Präsident des Umweltbundesamtes: Atomausstieg macht Strom nicht teurer

Jochen Flasbarth im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 30.04.2011
Der schnellere Abschied von der Kernenergie werde weder die Strompreise in die Höhe treiben, noch das Erreichen der deutschen Klimaziele gefährden, sagt Umweltbundesamt-Präsident Jochen Flasbarth.
Deutschlandradio Kultur: Es ist eine Woche, die das Dauerthema dieser Tage wieder neu beleuchtet hat. 100.000 Menschen sind es, die die Ostermärsche – auch und gerade gegen die Atomkraft – neu belebt haben – und dann auch der Jahrestag einer Katastrophe, 25 Jahre Tschernobyl, der Gau, der lange Zeit alleine stand als Fanal, lange, bis zum 11. März, bis Fukushima. Seitdem wollen alle raus aus der Atomkraft in unserem Lande, so schnell wie möglich.

Doch wie schnell ist schnell und welchen Preis müssen wir dafür zahlen? Und welchen Preis zahlt die Umwelt, wenn wir zum Beispiel aus der Kernkraft aus, dafür aber wieder stärker in die Kohlekraft einsteigen wollen? – Fragen, die wir in der nächsten halben Stunde klären wollen in unserem Interview am Samstag. Am Mikrophon begrüßt Sie Korbinian Frenzel.

Und kaum einer wird diese Frage besser beantworten können als mein Gesprächspartner Jochen Flasbarth, der Präsident des Umweltbundesamtes, der Behörde also, die die Bundesregierung in allen wichtigen Umweltfragen berät. Schönen guten Tag, Herr Flasbarth.

Jochen Flasbarth: Ja, schönen guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Das Bundesumweltamt hat sich ja bereits geäußert, hat eine konkrete Zahl genannt, die möglich ist – 2017. Bis dahin könnte man nach Ihren Berechnungen aus der deutschen Atomkraft aussteigen. Ist das nicht zu ambitioniert?

Jochen Flasbarth: Wir haben genau angesehen, welche Kapazitäten wir derzeit haben. Welche Kraftwerkskapazitäten haben wir derzeit in Deutschland? Welche Kraftwerkskapazitäten sind derzeit im Bau? Das sind Kohle- und Gaskraftwerke. Und was würde es bedeuten, wenn wir schrittweise über die Kraftwerke, die im Augenblick im Moratorium sind, weitere Atomkraftwerke ausschalten würden. Dann sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass man frühestens 2017 ganz aussteigen kann.

Das würde bedeuten, dass man noch etwas an Zubedarf im Bereich der Gaskraftwerke hat, vor allem in Süddeutschland, weil Süddeutschland im Augenblick sehr von der Atomkraft abhängig ist und wir da natürlich auch immer die Netze mit im Blick haben müssen. Das würde bis 2017 von den Planungs- und Bautätigkeiten her gut zu bewältigen sein. Wenn man es früher machen wollte, würde man Risiken eingehen, die wir nicht empfehlen einzugehen. Deshalb sagen wir: frühestens 2017. "Frühestens" betone ich deshalb, weil es natürlich dann auch noch eine politische Entscheidung ist, wann man es denn dann wirklich machen will. Das heißt, das UBA sagt nicht, man muss 2017 aussteigen, aber man kann es, wenn man es will.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, es ist eine politische Entscheidung. Es gab ja eine politische Entscheidung im letzten Herbst, im letzten September, nämlich die Laufzeiten zu verlängern. Und man hat das als "Brücke" begründet, die notwendig ist in das Zeitalter der regenerativen Energien. Wenn man sich den Beschluss von damals anguckt, dann hätten wir einen Ausstieg 2035, vielleicht mit Unterbrechungen auch sogar 2040 gehabt. Wenn man sich jetzt diese Diskrepanz anguckt, Sie sagen 2017, wie kann das zusammenpassen?

