Polizei und Protest in Brokdorf

Die Demo, die die politische Kultur veränderte

Die größte Demonstration, die die Bundesrepublik bis dahin gesehen hatte: Protest gegen das AKW Brokdorf Ende Februar 1981
Die größte Demonstration, die die Bundesrepublik bis dahin gesehen hatte: Protest gegen das AKW Brokdorf Ende Februar 1981 © picture alliance / dpa / Klaus Rose
Von Gudula Geuther · 19.07.2017
Der Widerstand gegen das AKW Brokdorf hat die Debatte über bürgerliche Grundrechte in Deutschland stark beeinflusst. Seit dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985 heißt es: Im Zweifel immer für die Versammlungsfreiheit.
"Wehrt Euch, leistet Widerstand! Gegen die Atomwirtschaft im Land …"
1975 beginnt der Bau des Kernkraftwerks Brokdorf in Schleswig-Holsteins Wilstermarsch, gut 60 Kilometer nordwestlich von Hamburg. Von Anfang an ist Brokdorf DER Anziehungspunkt der Anti-Atomkraft-Bewegung, mit Versuchen der Demonstranten, das Baugelände zu besetzen, mit erbitterten Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Wassergräben, Betonwänden, Flutlicht und Stacheldraht ein regelrechtes Bollwerk errichtet.
Bei der so genannten Schlacht um Brokdorf 1976 werden hunderte Demonstranten verletzt. Und immer wieder fliegen Steine oder Stahlkugeln gegen die Sicherheitskräfte.
"Wasserwerfer Marsch!"
"Kein Kernkraftwerk in Brokdorf!"
Rechtliche Auseinandersetzungen führten zum Baustopp – bis 1981. Als sich der Weiterbau ankündigte, machten auch Pläne für eine Großdemonstration die Runde. Bevor die zur Anmeldung kam, erließ der Landrat des Kreises Steinburg eine Allgemeinverfügung, die jegliche Demonstration verbot – weil Gewalt zu erwarten sei.

Jede Demonstration sollte verboten werden

Zur Begründung verwies der Landrat auf Flugblätter und Aufrufe - und auf frühere Erfahrungen. Es habe sich gezeigt, dass sich potentielle Störer und Gewalttäter bewusst die bloße Präsenz friedlicher Demonstranten zunutze machten, indem sie diese als ihren Schutzschild missbrauchten.
Tagesschau in der ARD:
"Guten Abend meine Damen und Herren. Trotz Verbots gab es heute am Bauplatz des Atomreaktors Brokdorf eine der größten Demonstrationen von Kernkraftgegnern. (…) Noch in der vergangenen Nacht hatte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die zuvor vom Verwaltungsgericht Schleswig beschlossene Lockerung des Demonstrationsverbotes wieder aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Tausende von Kernkraftgegnern mit Tausenden von Bussen auf dem Weg in die Wilstermarsch zur Protestaktion in Brokdorf. Heute Mittag schließlich lehnte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Anordnung gegen das Demonstrationsverbot für die Stadt Wilster ab."
Es bleibt also beim Verbot. Um die 10.000 Menschen hören gleichwohl in der Stadt dem Vorstand des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz, Jo Leinen, zu:
"An der gespannten Situation, in der wir uns jetzt alle befinden, sind nicht diejenigen schuld, die zu einer Demonstration gegen das Atomkraftwerk aufgerufen haben, sondern diejenigen, die das Demonstrieren in der Umgebung von Atomkraftwerken ganz verbieten wollen. Es geht am Wochenende deshalb mittlerweile in der Wilstermarsch nicht mehr nur um einen Protest gegen die Atomenergie, sondern um einen Kampf für die Erhaltung des Demonstrationsrechts."
Trotz großräumiger Straßensperren machen sich Tausende auf den Weg zum Bauplatz.

