Postmoderne Naturanbeter

Heidnische Bräuche der Romuva-Religion in Litauen

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Frauen bei der Feuerzeremonie beim Rasos Festival. Sie tragen Blumenkränze und singen.
Hüterin des Feuers: Zur Sommersonnenwende feiern Mitglieder der Romuva-Bewegung die baltischen Naturgottheiten aus alten Legenden. © picture alliance / XinHua / Alfredas Pliadis
Von Berthold Forssman und Martin Sander · 18.08.2019
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Litauen wurde erst Ende des 14. Jahrhunderts christianisiert. Heidnische Bräuche waren noch lange Zeit verbreitet. An sie knüpft die neoheidnische Romuva-Bewegung an, die sich auch als Nationalkultur versteht.
Auf einer Wiese nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius stehen blumenbekränzte Frauen und Mädchen singend im Kreis. Junge Männer schlagen die Trommel. Mittendrin gibt die Priesterin mit Mikrophon und weißem Kopftuch den Ton an. Inija Trinkūnienė ist 68 Jahre alt, hat Psychologie studiert und als Soziologin gearbeitet. Inzwischen ist sie die "Krivė", eine Art Oberpriesterin der litauischen Neoheiden. "Romuva" heißt die Religionsgemeinschaft in der Landessprache.

Sprechen mit den Ahnen

Inija Trikūnienė lebt mitten in Vilnius. Ihr Wohnzimmer mit seinen hohen Bücherregalen dient auch als Versammlungsraum: An den Wänden stehen Bänke, in der Mitte ein massiver Holztisch. An der Fensterbank, von Kerzen eingerahmt, wie ein Altarbild: eine Großaufnahme ihres 2014 verstorbenen Ehemanns, Jonas Trinkūnas, der noch zu Sowjetzeiten Romuva als neoheidnische Religionsgemeinschaft etabliert hat. Inija in heller Leinenbluse mit Symbolen aus der baltischen Mythologie führt sein Erbe fort.
"Die Grundlage unserer Religion ist die ungebrochene litauische Tradition", erklärt Trikūnienė. "Wir stützen uns auf ethnographisches Material und auf Expeditionen durch das Land. Wir haben auf den Dörfern die Erzählungen und Lieder der Menschen gehört. Das ist unser Fundament. Dabei wählen wir aus, was uns am Nächsten liegt. Unsere wichtigsten Feste sind die traditionellen Feiern gemäß dem Kalender. Darüber hinaus gibt es die familiären Anlässe: Geburten, Trauungen, Beerdigungen. Wir setzen da unsere eigenen Akzente. Wir entzünden Opferfeuer und kommunizieren mit den Ahnen. Eine zentrale Rolle spielt die Natur. Wenn ich mich an die Erdgöttin Žemyna wende, dann repräsentiert sie die Kraft der Erde."
Frauen bei der Feuerzeremonie beim Rasos Festival. Sie tragen Blumenkränze und singen.
Inija Trinkūnienė leitet die Feuerzeremonie beim Rasos-Fest, einer Feier zu Ehren der alten Götter in der kürzesten Nacht des Jahres.© picture alliance / XinHua / Alfredas Pliadis
"Ich hab' immer gedacht, woher wissen die das alles?" fragt sich etwa die Vilniusser Kunstkritikerin und Verlegerin Jurgita Ludavičienė. Sie ist keine Romuva-Anhängerin, hat aber noch als Studentin Jonas Trinkūnas als Dozent an der Kunsthochschule erlebt. Sie erinnert sich:
"Das war nicht ganz glaubwürdig, schon interessant, aber es gibt so viele Theorien, was die litauischen Heiden geglaubt haben könnten. Alles, aber es gibt keine schriftlichen Beweise, nichts, überhaupt nichts. Ich fand das schon sehr interessant, aber das war sehr spekulativ."
Die heidnische Zeit Litauens spiegelt sich in Legenden und Liedern. Ihnen zufolge betete man vor der Christianisierung zahlreiche Naturgötter an. Neben der Sonnengöttin Saulė und Gabija als Hüterin des Feuers soll der Donnergott Perkūnas eine besonders mächtige Gestalt gewesen sein.

