Politologin Bilgin Ayata über die Türkei

Erdoğan in der Zwickmühle

28:25 Minuten
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beim G-20-Treffen in Osaka
Präsident Recep Tayyip Erdoğan sei in der Türkei, aber auch außenpolitisch in einer Zwickmühle, sagt die Politologin Bilgin Ayata. © picture alliance / Murat Cetinmuhurdar / Anadolu Agency
Moderation: Patrick Garber · 29.06.2019
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Der Sieg der Opposition bei der Oberbürgermeister-Wahl in Istanbul ist für Recep Tayyip Erdoğan ein herber Schlag. Die Politologin Bilgin Ayata hat den Eindruck, dass der türkische Präsident zum ersten Mal den Überblick über die Lage verloren habe.
Recep Tayyip Erdoğan, der türkische Präsident, ist eigentlich ein Mann harscher Worte. Doch nach der Wahlschlappe, die seine Partei AKP in Istanbul erlebt hat, gab Erdoğan sich ungewohnt mild: Er habe verstanden, sagte er.
"Abwarten", meint dazu die Politologin und Türkei-Kennerin Bilgin Ayata. Es könne durchaus sein, dass der autoritär regierende Präsident die Zügel jetzt noch stärker anziehe. Immerhin stehe die Architektin des Wahlsiegs der Opposition bei der Oberbürgermeister-Wahl in Instanbul nun vor Gericht – wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten per Twitter.

Die Türkei, ein gespaltenes Land

Generell sieht Bilgin Ayata die regierende AKP aber unter Druck. Vor allem in den Großstädten verliere die Partei des Präsidenten kontinuierlich Wähler – und das obwohl die Medien praktisch vollständig unter Kontrolle der Regierenden seien. Und der Verlust des Istanbuler Rathauses, in dem Erdoğan selbst einst seinen politischen Aufstieg begonnen hat, zeige einmal mehr, wie tief die Türkei gespalten sei. Denn während sich in den großen Städten immer mehr Wähler von Erdoğan abwendeten, sei auf dem Land seine Anhängerschaft ziemlich stabil.
Allerdings treffe die anhaltende Wirtschaftskrise in der Türkei mit hoher Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit vor allem die Menschen mit kleinem und mittlerem Einkommen – Erdoğans Stammwähler. Und diese Krise sei zum großen Teil hausgemacht.

"Schaukelpolitik" zwischen Nato und Russland

Hinzu kommt außenpolitischer Ärger. Der Streit mit den USA um den Kauf hochmoderner russischer Raketen durch Ankara könne dem Land schmerzhafte Wirtschaftssanktionen einbringen. Erdoğans "Schaukelpolitik" zwischen Russland und der Nato und seine konfrontative Rhetorik nach innen wie nach außen haben ihn in eine Zwickmühle gebracht, in die er sich immer tiefer hineinmanövriere, so Bilgin Ayata.
(pag)

Prof. Bilgin Ayata ist Assistenzprofessorin für Politische Soziologie an der Universität Basel. Geboren in Ulm, erwarb Bilgin Ayata einen Master in Political Science an der York University (Kanada) und wurde 2011 an der Johns Hopkins University (USA) promoviert. Sie forscht über Transformationsprozesse, die durch Migration, Konflikte, soziale Bewegungen und Erinnerungspolitik beeinflusst werden. Ihr regionaler Schwerpunkt umfasst den Nahen Osten und Europa, insbesondere die Türkei und die kurdischen Gebiete.


Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Eine herbe Schlappe war das für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vorigen Sonntag. Die Neuauflage der Oberbürgermeisterwahl in der Millionenstadt Istanbul, die Erdoğan durchgedrückt hatte, weil ihm das Ergebnis der ersten Runde nicht gepasst hat, diese Wahl hat der Kandidat der Opposition gewonnen – und zwar mit deutlichem Vorsprung.
Was bedeutet das für die Türkei? Etwa den Anfang vom Ende des Systems Erdoğan, wie manche Beobachter meinen? Darüber spreche in nun mit Bilgin Ayata. Sie ist eine deutsche Politologin und profunde Kennerin der Türkei. Guten Tag, Frau Ayata.
Bilgin Ayata: Hallo. Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Ayata als Professorin für politische Soziologie. An der Universität Basel beobachten Sie gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Waren sie überrascht, wie deutlich der Oppositionskandidat Ekrem Imamoğlu die Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul gewonnen hat?
Ayata: Ich war überrascht, dass Erdoğan so schnell seinen Gewinn akzeptiert hat. Das war für mich eher überraschend. Denn schon in den vergangenen Wahlen konnten wir sehen, dass die AKP an Zustimmung bereits…
Deutschlandfunk Kultur: … die Partei von Erdoğan.
Ayata: Richtig, dass die Partei von Erdoğan schon an Zustimmung verloren hat und die Opposition schon bereits in den letzten vier Wahlen sehr viel an Stimmen gewonnen hat und es immer sehr knapp war. Dass es dann schlussendlich dieses Mal in Istanbul geklappt hat, war überraschend insofern, dass doch Erdoğan im Vorfeld versucht hat, das wieder zu unterbinden. Das waren ja die zweiten Wahlen, nachdem bereits am 31. März Ekrem Imamoğlu schon als Gewinner hervorgetreten war.
Deutschlandfunk Kultur: Bei dieser Wahl am 31. März war der Abstand zwischen ihm und dem Kandidaten der AKP ja noch sehr, sehr gering, hauchdünn. Jetzt sind es satte neun Prozent geworden.
Ayata: Richtig.

Wille der Bevölkerung nicht respektiert

Deutschlandfunk Kultur: Was sind die Gründe dafür Ihrer Meinung nach?
Ayata: Da gibt es zwei wichtige Gründe, würde ich sagen. Zum einen konnte man sehen, dass diese sehr offensichtliche Wiederholung dieser Wahl nicht gut begründet war. Es war nicht überzeugend, weshalb nochmal gewählt werden sollte, und somit sehr deutlich war, dass eben der Wille der Bevölkerung, der Wahlbevölkerung nicht respektiert wurde.
Diese hohe Zustimmung ist daher zum einen ein Ausdruck dessen, dass die Menschen dann doch nochmal ihrer Stimme sozusagen treu geblieben sind und auch gut mobilisiert wurde. Aber es wurde auch strategisch und taktisch gut operiert. Die Unterstützung der pro-kurdischen Partei HDP war hier sehr wichtig auch bei dem Stimmenzuwachs. Die Kurden haben keinen eigenen Kandidaten aufgestellt. Keine der anderen Oppositionsparteien haben Kandidaten aufgestellt. Es war alleine Imamoğlu gegen Binali Yıldırım, den Kandidaten der AKP. Das war zum einen ein ganz wichtiger Grund.
Ich denke, ein weiterer Grund war, dass im Vergleich zu der Wiederholung der Wahlen 2015… Da sollte ich vielleicht kurz nochmal daraufhin verweisen: Am 7. Juni 2015 wurde damals in den nationalen Parlamentswahlen auch die absolute Mehrheit der AKP im Parlament zum ersten Mal verhindert durch den Einzug der pro-kurdischen HDP. Auch daraufhin hatte Erdoğan Neuwahlen wieder angesetzt. Also, das war der Vorläufer dieser Korrektur sozusagen. Doch damals kam es dann auch sehr viel zu Gewalt, Terrorakten, zu einer Terrorisierung der Bevölkerung, die schließlich dazu geführt hat, dass bei den zweiten Wahlen viel weniger Menschen auch überhaupt zur Urne gingen.
Das ist dieses Mal nicht passiert, zum Glück. Die Bedingungen waren – relativ gesehen – besser.

