Pop in seiner ganzen Breite

18.04.2013
Die Musikzeitschrift "Spex" gilt als streitlustig und wurde immer wieder für tot erklärt. Jetzt gibt es ein Buch, das viele der bedeutendsten Artikel seit 1980 versammelt - aus "33 1/3 Jahren Pop", wie der Band von den Herausgebern genannt wird. Eine Geschichte der Popmusik der letzten Jahrzehnte.
In ihren besten Zeiten galt sie als das "Zentralorgan der deutschen Pop-Intelligenz": die Zeitschrift "Spex", die 1980 in Köln gegründet wurde. Für die bundesdeutsche Kulturlandschaft der Achtzigerjahre war sie ein Novum: Musikzeitschriften hatte es schon manche gegeben. Aber nirgendwo anders wurde so kenntnisreich, inspiriert und intellektuell über Popmusik geschrieben wie in der "Spex".

Wo die Zeitungsfeuilletons damals die Popmusik für künstlerisch minderwertig hielten und zumeist ignorierten, erhoben die "Spex"-Autoren sie zu ihrem eigenen Feuilletonthema. Sie schlugen Verbindungen zwischen dem Pop und der Bildenden Kunst, dem Kino und der Literatur. Sie interpretierten Popsongs mit philosophischen Mitteln, zum Beispiel mit den Theorien der französischen Poststrukturalisten oder manchmal auch im hohen Ton von Theodor W. Adorno, der selber ja noch alle populäre Kultur als Ausdruck eines falschen Bewusstseins verschmäht hatte. Wie er hatte die politische Linke nach '68 den Pop meist bloß als Bestandteil der kapitalistischen Kulturindustrie betrachtet.

Die "Spex"-Autoren verstanden sich selber als Linke. Doch im Pop erkannten sie gerade die Kultur des einzig wahren Widerstands gegen "die Verhältnisse"; eine Kultur, die den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen konnte.

Ein voluminöser Band versammelt nun 73 Artikel aus 33 1/3 Jahren "Spex", von 1980 bis in die jüngste Vergangenheit. Prägende Autoren der Frühzeit wie Diedrich Diederichsen - heute Kunstprofessor - oder Clara Drechsler kommen ebenso ausführlich zu Wort wie der Schriftsteller Dietmar Dath, der das Magazin Ende der 90er-Jahre leitete, oder der Journalist Max Dax, der die "Spex" 2006 von Köln nach Berlin holte und bis 2010 herausgab. In dieser Zeit hat auch der Verfasser dieses Textes eine Weile als Autor der "Spex" gewirkt - wie fast alle, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland in irgendeiner Weise mit Popkritik beschäftigt waren.

Die Popmusik im Besonderen
Max Dax hat nun auch, gemeinsam mit Anne Waak, die "Spex"-Retrospektive herausgegeben. Dabei ist nicht nur eine Geschichte des Schreibens über Musik herausgekommen, sondern natürlich auch eine Geschichte der Popmusik der letzten Jahrzehnte. Wir sind dabei, wenn der junge Spex-Autor Lothar Gorris - heute Kulturchef des "Spiegel" - 1983 mit einer aufstrebenden New Yorker Disco-Sängerin und Tänzerin namens Madonna eins ihrer ersten Interviews führt.

Fünf Jahre später entdeckt ein Redakteur in Detroit eine ganz neue, elektronisch-minimalistische Musik namens Techno - und äußert erhebliche Zweifel daran, dass dieser Techno wirklich die "Sensation" ist, zu der manche ihn machen wollen. Gleich eine ganze Runde von klugen Köpfen erörtert 1994 in einem schier endlos ausufernden Gespräch die Bedeutung des Selbstmords von Kurt Cobain für die Popmusik im Besonderen und die Menschheit im Allgemeinen.

Vom Mainstream bis zum Underground wird der Pop hier in seiner ganzen Breite verhandelt. Doch auch, wenn man viele Künstler und Gruppen gar nicht kennt, über die geschrieben wird, kann man das "Spex Buch" mit Gewinn lesen: Die besondere Weise, in der die "Spex"-Autoren vor allem der 80-Jahre die scheinbar so simplen Popsongs zum Gegenstand höchst intellektueller Analysen erhoben, hat unseren Blick auf die moderne Kultur im Ganzen verändert.

Für Kunstwerke, die als nicht kritikwürdig galten, haben sie eine eigene Sprache erfunden, die bis auf den heutigen Tag weiterwirkt.

Besprochen von Jens Balzer

Max Dax und Anne Waak: Spex. Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop.
Metrolit, Berlin 2013
480 Seiten, 28,00 Euro
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