Jochen Flasbarth: Das Bundesumweltamt hat vor der Entscheidung, die im letzten Herbst getroffen worden ist, deutlich gemacht, dass als unserer Sicht – wenn wir wissenschaftlich basierten Rat geben sollen – eine Verlängerung der Laufzeiten damals nicht notwendig gewesen ist. Das haben wir mehrfach betont. Das ist eine Position, die dieses Amt seit langer, langer Zeit hat. Wir waren schon seit Mitte der 80er Jahre der Meinung, dass die Atomenergienutzung so schnell es geht beendet werden soll, weil sie neben Risiken eben auch keine nachhaltige Energieversorgung hat – Stichwort: lange Lagerung von Abfällen, letztendlich auch ein Ressourcenproblem, denn Uran ist ja auch nicht beliebig verfügbar.

Die Bundesregierung hat damals anders entschieden. Und nun steht es einer wissenschaftlichen Behörde nicht an, die Entscheidungen, die getroffen sind, zu kommentieren oder zu kritisieren. Wir haben unseren Rat damals gegeben. Es ist anders entschieden worden. Das ist das Recht von Politik. Es war auch angekündigt worden, dass die Regierungsparteien so handeln würden. Deshalb konnte eigentlich auch niemand weiter überrascht sein. Nun gibt es eben eine Neubewertung nach der Katastrophe von Fukushima. Damit werden jetzt eben alle Szenarien auch noch mal wieder politisch neu bewertet.

Deutschlandradio Kultur: Im Moment sind acht deutsche Atomkraftwerke abgeschaltet, schon als direkte Reaktion auf die Katastrophe in Fukushima. Müssen wir Strom von außen zukaufen, damit wir uns im Moment versorgen können?

Jochen Flasbarth: Nein, das müssen wir nicht. Das tun wir zwar partiell, aber wir müssen es nicht. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Weil, mit dem Argument, jetzt kaufen wir Strom aus dem Ausland, ist meines Erachtens in den letzten Wochen ein bisschen Schindluder getrieben worden. Wir sind in einem europäischen Binnenmarkt. Das gilt auch für Strom. Deshalb haben wir in der Vergangenheit Strom importiert gelegentlich. Wir haben auch häufiger Strom exportiert. Wir waren allerdings auch in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr von diesen Importen abhängig, sondern es eine ganz normale Sache, ein Börsengeschehen, dass dort gekauft wird, wo es gerade in diesem Augenblick am billigsten ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber das heißt ja, dass wir mit diesen acht deutschen Atomkraftwerken, die zurzeit abgeschaltet sind, eigentlich eine riesige Überkapazität an Stromversorgung haben in Deutschland.

Jochen Flasbarth: Das ist so. Und unsere Berechnungen ja davon ausgegangen, dass wir betrachtet haben: Was war eigentlich der maximale Stromverbrauch während der letzten 10 Jahre? Das waren die Jahre 2002 und 2008. Und selbst in diesem Zeitraum hatten wir noch erhebliche Überkapazitäten im Bereich von mehreren Kraftwerken, sodass wir wirklich von Engpässen überhaupt nicht reden können.

Deutschlandradio Kultur: Ich komme noch mal auf die Zielmarke 2017, die Sie genannt haben als Ziel für den Ausstieg aus der Atomkraft. Ist das allein die schnellste Möglichkeit aus der Atomkraft auszusteigen oder aus Ihrer Sicht auch die ökonomisch und ökologisch sinnvollste?

Jochen Flasbarth: Wir haben das zunächst mal nur von den Kapazitäten betrachtet und geprüft: Wenn Politik den Wunsch formuliert, schnellstmöglich diese Energienutzung hinter uns zu lassen, wann geht das eigentlich schnellstmöglich? Von den Kapazitäten ist das im Jahr 2017. Wenn man es früher machen wollte, würden wir meinen, dass man Risiken in der Versorgung eingehen muss. Und dann wird man definitiv auch zu bestimmten Zeiten auf Importe angewiesen sein. Wenn man das ausschließen will, kommt man eben auf das Jahr 2017 oder folgend, je nach dem, wie man dann weiter optimiert.

Wenn man sagt, wir wollen keine Kraftwerkskapazitäten – beispielsweise Gaskraftwerkskapazitäten – zwischen drin zusätzlich bauen, sondern wir wollen warten, bis die Erneuerbaren das auch mit schultern können, dann kommt man eben zu einem etwas späteren Zeitpunkt.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Frage des Tempos ist letztendlich auch eine Frage der Kosten. Das heißt, je schneller wir aussteigen, desto teurer kommt es?