"Alles wird sehr schön"

Deutschlandfunk Kultur: Lag das auch am Kandidaten Imamoğlu, der ja mit dem Slogan angetreten ist, "alles wird sehr schön"? Also, ein richtiger Wohlfühlslogan und herber Kontrast zu dieser sehr schrillen Rhetorik, die die AKP immer fährt oder vor allem Herr Erdoğan persönlich.
Ayata: Ja, ich denke, dass diese sehr eher ruhige, sage ich mal, Statur von Imamoğlu und auch dieser Slogan, der ja jetzt zum einen beruhigend ist, aber auch nicht sehr Konkretes verspricht, doch etwa dann so war, dass es diesen Druck, diese ständige Polarisierung und diese Aufheizung, derer die Personen, die Menschen, die in der Türkei leben, nun langsam wirklich überdrüssig sind, auch sehr geholfen hat. Er hat ja etwas fast Meditatives, möchte man ja sagen. Also, es gab ja ein Fernsehduell zwischen den beiden Kandidaten, wo Imamoğlu insbesondere eben durch seine sehr ausgeglichene Art da auch gepunktet hat.

"Imamoğlu hat das Potenzial"

Deutschlandfunk Kultur: Könnte Ekrem Imamoğlu auch landesweit, auf Landesebene ein Herausforderer werden für Erdoğan?
Ayata: Das ist sicherlich möglich. Aber ich möchte auch darauf verweisen, dass bei den Präsidentschaftswahlen die Debatte über den Kandidaten damals, Muharrem Ínce, auch sehr ähnlich verlief. Das war damals der Kandidat der Republikanischen Volkspartei für die Präsidentschaftswahlen, der auch sehr stark mobilisiert hat und sehr vielversprechend war. Er ist jetzt aber nicht mehr auf der Bildfläche, nachdem es dort nicht geklappt hat.
Ich denke, Imamoğlu hat auf jeden Fall das Potenzial. Es wird ja jetzt auch sehr viel die Parallele zu Erdoğan gezeigt, dessen große politische Karriere eben auch mit der Wahl zum Bürgermeister von Istanbul ja begonnen hat. Diese Analogie wird jetzt ja auch sehr häufig gezogen.
Ich denke, dass auch eine weitere Person sehr interessant sein könnte, und zwar die Vorsitzende der CHP Canan Kaftancıoğlu, die Frau, die ja auch maßgeblich zu dem Erfolg von Imamoğlu in Istanbul beigetragen hat.
Deutschlandfunk Kultur: CHP ist die Partei von Ekrem Imamoğlu.
Ayata: Richtig, die Republikanische Volkspartei.
Deutschlandfunk Kultur: Die Republikanische Volkspartei, die jetzt sozusagen der Gralshüter des Erbes von Atatürk ist, des Republik-Gründers.
Ayata: Richtig.

17 Jahre Haft für Tweets?

Deutschlandfunk Kultur: Diese Dame steht seit gestern vor Gericht.
Ayata: Ja. Das ist immer ein Zeichen dafür, dass vielleicht sie tatsächlich ein großes Potenzial hat. Sie ist ja nicht die erste Politikerin. Canan Kaftancıoğlu steht tatsächlich vor Gericht, weil, ihr werden 35 Tweets zur Last gelegt, wo sie den Präsidenten beleidigt haben soll. Und die Staatsanwaltschaft möchte 17 Jahre Gefängnis dafür. Sie ist aber nicht dadurch bekannt und populär geworden, sondern wirklich durch ihre sehr starke Haltung in dem Vorsitz in Istanbul, in der Republikanischen Volkspartei, als eine Person, die die Partei erneuern will.
Das Problem mit der Republikanischen Volkspartei ist, die – wie gesagt – der Standhalter sozusagen der Republik ist, dass sie sehr verknöchert, etwas veraltet und sehr männlich ist. Und Canan Kaftancıoğlu ist eine Frau, die sehr viel frischen Wind hineinbringt.
Deutschlandfunk Kultur: Um nochmal auf Istanbul zurückzukommen: Wie aussagekräftig ist dieses Ergebnis denn für die Stimmung im ganzen Land? Also, ist das ein Anzeichen dafür, dass größere Bevölkerungsteile wirklich genug haben von der konfrontativen Politik von Herrn Erdoğan? Ist das ein Sonderergebnis dieser großen Metropole, das man nicht unbedingt 1:1 auf die ganze Republik übertragen kann?
Ayata: Nein, es ist auf gar keinen Fall ein Sonderergebnis. Denn Istanbul ist nicht die erste Stadt, die von der Opposition regiert wird. In den Wahlen am 31. März war es ja auch so, dass Ankara und Izmir, also alle großen Städte, nun mittlerweile von der Oppositionspartei regiert werden. Insgesamt, denke ich, ist es wichtig zu sehen, dass die Türkei eben in den letzten Jahren doch von einer sehr tiefen Spaltung geprägt ist, wo ohnehin fast die Hälfte der Bevölkerung sich sehr stark gegen die Regierung Erdoğans ja schon gestellt hat.
Das ist jetzt nicht neu. Das wird natürlich zunehmend stärker. Denn es gibt auch einen bestimmten Frustrationsgrad, dass – obwohl die AKP die Wahl immer nur sehr, sehr, sehr knapp gewinnt – die Situation für die Opposition sich nicht ändert. Also, Erdoğan wird nicht versöhnlicher. Es gibt wenig Politikveränderung. Der Graben wird nur weiter tiefer. Und das löst nun natürlich eine bestimmte Ungeduld auch aus. Das Gefühl, für immer und ewig in diese Situation verdammt zu sein, ist keine Perspektive.

