Form eines Menschen, um den Menschen zu befreien. Das ergab für mich keinen Sinn."
Zehn junge Muslime radikalisierten sich im Kempten
Dann starb seine Mutter an Leukämie. Stefan F. zog sich zurück. Er war allein. In dieser Phase traf er Muslime. Und auch einige Salafisten waren unter ihnen. Stefan F. konvertierte zum Islam, besuchte regelmäßig die salafistische Moschee in seiner bayerischen Heimatstadt:
"Ich war überglücklich, wurde dann super lieb aufgenommen. Ich hatte dann auf einmal viele neue Kontakte. Mein Leben hat auch wieder Sinn gemacht. Vorher war ich eher allein. Jetzt hatte ich wieder ganz viele Freunde. Einige von denen haben dann stärker praktiziert. Dann habe ich auch viele Bücher geschenkt bekommen: Wie betet man, was muss man glauben oder praktizieren?"
Stefan F. studierte den Koran, diskutierte mit seinen Brüdern und Schwestern - auch über den Dschihad:
"Die haben laut meinen Ergebnissen das Verständnis vom Dschihad gehabt, dass damit tatsächlich auch die Kriegsführung gegen die Feinde des Islam gemeint ist, also nicht Andersgläubige oder Ungläubige sondern Staaten, Vereinigungen, Nationen, die dagegen vorgehen."
Im Jahr 2013 war Stefan F. dann so weit, er wollte zur Waffe greifen. Er kaufte sich ein Flugticket, um über Gambia nach Nigeria zu fliegen. Dort wollte er sich der Terrororganisation Boko Haram anschließen. Allerdings bekamen die Behörden Wind von seinen Plänen, entzogen ihm den Reisepass.
"Wir wissen, dass das Leute sind, die sehr labil sind, die sich aufgrund von privaten oder schulischen Problemen gerade sich in einer sehr labilen Phase befinden. Dort werden diese Jugendlichen aufgegriffen und in einen anderen Realitätstunnel hineingeschickt. Und genau das ist der Punkt, wo man ansetzen muss. Wie werden diese Kinder in diesen neuen Realitätstunnel hineingeschickt? Durch Fehlinformation. Fehlinformationen können wir gegenwirken, indem wir richtig informieren."
Sagt Korhan Erdön, Vorstand der DITIB-Moscheegemeinde Kempten. Er macht sich große Sorgen: Nachweislich behaupten mehrere Quellen vor Ort, dass sich zehn junge Muslime in Kempten radikalisiert haben. Es dürfen auf keinen Fall mehr werden. Darum will die Moscheegemeinde präventiv arbeiten, handeln, bevor es zu spät wird. Der Imam trifft sich jetzt einmal pro Woche mit Jugendlichen. Auch das ein kleiner Schritt, um gegen die Ratlosigkeit anzukämpfen.
Der Gebetsraum der Moschee: An der Decke hängt ein silbern glänzender Leuchter, auf einem roten Teppich mit grünen Mustern hocken eine Handvoll Jugendliche im Schneidersitz. Vor ihnen der Imam, die weiße Gebetskappe auf dem Kopf. Er will an sie ran, mit ihnen sprechen - über ihre Ängste und Glaubensfragen:
Das Gespräch, das der Imam mit den Jugendlichen führen möchte, ist allerdings ein Monolog. Nur wenige hören ihm zu, die anderen spielen gelangweilt mit ihren Smartphones oder verlassen den Raum nach kurzer Zeit. Eine ganze Gemeinde sucht verzweifelt nach dem richtigen Konzept, begleitet von der Angst, dass sich noch mehr Jugendliche radikalisieren. Vor allem nach den Anschlägen von Paris sind die Befürchtungen nicht kleiner geworden. Da beunruhigen solche Geschichten wie diese: Ein junger Mann engagiert sich stark in der Gemeinde, arbeitet für den Imam als Chauffeur - und ist dann plötzlich verschwunden. Einige Monate später trifft ihn der Imam im Einkaufszentrum. - Korhan Erdön übersetzt:
"Er hat gesagt, wie geht es dir. Und dann sagt der Junge: Mit so einem Menschen, wie dir will ich nichts zu tun haben als Antwort auf den Gruß. Das zeigt, in welcher kurzen Zeit die Erfolg haben mit ihrer Gehirnwäsche. Das kann von heute auf morgen passieren, dass ein junger Mann in die Szene abdriftet."
Abgedriftet, weg von der Gemeinde. Da wirkt es wie ein verzweifelter Hilferuf, wenn der Vorstand sagt:
"Man kann nicht die Moslemgemeinden alleine lassen und sagen: Das gehört zu euch das Problem, weil die sich Moslems nennen. Da müssen sozialpädagogische Einrichtungen, die Sicherheitsbehörden und alle zusammenarbeiten. Wir müssen einen gemeinsamen Konsens finden und Konzepte entwickeln. Und danach natürlich auch jeder seine Aufgabe übernehmen und konsequent verfolgen."