Jochen Flasbarth: Das ist nicht zwangsläufig so. Das Geschehen an den Energiemärkten ist nicht ganz simpel. Man muss sich das so vorstellen, dass der Bedarf nach Strom ja tageszeitlich und jahreszeitlich sehr schwankt. Das heißt, es sind nicht immer alle Kraftwerke gleichzeitig am Netz. Und es geht immer logischerweise das Kraftwerk als Letztes ans Netz, das am teuersten Strom produziert. Und dieses Kraftwerk – die Ökonomen nennen das das "Grenzkraftwerk" – setzt den Preis für alle anderen mit. Und das bestimmt dann auch für die anderen, die dann schon vorher am Netz waren, die Gewinnmargen.

Und wenn man jetzt die Atomkraftwerke herausnimmt, dann verschiebt sich die gesamte Kurve ein Stückchen weiter nach rechts, wenn man so will. Das bedeutet, dass man dann sehen muss, welche Kraftwerke sind dann eigentlich am Netz. Und das sind nicht wesentlich andere als die, die auch heute am Netz sind. Das sind nämlich Mittellast-Kohlekraftwerke und Gaskraftwerke, die ohnehin schon den Preis relativ hoch setzen. Und das wird auch in Zukunft so sein.

Deutschlandradio Kultur: Die Deutsche Energieagentur hat berechnet und gesagt, der Durchschnittshaushalt wird 13,50 Euro pro Monat etwa zahlen müssen, wenn wir bis 2020 aussteigen. Und da gibt es auch die Gesamtzahl von 20 Mrd. Euro pro Jahr, die uns das kosten würde. – Wie gesagt, die Zahlen der Deutschen Energieagentur. Ist das unseriös zu diesem Zeitpunkt?

Jochen Flasbarth: Nein, das ist ein Beitrag. Es gibt ja auch eine ganze Reihe weiterer Studien und Wortmeldungen in der letzten Zeit von Ökonomen. Ich halte es aber jedenfalls für dünnes Eis. Wir sind ja auch in keinem Markt mit hohem Wettbewerb. Dieser Markt wird im Augenblick doch im Wesentlichen dominiert von wenigen Anbietern. Das sind immer Märkte, die dazu neigen, nicht ganz kosteneffizient für die Verbraucher anzubieten – um des vorsichtig zu sagen –, die zum Teil auch Kosten überwälzen, die gar nicht da sind. Wir haben das im Bundesamt nachgerechnet bezüglich der EEG-Umlage. Da ist ja auch zu Beginn dieses Jahres noch ein erheblicher Zuschlag auf die Verbraucher zugekommen. Unsere Zahlen haben ergeben, dass es eines solchen umfänglichen Zuschlags gar nicht gebraucht hätte, um die Kosten dafür sauber zu decken.

Deutschlandradio Kultur: Aber noch mal nachgefragt zu den Kosten: Wenn man sich anguckt, die bestehende Infrastruktur wird nicht weiter genutzt, die Atomkraft teilweise, irgendwann ganz nicht mehr. Andere muss aufgebaut werden. Nach der menschlichen Logik bedeutet das doch eigentlich, es wird teurer, oder?

Jochen Flasbarth: Wir müssen Preise und Kosten unterscheiden. Es kann sein, dass da weniger Gewinne übrig bleiben für die Versorger, aber man muss genau sehen, was bedeutet das für den Verbraucherpreis. Der Verbraucherpreis bildet sich an der Börse. Er wird jetzt schon im Wesentlichen durch Mittellast- und Gaskraftwerke gesetzt. Das sind diejenigen, die im Preis ohnehin etwas höher liegen. Und das werden im Grunde die gleichen Kraftwerke sein. Wie wir sie auch bisher am Netz heben, so werden sie auch zukünftig sein. Das sind nur wenige Verschiebungen, die da stattfinden.

Deshalb würde mich ein größerer Preisaufschlag sehr überraschen und ich würde ihn dann auch hinterfragen. Dann hätte ich Bedenken, ob man das Marktgeschehen wirklich ordentlich abbildet oder ob hier letztendlich Zusatzgewinne mit abgegriffen würden.

Deutschlandradio Kultur: Von den Kosten der Verbraucher mal zu den Kosten des Staates: Was muss denn der Staat investieren, damit diese Energiewende gelingen kann?