Erdoğans "anatolisches Hinterland"

Deutschlandfunk Kultur: Es ist auch ein Graben zwischen Stadt und Land. Sie sagen, die Großstädte fallen immer mehr an die Opposition, während bei der letzten Kommunalwahl auf dem Land die AKP nach wie vor sehr stark war.
Ayata: Richtig. Ja, natürlich ist die Stadt-Land-Unterteilung sehr wichtig für die AKP. Das "anatolische Hinterland" sozusagen, wie das ja sehr oft auch in der Presse verwendet wurde, war schon immer natürlich die große Unterstützung für die AKP.
Nun sind die Großstädte als Ballungszentren unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen sehr wichtig, nicht nur aufgrund der Zusammensetzung der Bevölkerung, aber natürlich auch, weil das die Wirtschaftszentren sind. Und die Bedeutung von Istanbul ist natürlich nicht nur, dass es die größte Stadt mit 16 Millionen, das ist ja fast ein eigenes Land innerhalb der Türkei, sondern natürlich, dass hier die Wirtschaftszentren sind, die die AKP unbedingt natürlich regieren möchte.

"Erdoğan verliert die Übersicht"

Deutschlandfunk Kultur: Und bisher konnte Erdoğan ja auch gerade mit den wichtigen Unternehmen in Istanbul ganz gut noch aus seinen alten Beziehungen. Aber jetzt hat er ja offensichtlich einen kapitalen Fehler gemacht, als er diese Wahl in Istanbul oder die Wiederholung der Wahl in Istanbul durchgedrückt und mit Pauken und Trompeten verloren hat. – Zeigt das, dass Erdoğan sein politischer Instinkt, sein Gespür für die Stimmung im Land abhanden gekommen ist?
Ayata: Es ist schon in der Tat interessant, wie unerfolgreich diese neue Wahl, also diese Wahlwiederholung für Erdoğan war. Denn wie gesagt, 2015 hat er das schon einmal eingeleitet und dort hat es ja für ihn funktioniert. Das hat ja tatsächlich dann zu geführt, dass der damalige größte Herausforderer, die pro-kurdische Partei HDP, nicht nur Sitze eingebüßt hat, sondern es folgte dann daraufhin eine massive Verfolgung und Kampagne gegen die HDP, die jetzt in ihren Parteistrukturen sehr geschwächt ist. Und ihr Vorsitzender ist seit zwei Jahren im Gefängnis.
Es scheint, dass bei dieser Wahlwiederholung nun eine Art Hemmnis auch von Erdoğans Seite war, dass er nicht ganz all seine Mittel herausgeholt hat. War das Überschätzung von seiner Macht? Oder war das auch natürlich die Überforderung mit der Situation insgesamt in der Türkei – außenpolitisch große Herausforderungen, die große Herausforderung aufgrund der wirtschaftlichen Lage? Auch wird ja zunehmend bekannt, dass es auch viele Probleme innerhalb der AKP gibt. Das heißt, es scheint doch sehr stark zu brodeln in der AKP. Zum ersten Mal hatte man den Eindruck, dass Erdoğan die Übersicht über die Lage verliert.
Deutschlandfunk Kultur: In einer ersten Reaktion auf das Wahlergebnis in Istanbul hat Präsident Erdoğan gesagt, er habe die Botschaft der Wähler verstanden und er wolle Lehren daraus ziehen. – Was kann das bedeuten?
Ayata: Das müssen wir tatsächlich jetzt abwarten, denn bisher folgten auf diese Aussagen wenig Konsequenzen. Es müsste von der Seite Erdoğans nun wirklich deutlich werden, dass es mit kleinen Tricks nicht mehr funktioniert. Also, die Wochen vor den Wahlen wurden ja dann richtig abenteuerlich, als Erdoğan dann mit sehr dubiosen Mitteln er auch nochmal versucht hat, die kurdischen Wähler zu gewinnen. Es zirkulierte auf einmal ein Brief von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Vorsitzenden der PKK, der angeblich zu einer Neutralität aufgerufen hat, dass die Kurden eben nicht für Imamoğlu stimmen. Und das hat sehr viel zu Witz und nicht Ernstnehmen geführt.
Diese kleinen Strategien oder kleinen Tricks, mit denen Erdoğan zu glauben scheint, die Bevölkerung – sei es jetzt die kurdische oder andere Bevölkerung – manipulieren oder dirigieren zu können, das scheint jetzt gegenläufig, hatte gegenläufige Effekte. Das funktioniert wohl jetzt nicht mehr gut.