Die Polizei hebt die Sperren auf

Die Polizei lässt diejenigen, die sich einzeln auf Waffen, Steine, Stangen kontrollieren lassen, passieren, hebt später die Sperre ganz auf.
Die Zahlenangaben schwanken. Bis heute sprechen Atomkraftgegner von damals von 100.000 Teilnehmern, andere gehen von 50.000 aus.
So oder so - die Bundesrepublik hat eine Demonstration dieser Größe bis dahin nicht erlebt. Der Zug über die grauen, gefrorenen Felder verläuft friedlich - bis am Nachmittag, als viele schon aufbrechen, eine Gruppe von etwa 3000 militanten Demonstranten am Bauzaun mit Steinen und Molotowcocktails auf die Polizei losgeht. Die antwortet mit Tränengas und Wasserwerfern. 128 Polizisten und viele Demonstranten werden verletzt.
Die Befürchtungen hatten sich also bewahrheitet. Trotzdem – wann darf eine Versammlung verboten werden?
Vier Jahre sollten vergehen, bis der Erste Senat mit dem Brokdorf-Beschluss die Grundlagen für das Demonstrationsrecht in der Bundesrepublik legte – mit konkreten Regeln, die bis heute gelten, vor allem aber mit der klaren Ansage: Im Zweifel für das Demonstrationsrecht, so das Gericht:
"Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens."

Hoher Wert der Meinungsfreiheit

Dahinter stand für die Richter der hohe Wert der Meinungsfreiheit. Und Überlegungen, die so nur für das Demonstrationrecht gelten:
"Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirkt nicht nur dem Bewusstsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen."
So verstanden will also das Grundgesetz aktive Bürger, die sich einbringen – und deren individuelles Recht Gewicht hat. Deshalb genügt es für ein Verbot auch nicht, wenn Gewalt und Ausschreitungen zu befürchten sind – es sei denn, das ginge gerade auf die Veranstalter zurück.
"Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen 'umzufunktionieren' und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen. Praktisch könnte dann jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer 'Erkenntnisse' über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen."
So viel Verständnis für Demonstranten waren noch vor dreißig Jahren alles andere als selbstverständlich. Viele Medien, darunter auch eher liberale, hatten sich im Vorfeld klar für ein Verbot der Brokdorf-Demonstration ausgesprochen.
Auch nach der Entscheidung war das Echo gemischt. Während der rechtsstaatsliberale Hans Schueler in der Zeit feierte, dass sich die Richter für den "Aktivbürger" entschieden hätten, der vom Willen zur politischen Mitwirkung getragen war, sah der konservative FAZ-Jurist Friedrich Karl Fromme das ganz anders. Seine Skepsis sah er gerade durch die Demonstration in Brokdorf bestätigt, die er als überaus gewalttätig beschrieb. Über die 50.000 bis 100.000 friedlich Demonstrierenden fügte er hinzu: "Es mag dabei, wie bei anderen Demonstrationen auch, friedliche Teilnehmer gegeben haben, Neugierige und Sensationslüsterne."

Die einzelnen Entscheidungen sind oft umstritten

Heute sind die Maßstäbe der Brokdorf-Entscheidung Allgemeingut – mindestens in der Theorie. Klar ist etwa vor dem G20-Gipfel, dass trotz zu erwartender Ausschreitungen Demonstrationen möglich sind – und geschützt werden, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière betont.
"Das Sicherheitskonzept hat zum Ziel, die Hamburgerinnen und Hamburger zu schützen, auch die Sicherheit friedlicher Demonstranten zu schützen und die Sicherheit der Teilnehmer an diesem Gipfel zu schützen. Friedlicher Protest ist in unserer Demokratie willkommen und erlaubt."
Die Grundentscheidung "Im Zweifel für die Versammlungsfreiheit" wirkt heute in vielen einzelnen, oft umstrittenen Entscheidungen nach. Gerichte erlaubten die Protestcamps in Hamburg mindestens zum Teil. Gerichte in Thüringen entschieden letztlich nach den Brokdorfer Maßstäben, dass Rechtsextremisten Schutz und Hilfe vom Staat für ihre Versammlung in Themar in der vergangenen Woche beanspruchen können – selbst wenn die Versammlung ein Konzert ist, für das Eintritt verlangt wird. Beides – die Entscheidungen von Hamburg und von Themar sind umstritten, so wie viele andere Einzelentscheidungen auch.
Das Demonstrationsrecht ist es nicht mehr.
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