Freistaat hielt sich lange aus Präventionsarbeit heraus
Umso mehr hat sich Korhan Erdön einen Impuls von der Podiumsdiskussion erhofft.
"Wir haben jetzt am Anschluss der Veranstaltung von Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche Angebote bekommen, wenn wir Jugendarbeit machen, dass wir diese Kirchen auch anfragen sollen. Wir können mit ihnen kooperieren, gemeinsame Projekte machen, und dass diese Kirchen uns auch in unserer Jugendarbeit unterstützen. Das finde ich ganz toll. Das ist schon einmal ein ganz wichtiges Ergebnis dieser Veranstaltung. Das hätten wir uns vorher nie erträumen können, solche Aussagen."
Aber: Das ist eben nur ein erster kleiner Schritt. Ansonsten wird eine Moscheegemeinde, eine ganze Stadt allein gelassen mit einem Problem, um das sich eigentlich der Freistaat kümmern müsste. Erst vor dem Hintergrund der Pariser Anschläge hat Innenminister Joachim Herrmann ein Präventionsnetzwerk versprochen. In Nordrhein-Westfalen, Hessen oder Niedersachsen ist das längst Fall. Hier gibt es Aussteigerprogramme, Beratungsstellen kümmern sich vor Ort um Eltern, deren Kinder nach Syrien gegangen sind. All das geschieht in enger Kooperation mit dem jeweiligen Innenministerium. Bayern müsste sich daran orientieren, betont Professor Harry Harun Behr von der Universität Erlangen-Nürnberg:
"Weil wir es mit diesen Prozessen der politischen Instrumentalisierung des Islams mit einem globalen Phänomen zu tun haben und mit Netzwerken, die sich nicht um Landesgrenzen oder um die Deutungshoheit eines Bundeslandes scheren. Das geht über das Internet, das geht über informelle Netzwerke. Es geht über Gruppen-Dynamiken. Das macht nicht vor Landesgrenzen halt. Deswegen ist jeder einzelne, der in diese Szene hineinrutscht, schon zu viel."
Fraglich ist auch, welche Rolle die Schulen und vor allem die Berufsschulen spielen - Orte, an denen immer wieder auch salafistische Jugendliche und Lehrer aufeinanderprallen. Vor allem islamische Religionslehrer machen diese Erfahrung, sagt Harry Harun Behr:
"Lehrkräfte berichten, dass sie es mit jugendlichen Muslimen zu tun haben, die aus der letzten Bank heraus das Gegenkalifat ausrufen und die Lehrkraft in ihrer personalen und religiösen Autorität und Kompetenz rundheraus in Frage stellen. Sie sagen, du bist ein Soft-Muslim. Wir sind die richtigen Muslime. Du kannst uns nichts sagen. Und dann stehen die oft da mit ihrem kurzen Hemd und wissen gar nicht, wie sie reagieren. Die müssen erstmal mit dem Autoritätsverlust umgehen, bevor sich fachlich und sachlich darauf reagieren können."
Der Professor macht sich dafür stark, dass an Schulen islamische Religionslehrer eingesetzt werden. Und er fordert, dass Dozenten an den Universitäten das Thema Salafismus aufgreifen, didaktisches Handwerkszeug liefern. Er selbst gibt werdenden Religionslehrern den Ratschlag:
"Mit Gelassenheit, mit Klugheit, mit Schlagfertigkeit, dass eine Lehrkraft sagt: Ich stehe hier nicht nur als muslimische Lehrkraft. Ich stehe hier als Muslimin, als muslimischer Mensch. Dann kommt es zu einem Diskurs - Angesicht zu Angesicht. Man muss dazu sagen, dass der schulische Religionsunterricht auf der Grundlage der deutschen Verfassung Artikel 7.3 des Grundgesetzes das ja gestattet. Das ist anders, als die übliche weltanschauliche Zurückhaltung in Deutsch oder im Geschichtsunterricht ist der Der Religionsunterricht auf diesen Diskurs hin angelegt. Es muss nur gemacht werden."
Das Jugendzentrum Kempten, im Ortsteil St. Mang. Die Wand im Eingangsbereich ist schwarz-violett gestrichen. Einige Jugendliche spielen Kicker, andere tanzen im Diskoraum oder hängen auf einem schwarzen Sofa ab. Manche kennen den ein oder anderen Salafisten in Kempten. Allerdings sind das eher lose Kontakte - wie sie sagen. Sie sind im gleichen Viertel aufgewachsen, in denselben Kindergarten und in die Schule gegangen. Wie dieser junge Mann: Ungefähr Anfang 20, weiße Jacke, Dreitagebart, austrainierter Körper.