Eskalation, Dramatisierung, Polarisierung

Deutschlandfunk Kultur: Wenn über einen autoritären Machthaber Witze gemacht werden, dann ist das ja schon mal kein gutes Zeichen für ihn. – Glauben Sie, dass Erdoğan seinen innenpolitischen Konfrontationskurs jetzt etwas abschwächt und irgendwie auf die Opposition zugeht? Und wie könnte er das tun, bei welchen Themen?
Ayata: Eigentlich kommt diese Frage in den letzten Wahlen immer wieder auf. Zwar hat Erdoğan die letzten vergangenen Wahlen, seien es die Präsidentschaftswahlen oder das wichtige Referendum, zwar nicht verloren. Aber man muss dabei immer bedenken, dass die gesamten Medien Erdoğan unterstellt sind, dass er unglaubliche Ressourcen hat, Wahlkämpfe zu führen, dass es hier sehr ungleiche Bedingungen gibt. Trotzdem wurde es immer sehr, sehr knapp. Das muss man natürlich in Relation sehen und verstehen, dass eigentlich Erdoğan bei den letzten Wahlen doch letztlich immer sehr herbe Verluste hinnehmen musste. Eigentlich hätte er schon viel früher auf diese Zeichen reagieren müssen.
Ich bin etwas skeptisch, dass jetzt von ihm versöhnliche Töne oder weniger polarisierende Töne kommen werden. Denn Eskalation, Dramatisierung und Polarisierung waren bisher die erfolgreichsten Mittel von Erdoğan. Mit Versöhnlichem hat er es bisher doch auch schwierig gehabt.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben schon über die Istanbuler Parteivorsitzende der CHP gesprochen, die jetzt vor Gericht steht. Diese Woche wurden auch wieder Dutzende angebliche Putschisten zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Also, es sieht nicht unbedingt so aus, als würde die Politik sofort nachgiebiger. – Kann es im Gegenteil sein, dass Erdoğan jetzt nach dieser Schlappe die Zügel noch straffer anzieht?
Ayata: Das ist zu erwarten. Es fand ja kurz nach den Wahlen auch der Auftakt zu dem Prozess der Gezi-Proteste statt, wo bisher 16 Personen angeklagt werden, darunter einer der wichtigsten, prominentesten zivilgesellschaftlichen Akteure, Osman Kavala, der bereits auch schon fast knapp zwei Jahre im Gefängnis gehalten wird.