Jochen Flasbarth: Wir brauchen den Staat vor allem an der Stelle, an der es darum geht, dass wir bei der Energieeinsparung, bei der Energieeffizienz vorankommen. Da ist natürlich ein ganz großer Block die energetische Gebäudesanierung. Es ist durchaus vernünftig zu sagen: Wenn wir jetzt in den nächsten Jahren etwas mehr Gas verbrauchen werden für die Energieerzeugung, das wird wohl so kommen, dass wir versuchen, an anderer Stelle vernünftigerweise Gas einzusparen. Das geht sehr gut bei den Gebäuden. Wir haben recht hohe Anforderungen an den Neubau von Gebäuden, aber für den Gebäudebestand, und das ist ja der größte Teil, noch nicht. Und da kommt man auch mit Auflagen, mit Ordnungsrecht, mit etwa Geboten nicht recht weiter. Da muss man auch Förderprogramme nutzen. An der Stelle wird man auch öffentliches Geld brauchen.

Deutschlandradio Kultur: Ich würde jetzt gerne jenseits der Kosten für uns Verbraucher, auch für den Staat, auf mögliche Kosten für die Umwelt kommen, die dieser Atomausstieg, ein schneller Atomausstieg bringen könnte. In Ihrem Szenario spielen Gas, aber auch vor allem Kohlekraftwerke eine Rolle, die die abgeschalteten AKW ersetzen sollen. Das bedeutet auch mehr CO2-Ausstoß erst mal für die Energieproduktion. Müssen wir den Klimaschutz opfern, um aus der Kernkraft schneller aussteigen zu können?

Jochen Flasbarth: Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Der Klimaschutz ist die Herausforderung, die wir jetzt und die wir mittelfristig und auch langfristig im Auge haben müssen. Und ein schnellerer Atomausstieg steht dazu überhaupt nicht im Widerspruch. Was mich in den letzten Wochen geärgert hat, ist nicht, dass diese Sorge in der Bevölkerung entstanden ist, weil, das ist nämlich kein ganz leichtes Thema. Aber das Vorurteil, dass der Klimaschutz belastet würde, wurde auch von denjenigen bedient, die es definitiv besser wissen müssen.

Der Mechanismus ist so, dass wir für Gesamteuropa, für die Europäische Union die CO2-Emissionen aus der Energieerzeugung und aus der industriellen Produktion begrenzt haben. Das ist ein Deckel, den man da oben draufgelegt hat. Und wenn jetzt mehr Kohlekraft entsteht, wenn man mehr Kohle verstromt, dann entsteht mehr CO2 in diesem Kraftwerk. Dafür muss das Unternehmen zusätzliche Zertifikate kaufen. Und dieses Zertifikat kann dann logischerweise kein anderer benutzen. Das bedeutet, für die CO2-Menge in den nächsten Jahren bis 2020 und auch darüber hinaus da gibt es einen Pfad, der in der EU beschlossen worden ist, einen Minderungspfad für CO2. Dieser wird in jedem Fall eingehalten.

Deutschlandradio Kultur: Aber, Herr Flasbarth, der Emissionshandel trifft ja auch immer wieder auf die Kritik gerade von Umweltverbänden, weil man sagt, das System ist zu lasch. Es ist nicht streng genug. Die Unternehmen haben zum Großteil die Zertifikate kostenlos bekommen, müssen sie erst später kaufen. Kann dieses Zertifizierungssystem wirklich das ausgleichen, was wir dann konkret sehen, nämlich mehr CO2-Ausstoß für die Energieproduktion? Ist das nicht letztendlich ein Buchhaltertrick?

Jochen Flasbarth: Nein, überhaupt nicht. Und wer den Emissionshandel kritisiert als nicht in der Lage, die CO2-Emissionen zu begrenzen, der hat den Emissionshandel einfach nicht verstanden.

