Porträts der Avantgarde

09.05.2011
Um dazuzugehören im Paris der Zwanziger, musste man sich von Man Ray fotografieren lassen. Der Sohn jüdisch-russischer Einwanderer wurde mit Porträts seiner Freunde aus der Avantgarde berühmt. Ein neuer Sammelband zeigt 500 Werke.
Um dazuzugehören im Paris der 1920er Jahre, musste man sich von Man Ray fotografieren lassen. Berühmt geworden ist der Sohn jüdisch-russischer Einwanderer, der mit bürgerlichem Namen Emmanuel Rudnitzky hieß, durch die Porträts seiner Freunde aus der Avantgarde, Marcel Duchamp, Pablo Picasso, Max Ernst, Jean Cocteau, Eric Satie und vieler anderer.

Dabei war die Fotografie zunächst eine Verlegenheitslösung. Man Ray (1890-1976), damals glückloser Maler und Objektkünstler in den USA, brauchte Geld, als er 1921 nach Paris kam. Er kannte er sie bald alle: die Künstler und ihre Modelle vom Montparnasse, Schriftsteller, Modedamen und die durchreisende intellektuelle Prominenz. Die Reichen rissen sich darum, vom ihm abgelichtet zu werden. Selbst in den Augen ihres Schöpfers missglückte Arbeiten fanden begeisterten Zuspruch bei seinen Kunden.

Wie das verwackelte Foto der Marquise Casati: Es zeigte drei Paar Augen untereinander, aber die wohlhabende Dame, die darin das "Porträt ihrer Seele" erblickte, rettete es aus dem Papierkorb, verschaffte Man Ray den Zugang zu Aristokratie und Geldadel – und der Kunstgeschichte eine ungeahnte fotografische Ikone.

Tausende von Porträts entstanden. Viele davon gingen in das öffentliche Gedächtnis ein – Thomas Mann etwa als Herr von Welt mit (noch nicht brennender) Zigarette, Marcel Duchamp mit Sowjet-Stern-Tonsur und Meret Oppenheim als Badekappenschönheit. Viele davon – Auftragsarbeiten, die in geringer Stückzahl an Privatkunden gegangen waren - traten noch nie ans Licht der Öffentlichkeit.

Aus all diesen Schätzen, die im Centre Pompidou aufbewahrt werden, zeigt das Buch eine Auswahl von 500 Aufnahmen. Übersichtlich nach dem Alphabet geordnet, bietet es zu jeder Person neben dem Foto eine Kurzbiografie, die über Leben, Werk und deren Beziehung zu Man Ray aufklärt.

Zwar muss man auf manche von Man Rays Meisterwerken aus der surrealistischen Phase verzichten, weil sie in der überaus reichen Negativsammlung des Museums fehlen – "Le violon d’Ingres" etwa, der Rückenakt seiner Geliebten Kiki de Montparnasse, auf den die Öffnungen einer Violine gemalt sind, oder "The Tears", gläserne Tränen, die über ein makellos geschminktes Frauenantlitz perlen. Doch solche Lücken verschmerzt man gerne angesichts dieses fabelhaften "Who is who", dieser Bildnisgalerie, die ein halbes Jahrhundert europäischer Kulturgeschichte aufblättert.

Obendrein weist die deutsche Ausgabe ein Plus auf: Der Übersetzer Matthias Wolf brachte die informativen Essays des Herausgebers und seiner Mitstreiter über Leben und Werk Man Rays nicht nur in ein elegantes Deutsch, er begradigte auch Ungenauigkeiten und merzte grobe Schnitzer in deren biografischen Anmerkungen zu den Porträtierten aus. So ließ die französische Buchausgabe die Journalistin Louise Bryant während des Zweiten Weltkriegs als Reporterin aus Frankreich berichten – obwohl diese schon 1936 gestorben war. Vassily Kandinsky gründete darin den "Blauen Reiter" 1922, was tatsächlich schon elf Jahre zuvor geschehen war. Und Coco Chanel schließlich, in deren Pariser Haus nach 1904 alles, was Rang und Namen hatte, aus- und ein ging, muss in der deutschen Ausgabe auf die Bekanntschaft mit Stéphane Mallarmé verzichten. Der war schon 1898 gestorben.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Clément Chéroux (Hg.): Man Ray: Portraits. Paris, Hollywood, Paris 1921-1976
Aus dem Französischen von Matthias Wolf
Schirmer/Mosel Verlag, München 2011
320 Seiten, 58 Euro