Staatsgefährdende Blumen

Deutschlandfunk Kultur: Das sind also diese Proteste um den Gezi-Park vor einigen Jahren.
Ayata: 2013, richtig, als Tausende, Millionen von Menschen, also, zuerst Tausende, später dann im gesamten Land Millionen von Menschen auf die Straße gingen. Das war ja für Erdoğan die erste große Herausforderung, dass sich die Bevölkerung so stark – zwar erst gegen die Umwandlung eines Parks – gewehrt hat, sich aber dann letztlich doch zu einer sehr großen Bewegung von unten gegen das Regime von Erdoğan entwickelt hatte. Das soll jetzt nun alles als ein Putschversuch geahndet werden.
Die Anklageschrift, die über 600 Seiten geht, hat sehr zweifelhafte oder sehr problematische oder nicht glaubwürdige Elemente, die zum Beispiel auch beinhalten: Demonstranten hätten den Polizisten Blumen geschenkt. Also, man sieht, es wird hier wirklich mit Ach und Krach versucht, einer zivilen Protestbewegung den Versuch von Putsch und Staatsübernahme zuzuschreiben.
Es wäre ein starkes Signal von Erdoğan, wenn auch Osman Kavala nun endlich freikommen würde. Aber das ist eben nicht geschehen in der ersten Verhandlung. Stattdessen werden die Anklagen gegen ihn weiter erhoben. Und er ist weiter im Gefängnis. Nur einer der Angeklagten wurde vorläufig auf freien Fuß gesetzt.

Eine konservative Alternative zu Erdoğan?

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben schon angesprochen, dass es in der Partei von Präsident Erdoğan, der AKP, ein bisschen rumort. Denn der Nimbus ihres Chefs hat jetzt ja Kratzer bekommen. – Könnte es da zu Absetzbewegungen kommen? Es soll ja einige ehemalige Weggefährten Erdogans geben, die seine faktische Alleinherrschaft nicht mehr gut finden.
Ayata: Das ist richtig. Im Verlauf der 16 Jahre hat Erdoğan ja mit seiner sehr restriktiven und sehr zentralistischen Politik sich auch einige Feinde auch innerhalb der eigenen Reihen "anerzogen" sozusagen, also, frühere Mitstreiter, die dann links liegen gelassen worden sind und heute von der politischen Bildfläche verschwunden sind, erstmal von der Öffentlichkeit. Aber sie treten immer wieder auf, gerade wenn es um Wahl geht. Wenn Wahlen anstehen oder Abstimmungen anstehen, erinnert man sich wieder an diese politischen Figuren. Und genau diese sollen nun eventuell in einer Partei, einer alternativen Partei zusammenkommen. Das wäre natürlich eine interessante Entwicklung, denn die AKP ist ja selber genau so entstanden. Sie ist ja entstanden, damals wurde sie formiert von Erdogan und Abdullah Gül und anderen Mitstreitern in Abgrenzung zu der Wohlfahrtspartei unter Erbakan, die dann sozusagen als Erneuerung, als verjüngte Version dieser Partei sehr erfolgreich wurde.
Es wäre spannend zu sehen, wenn diese Figuren, wie zum Beispiel der ehemalige Außenminister Abdullah Gül oder der ehemalige Ministerpräsident Davutoğlu, den Mut fassen würden, tatsächlich nun eine eigene Partei zu gründen und somit innerhalb der konservativen Wählerschaft nun eine zweite Alternative anbieten würden.
Deutschlandfunk Kultur: Das eine sind die parteipolitischen Entwicklungen. Das andere ist die Wirtschaft. Wir haben schon kurz von Ihnen gehört, dass die türkische Wirtschaft schwächelt. Die Landeswährung Lira ist auf Talfahrt. Die Preise steigen. Die Arbeitslosigkeit steigt auch. – Hat Erdoğan, hat seine Partei in Istanbul die Quittung bekommen für die schlechte Wirtschaftslage?
Ayata: Sicherlich auch, das war mitunter ein sehr wichtiger Grund. Denn zunehmend ist die enorme Inflation von 20 Prozent mittlerweile sehr stark zu spüren. Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Lira, wie Sie schon richtig gesagt haben, befindet sich auf einer Talfahrt. Investoren ziehen ab. Die Perspektive für die einst sehr dynamische wirtschaftliche Entwicklung der Türkei lässt deutlich nach. Das wird von gerade der Wählerschaft der AKP, zu der ein sehr wichtiger Teil genau der unteren Mittelschicht gehört, sehr, sehr stark gespürt.