Keine Verfestigung des Christentums

Für die bis heute anhaltende Bedeutung der heidnischen Zeit für die litauische Gesellschaft gibt es gute Gründe, erklärt Rimvydas Petrauskas, Historiker mit Lehrstuhl an der Universität Vilnius:
"Litauer sind Katholiken. Aber immer wieder rühmen sie sich, das letzte heidnische Land zu sein. Politisch gesehen, ist es das letzte Land in Europa, das offiziell zum Christentum konvertiert ist, am Ende des 14. Jahrhunderts. Das ist sehr spät. In manchen Gebieten, auf dem Land bis ins 18. Jahrhundert, konnte man noch heidnische Flecken finden."
Dem Land Litauen fehlen also mehrere Jahrhunderte, in denen sich das Christentum wie in Westeuropa verfestigen konnte. Gleichwohl sehen Kritiker in der Romuva-Religion mit ihren mehr als 5000 eingetragenen Mitgliedern weniger eine Gemeinschaft zur Traditionspflege oder zur Wiederbelebung eines vorchristlichen Glaubens als vielmehr ein postmodernes Konstrukt. Wenn die Neoheiden Fackelzüge veranstalten und Getreide opfern und Hochzeitspaare dreimal im Kreis um einen Altar aus Feldsteinen ziehen, wirkt das für viele nicht nur traditionsfern, sondern auch befremdlich.

Alte Kulte lösen Vorbehalte aus

Die Soziologin Milda Ališauskienė hat 2014 mithilfe von EU-Mitteln ein Informationszentrum ins Leben gerufen, das über neue Religionen informiert und dabei auch das Ziel verfolgt, ihrer Meinung nach unbegründete Ängste abzubauen.
"Meist rufen bei uns Menschen an, die sich Sorgen um ihre Angehörigen machen, weil sie es mit einer ihnen unbekannten Religion zu tun haben, zu der sich diese Angehörigen hingezogen fühlen", erklärt Ališauskienė. "Dann klären wir auf und verweisen bei Konflikten in der Familie an Psychologen. Das gilt auch für den alten baltischen Glauben der Neoheiden, der Ängste und Vorbehalte ausgelöst hat. Es gab Stimmen, die sagten, das ist ja gar keine Religion. Andere befürchteten, es handele sich um Gegenbewegung zur katholischen Kirche."
Frauen in traditioneller Kleidung und Blumenkränzen auf dem Kopf beim Rasos Festival in Vilnius.
Der Farn soll magische Kräfte besitzen: Besucherinnen beim Rasos-Fest in Vilnius.© picture alliance / XinHua / Alfredas Pliadis
Völlig neu ist die Romuva-Bewegung in der religiösen Landschaft Litauens nicht. Was der Ethnologe Jonas Trinkūnas in mehr oder weniger feste Formen goss, gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch damals wirkte eine Gemeinschaft namens Romuva zur Pflege des vorchristlichen Glaubens. Benannt war sie nach einer mythischen Kultstätte des baltischen Volks der Prußen.

Neoheiden sehen sich als "Naturanbeter"

In der Sowjetzeit wurde die von Trinkūnas neu gegründete Bewegung noch verfolgt, im unabhängigen Litauen hat man sie dann offiziell anerkannt. Romuva besitzt allerdings weniger Rechte als etablierte Religionsgemeinschafen wie die katholische Kirche. So genießt man keine Steuervergünstigungen und darf keinen Religionsunterricht an Schulen erteilen. Inija Trinkūniene setzt sich dafür ein, dass sich das bald ändert. Die Anziehungskraft ihrer Religion sieht sie nicht zuletzt in einer Nähe zur Umweltbewegung:
"Wir sind Naturanbeter. Daher stehen uns die ökologischen Bewegungen nahe. In unserer Ethik gibt es ein wichtiges Wort. 'Darna'. Es bedeutet Harmonie zwischen uns und der übrigen Welt. Es geht um das Austarieren von Gegensätzen, um ein Gleichgewicht. Zwischen Kälte und Hitze wäre 'Darna' die Wärme. Während das Christentum den Gegensatz zwischen Gut und Böse hervorhebt, suchen wir 'Darna': die Harmonie untereinander und mit der Natur."
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