Das ist ein sehr effizientes Instrument. Das Umweltbundesamt ist ja auch die zuständige Emissionshandelsbehörde. Wir haben in der Vergangenheit, tatsächlich hat der Staat diese Zertifikate kostenlos zu einem großen Teil zugeteilt, was nicht heißt, dass der Mechanismus nicht wirkt. Weil, als Unternehmen hat für mich plötzlich CO2-Einsparung einen Preis. Ich kann mir nämlich überlegen, nutze ich dieses Zertifikat für mein Unternehmen oder verkaufe ich es am Markt und kann dann mit diesem Geld was anderes machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber in der Konsequenz bedeutet es doch, dass wir in der Energieproduktion mehr CO2 ausstoßen werden über einen gewissen Zeitraum und andere Industriebereiche, andere Gesellschaftsbereiche das ausgleichen müssen. Diese Aussage stimmt?

Jochen Flasbarth: Die Aussage stimmt. Das ist aber überhaupt gar kein Schaden, weil, Sie haben ja eben gesagt, dass es auch Kritik am Emissionshandel gibt. Die ist zu einem großen Teil, wie ich meine, unbegründet, aber an einer Stelle ist jedenfalls ein bisschen was dran. Der Preis ist im Augenblick nicht so hoch mit 15 Euro bis 17 Euro pro Tonne CO2. Die EU-Kommission ist mal bei Einführung des Emissionshandels für die zweite Periode, in der wir uns jetzt befinden, von einem Preis über 30 Euro ausgegangen. Und dieser Preis sorgt ja dafür, dass Energieeinsparmaßnahmen sich in Unternehmen plötzlich rechnen, die sich gestern noch nicht gerechnet haben.

Wenn der Preis aber zu niedrig ist, dann wird diese Energieeinsparung nicht vorgenommen. Dann muss man sie entweder durchs Ordnungsrecht erzwingen oder man muss gegen anfördern vom Staat aus. Am Ende ist es so, dass der Emissionshandel aus meiner Sicht eine sehr kostengünstige, sehr effiziente Methode ist, um die CO2-Einsparungen zu erreichen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben selbst in Ihrer Behörde vor drei Jahren ausgerechnet, dass – damit Deutschland sein CO2-Ziel, sein Kioto-Ziel erreichen kann – höchstens vier neue Kohlekraftwerke ans Netz gehen können. Sonst können wir es nicht schaffen. Wir haben im Moment zehn neue Kohlekraftwerke, die geplant oder im Bau sind. Reißen wir die Kioto-Zielmarke?

Jochen Flasbarth: Nein, wir reißen die Kioto-Zielmarke nicht. Es ist ja sogar so, dass wir im Augenblick schon erheblich mehr an CO2-Einsparungen vorgenommen haben, als Kioto uns vorgegeben hat für den Zeitraum 2008 bis 2012. Die kritische Haltung zum Neubau von Kohlekraftwerken des Umweltbundesamtes war vor allem dadurch begründet, dass Kraftwerke, die jetzt ans Netz gehen, natürlich eine Lebensdauer haben von 40 Jahren. Sie sind in der Regel amortisiert nach 20 Jahren. Dann sind wir aber in dem Bereich 2030 bis 2050, in dem wir ja schon auf dem Weg zu 80 bis 95 % CO2-Einsparung Mitte des Jahrhunderts sein müssen. Also, dann sind wir schon erheblich vorangeschritten. Und dann stören diese Kraftwerke. Dann ist es die Frage: Organisiert man sich nicht einen politischen Konflikt von morgen, wenn man jetzt Strukturen errichtet, die sich dann möglicherweise noch nicht amortisiert haben.

Im Augenblick ist es so, dass zehn Kohlekraftwerke im Bau sind. Die haben wir in unsere Kapazitätsberechnung mit einberechnet. Das reicht dann für den Atomausstieg aus. Weitere Kraftwerke, da ist nach wie vor meine Position. Man müsste jetzt nicht sich hinsetzen wegen des schnelleren Atomausstiegs und sagen, jetzt müssen wir schnell noch zwei, drei Kohlekraftwerke planen. Das wäre, glaube ich, nicht richtig.

Deutschlandradio Kultur: Ich frage noch mal ganz konkret nach. Wenn man sich anguckt, eines der jüngeren deutschen Atomkraftwerke, wenn man das bis – sagen wir – 2025, vielleicht sogar 2030 weiterlaufen ließe und dafür einen Großneubau eines Kohlekraftwerkes verhindern könnte? Sie als Präsident des Bundesumweltamtes, der eben auch das Klimaziel im Blick hat, ist das nicht eine Abwägung, die zugunsten des Atomkraftwerks, das ja ohnehin schon steht und eben auch neueren Datums ist, ausfallen müsste?