Zickzackkurs in der Außenpolitik

Deutschlandfunk Kultur: Also, die merken, dass alles teurer wird.
Ayata: Die merken das sehr deutlich. Die Verteuerung ist in aller Munde. Allerdings würde ich damit nicht alleine den Wahlerfolg in Istanbul erklären, denn dieses Argument war ja schon präsent bei der Präsidentschaftswahl. Auch da wurde ja sehr stark schon vermutet, dass eben diese desolate wirtschaftliche Situation zum Verlust oder zu einer herben Niederlage von Erdoğan führen würde. Letztlich war sie dann in den Wahlen doch nicht so ausschlaggebend, wie man vermutet hatte.
Aber mit den anstehenden Sanktionen der USA, sollte es zu Vereinbarungen mit Russland kommen – und die Androhung von Sanktionen der USA – erinnert sich die Bevölkerung natürlich auch an die Situation vor zwei Jahren, wo schon mal die Lage war, die dann zu diesem rapiden Verfall der türkischen Lira geführt hat. Das heißt, Erdoğans Zickzackkurs in der Außenpolitik, der immer sehr stark eine Auswirkung auf die wirtschaftliche Situation hat, wird von der Bevölkerung natürlich auch sehr stark wahrgenommen.

Der Verschwörungs-Diskurs

Deutschlandfunk Kultur: Ein Erfolgsrezept Erdoğans, wenn ich das richtig verstanden habe, in den letzten Jahren war ja ein Wohlstandsversprechen, das er dieser gesellschaftlichen Gruppe, dem unteren Mittelstand gegeben hat – "die Wirtschaft boomt und ihr könnt aufsteigen". – Könnte die anhaltende wirtschaftliche Schwäche dazu führen, dass der AKP wirklich die gesellschaftliche Basis wegbricht?
Ayata: Die wirtschaftliche Lage wird sehr häufig als eine Art Hoffnungsschimmer für einen Regimewechsel herangezogen. Ich bin dem gegenüber insofern ein bisschen skeptisch, weil die wirtschaftliche Lage wirklich schon seit zwei Jahren so schlecht ist, dass wir viel stärker diese Effekte spüren müssten. Man darf nicht vergessen, dass Erdoğan den gesamten Medienapparat kontrolliert. Das heißt, die objektiven Zahlen und auch die Erfahrungen, die die Menschen natürlich in ihrem Alltagsleben machen, stehen natürlich im eklatanten Widerspruch zu der ständigen Propaganda, die in den Medien geführt wird.
So wird die missliche Lage natürlich immer den ausländischen Feinden der Türkei zugesprochen und nicht der AKP. Das ist leider auch immer wieder sehr erfolgreich. Dieser Verschwörungs-Diskurs, dass der Westen einfach nicht möchte, dass es der Türkei gut geht, wird hoch und runter in den türkischen Medien rezitiert. Das hat leider auch insoweit eine Wirkung, dass dann wirklich sehr abstruse Theorien innerhalb der Gesellschaft zirkulieren und die objektiven Faktoren nur gering wahrgenommen werden.
Deutschlandfunk Kultur: Zu den objektiven Faktoren gehört, dass in den ersten Jahren Erdoğans, als er noch Ministerpräsident war, die türkische Wirtschaft boomte, enorme Wachstumszahlen zeigt. Ist die jetzige Wirtschaftskrise hausgemacht?
Ayata: Die ist zu einem Teil hausgemacht. Zum einen Teil hat sie natürlich mit dem regionalen Kontext zu tun. Der Boom, den die Türkei erlebt hat, hatte auch sehr viel damit zu tun, dass die Türkei sich einen sehr neuen Absatzmarkt geschaffen hat. Und zwar war bis dato, bis zu dem Zeitpunkt, bis in die 2000er Jahre die Türkei sehr stark auf einen Export mit der EU fokussiert oder mit einigen wenigen Handelspartner, wie zum Beispiel Russland. Doch was die Türkei oder die AKP, muss man ja dann auch zugestehen, machte, war dann 2005, 2007 eine Öffnung in die Nachbarschaft, also in den Nahen und Mittleren Osten, wo die AKP es dann geschafft hat, nicht nur neue Absatzmärkte für sich zu gewinnen, sondern auch neue politische Partner.
Das ging zum einen sehr gut – bis eben 2011. Da hatte sie nochmal einen weiteren Boom mit dem Arabischen Frühling. Aber als der Krieg dann in Syrien begann und der Dominoeffekt in der gesamten Region zur Instabilität geführt hat, hatte das natürlich auch direkte Folgen für die türkische Wirtschaft, die sich zunehmend auf die Nachbarschaft konzentriert hatte. Das war natürlich eine Art Fehlinvestition sozusagen. Unter Berücksichtigung dessen, dass sich die Situation in absehbarer Zeit in der Region nicht gerade bessern wird.