"Man hat ja immer seine Freunde, wenn man miteinander aufgewachsen ist, jeder verändert sich. Das ist ja ganz normal. Der eine geht in die Richtung, der andere mehr in die Richtung. Diese Leute, die als Salafisten abgestempelt werden, das waren schon immer die Leute, wo natürlich nie zu einer Gruppe dazugehört haben. Dann kommen die einfach in ihre eigene Welt sozusagen rein. So kommt es dann einfach, dass sie ihre eigene Gruppe bilden. Dann werden sie als Salafisten abgestempelt, machen ein paar kleine Fehler. Die werden natürlich ganz hochgepuscht."
Pädagogin findet Zugang zu haltlosen Jugendlichen
Im Jugendzentrum schwärmen alle von Marina Wanner, einer Frau, Mitte 30. Sie leitet das Jugendzentrum. Änis zum Beispiel findet Marina toll - ein türkischer Junge, die schwarzen Haare sauber zur Seite gescheitelt, Oberlippenbart, schwarzer Pullover:
"Ich bin hier aufgewachsen in der Gegend überhaupt. Und ich kannte schon damals Marina so vom Sehen her. Ich bin hier circa vor nem Monat weggezogen hier - also schon noch in Kempten, aber anderer Stadtteil. Marina war für jeden hier eine Ersatzmama. Marina hat, glaube ich, mehr Wissen, wie manche Moslems hier drin. Da denke ich, dass man schon darüber reden kann."
Marina Wanner wirkt zierlich, hat dunkelblonde Haare, lächelt freundlich - eine Frau, die sich schon seit langem für den Islam interessiert. Seit zwei Jahren studiert sie sogar Islamwissenschaften. Das ist sinnvoll für ihre tägliche Arbeit. Denn viele muslimische Jugendliche besuchen das Jugendzentrum in Kempten und suchen Kontakt zu ihr. Auch jene, die Salafismus verlockend finden:
"Ja, es gibt schon Jugendliche, die zwischenzeitlich versucht haben, mit dieser Rolle zu spielen, einfach mal zu kucken passt mir diese Rolle. Des nehme ich Pädagogin ein Stück weit ernst, aber auch nicht zu ernst. Ich denke, Jugendliche probieren aus. Das darf man als Jugendlicher. Man darf mal besoffen draußen rumrennen und eine Laterne mit einer Flasche abschießen. Und ich darf auch mal ausprobieren, wie es ist, ein Nazi oder Islamist zu sein. Das darf ich auch mal gedanklich durchspielen. Ich darf auch mal kurz in einer Diskussion austesten und schauen, wie weit komme ich damit. Das gehört zum Rollenfinden dazu."
Auch Marina Wanner kennt den ein oder anderen, der in die radikale muslimische Szene abgedriftet ist. Sie nimmt die Ängste und Sorgen der muslimischen Jugendlichen ernst. Dass dieses Phänomen um sich greifen und wie eine Seuche verbreiten könnte, befürchtet sie aber nicht:
"Wenn Kollegen mich auch aus anderen Städten ansprechen: Wie machst du das? Wie kommst du an die Jugendlichen ran? Da sag ich, dass sie einfach fragen sollen. 'Hey, betest du? Beten deine Eltern daheim? Geht ihr die Moschee? In welche Moschee geht ihr?' Das sind einfach ganz lockere Fragen, die man deutsche Jugendliche genauso fragen könnte oder würde. Jeder redet über Weihnachten, keiner redet über Ramadan. Man kann sich selber schon ein Stück helfen, indem man dieses Tabu für sich selbst aufbricht. Wenn man das einmal verstanden hat, kommt man im pädagogischen Bereich zu Handlungskonzepten, die total greifen."
Immer im Blick hat sie auch das Internet: Salafistische Prediger nutzen das Netz, fluchen dort auf den Westen, finden Anhänger und verführen sie zum Krieg.
Für viele junge Muslime sei das nur schwer zu durchschauen, sagt die Pädagogin:
"Gerade auf Facebook laufen natürlich teilweise auch Propaganda-Videos, die der ein oder anderen Gruppe zuzuordnen sind. Das schauen die Jugendlichen sich an und sind zunächst schockiert. Sie fragen, was passiert da, warum schneidet der dem den Kopf ab oder warum macht Israel des mit den Palästinensern. Das sind eigentlich oft politische Gründe, warum die Jugendlichen auf mich zugekommen sind. Sie haben irgendwas im Internet gesehen, was sie nicht verarbeiten konnten oder nicht einordnen konnten. Und da im Zusammenhang kam dann immer wieder die Frage nach dem Warum. Wo steht das, dass ich das machen muss."
Marina Wanner beruhigt dann die Jugendlichen, sagt ihnen, dass sie das nicht machen müssen. - Und sie will, dass Kollegen von ihrem Studium der Islamwissenschaften profitieren. Deshalb bietet sie Schulungen für Mitarbeiter des Stadtjugendrings in Kempten an. Sie erklärt ihnen dann Grundbegriffe des Salafismus oder woran man erkennt, wann sich ein Jugendlicher radikalisiert. Wissen, das notwendig ist, damit sich Ereignisse, wie die von Paris, in Deutschland nicht wiederholen.
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