Jochen Flasbarth: Nein, die Situation ist ja so, dass jetzt schon zehn Kraftwerke, Kohlekraftwerke auch, in Planung, im Bau sind. Das war auch schon, bevor eine Diskussion gestartet ist, ob man die Laufzeiten noch weiter verkürzt, statt sie zu verlängern. Das war die bisherige Planung. Und an der soll man auch nichts ändern. Ich bin nicht der Meinung, dass man jetzt neue Kohlekraftwerke planen muss über die hinaus, die wir haben. Aber das, was wir an deutschen Kraftwerkskapazitäten insgesamt haben, ist so auskömmlich, dass wir diese Atomkraftwerke ausschalten, abschalten können sukzessive, ohne dafür jetzt in eine neue Bauplanung zu gehen.

Deutschlandradio Kultur: Sie sagen, keine neuen weiteren Planungen für Kohlekraftwerke. Der Mann, der Sie an die Spitze dieses Amtes berufen hat, Sigmar Gabriel damals als Bundesumweltminister, hat ja genau das jetzt gefordert – 8 bis 10 weitere Kohlekraftwerke. Haben Sie den Eindruck, ihn hat sein umweltpolitischer Sachverstand verlassen, seitdem er aus dem Amt raus ist?

Jochen Flasbarth: Ehrlich gesagt wundert man sich manchmal, was an Debatten entsteht, die – wenn man ganz genau hinguckt – offensichtlich gar nicht vorhanden sind. Ich sehe im Augenblick niemanden in Deutschland, der sagt, wir brauchen tatsächlich neue Kohlekraftwerke über die hinaus, die jetzt im Bau, in Planung sind. Soweit ich die Positionen in der deutschen Parteienlandschaft sehe, kann ich nicht erkennen, dass sich ein politischer Wille artikuliert, der mehr Kohlekraftwerke möchte als die, die im Augenblick im Bau oder in Planung sind.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie in den letzten Wochen den Eindruck gehabt, dass dieses Thema andere wichtige große Umweltthemen verdrängt oder sie zum Teil sogar konterkariert? Ich denke zum Beispiel an die Notwendigkeiten, die Debatte mit dem Netzausbau, wo es Überlegungen gibt in der Bundesregierung, ein Beschleunigungsgesetz zu schaffen, das dann eben auch Mitsprachemöglichkeiten einschränkt, Aspekte des Naturschutzes einschränken würde. Das muss Sie doch als Präsidenten des Bundesumweltamtes beunruhigen.

Jochen Flasbarth: Ich sehe das etwas anders. Ich war je, bevor ich ins Bundesumweltamt gekommen bin, Abteilungsleiter für Naturschutz im Bundesumweltministerium, hatte also eines der Themen zu hüten, die gelegentlich erst an zweiter oder dritter Stelle nach dem Klimaschutz kamen. Und ich habe diese Verschiebung von Gewichten nie als nachteilig empfunden, im Gegenteil. Ein starker Klimaschutz, eine starke Debatte, wie wir unsere Energieversorgung zukünftig organisieren, ist immer auch etwas, was dem Umweltminister und dem Umweltschutz insgesamt mehr Gewicht verleiht und dann auch in die Lage versetzt, andere Themen mit zu befördern.

Deutschlandradio Kultur: Ich komme zum Abschluss noch mal auf ein anderes umweltpolitisches Thema, das der designierte Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann in dieser Woche hervorgebracht hat, nämlich mit seinem Zitat: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr." Dafür hat er viel Prügel bekommen als künftiger Ministerpräsident eines Autolandes Baden-Württemberg. Kriegt er denn von Ihnen für diese Aussage wenigstens Lob?

Jochen Flasbarth: Ich wünsche mir, ehrlich gesagt, in der Verkehrsdebatte viel mehr Entspannung. Es ist traditionell so: Was immer man unter dem umweltpolitischen Gesichtspunkt, Umweltschutzgesichtspunkt in die Verkehrsdebatte einbringt, führt sofort zu einer emotionalen Eskalation, als ob damit unser Land untergeht. Da können Sie nehmen welches Instrument auch immer: Tempolimit, Pkw-Maut, Benzinbesteuerung, Abgasvorschriften. Immer scheint der Untergang des Landes schon auf.

Ich glaube, dass wir diese Debatte brauchen. Wir erleben gerade in der Energiepolitik, wie gut es für ein Land ist, wenn man sehr offen diskutiert, wenn man auch sehr radikal denkt. Wenn Sie die Diskussion im Augenblick verfolgen, das wäre ja vor einem halben Jahr wenig vorstellbar gewesen. Und eine solche sehr radikale Debatte wünsche ich mir auch in der Verkehrspolitik. Insofern freue ich mich über jede Stimme, die auch diese Debatte mit belebt.

Deutschlandradio Kultur: Brauchen wir denn eine Autobahn-Maut in Deutschland?

Jochen Flasbarth: Wir haben im Umweltbundesamt verschiedene Möglichkeiten, wie eine Pkw-Maut ausgestaltet sein kann, betrachtet, und zwar unter dem Umweltschutzgesichtspunkt. Also, welche Ausgestaltung einer Pkw-Maut kann eigentlich etwas zum Umweltschutz beitragen? Dabei haben wir festgestellt, dass eine Vignette, die ja für ein Jahr oder für einen gewissen Zeitraum die Berechtigung zur Nutzung des Straßennetzes bringt, für die Umwelt praktisch keine Auswirkungen hat. Das ist wirklich nur, wenn man die Einnahmen generieren will. Eine Vignette für die Autobahn hat den Nachteil, dass sie den Verkehr in der Tendenz auf das nachgeordnete Straßennetz verlagert und dann dort zu mehr Lärm, zu mehr Staub usw. führt.

Deshalb hat das Bundesumweltamt empfohlen: Wenn man eine Pkw-Maut einführt, dann für das gesamte Straßennetz. Das ist auch nicht trivial, weil, da ist unter anderem der Gesichtspunkt des Datenschutzes zu beachten. Wir haben ja gerade eine Debatte darüber erlebt, wie das ist, wenn man jeden Standort nachverfolgen kann über die Handys. Das möchte man natürlich nicht. Das heißt also, eine solche Lösung einer flächendeckenden Pkw-Maut wäre auch nur dann umsetzbar, wenn man das Datenschutzproblem seriös und glaubhaft lösen kann.

Deutschlandradio Kultur: Sprechen Sie sich dafür aus, dass es eine solche Maut geben sollte für Pkw in Deutschland? Oder gibt es da eventuell andere Möglichkeiten?

Jochen Flasbarth: Es gibt auch andere Möglichkeiten. Und das meinte ich eben. Jedes Instrument wird sehr schnell in der Debatte diskreditiert. Es gibt natürlich die ganz triviale Möglichkeit, die Mineralölsteuer weiter zu erhöhen. Wir haben die Pkw-Maut deshalb betrachtet, weil unsere Einschätzung war, dass es derzeit und in absehbarer Zeit wohl keine politischen Mehrheiten in Deutschland gibt, die sich für eine solche weitere Erhöhung stark machen. Es ist sehr verbrannt das Thema in Deutschland. Das waren die Gründe, warum wir geguckt haben: Gibt’s eigentlich ein anderes Instrument, mit dem man auch die Umwelt und die Gesundheitskosten des Verkehrs tatsächlich den Verursachern vollständig anrechnen kann.

Deutschlandradio Kultur: Jochen Flasbarth, eine letzte Frage: Wenn Sie in die Glaskugel gucken, was werden wir zuerst erleben, dass Deutschland ohne Atomkraft auskommt oder dass Daimler hauptsächlich Fahrräder und andere Mobilitätsmittel produziert?

Jochen Flasbarth: Also, ich glaube nicht, dass Daimler gut beraten wäre, jetzt sein Segment vollständig in Richtung Fahrrad umzuorientieren, sondern es müssen Sprit sparendere moderne Autos gebaut werden. Das wird wohl die Zukunft sein. Ich wage da keine Prognose, was schneller geht. Im Augenblick ist mehr Dynamik in der Energiepolitik.

Deutschlandradio Kultur: Herr Flasbarth, herzlichen Dank für das Gespräch.

Jochen Flasbarth: Bitteschön.
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