Die Türkei als globaler Partner

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, wirtschaftlich wäre der Fokus für die Türkei jetzt dann doch eher wieder die Europäische Union?
Ayata: Genau darauf fokussiert sie wieder, wobei sie natürlich ihre Beziehungen auch auf neue Märkte oder Partnerschaften in Asien, selbst auch in Afrika sehr stark ausgeweitet hat und tatsächlich dort auch Wirtschaftsbeziehungen pflegt. Die Vision der AKP, die Türkei zu einem nicht nur regionalen, sondern sogar auf globaler Ebene wichtigen Handels- und politischen Partner zu machen, daran arbeiten sie immer noch, aber eben mit weniger Erfolg.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben schon die Probleme angesprochen, die es zwischen Ankara und Washington gibt, die nicht neu sind und die schon einmal zur Sanktionsandrohung geführt haben – mit sofortiger Wirkung auf den Wechselkurs der türkischen Währung. Jetzt hat es wieder Ärger gegeben um ein geplantes Rüstungsprojekt. Die Türkei hat mit Russland einen Vertrag abgeschlossen über die Lieferung hochmoderner Luftabwehrraketen vom Typ S 400, was die USA enorm erbost. Sanktionsandrohungen sind gestellt worden. – Warum macht die Türkei, warum macht Erdoğan das?
Ayata: Zum einen ist nochmal sehr wichtig darauf hinzuweisen: Einer der Gründe, warum die Wirtschaft unter Erdoğan in den letzten Jahren gelitten hat, sind diese enormen Großprojekte und Investitionen, zum einen in diese Megaprojekte wie den Flughafen zum Beispiel,..

Unabhängig von Nato und USA

Deutschlandfunk Kultur: Von Istanbul.
Ayata: … den dritten Istanbuler Flughafen, aber eben auch – das ist weniger bekannt – in die Rüstung, in die Herstellung einer eigenen, einer türkischen Rüstungsindustrie. Tatsächlich ist es mittlerweile so, dass die Türkei sogar mehr eigene Waffen produziert als Israel. Und eines der Ziele, die von Erdoğan immer wieder zu hören sind, ist, dass sie sich nicht nur wirtschaftlich unabhängig machen möchte, sondern eben sich auch mehr von den USA oder von der Nato militärisch in Bezug auf die Rüstung unabhängig machen möchte. Und dadurch sehr stark in die eigene Produktion von Drohnen, U-Booten, Flugzeugen, Panzern usw. investiert.
Die Verhandlungen mit Russland würde ich auch genau mit dieser Perspektive betrachten, dass es ein Bestreben gibt, sich unabhängig von den USA zu machen. Das hat natürlich auch zum einen mit der Situation in Syrien zu tun, die ja der eigentliche Grund für das Zerwürfnis mit den USA sind: Die Türkei wehrt sich schon seit Jahren gegen die Politik der USA, die vor Ort in Syrien sehr stark auch mit den Kurden kooperiert hat, um den IS zu bekämpfen. Und der große Graben, der in der Zeit entstand, ist, dass die Türkei, anstatt den IS zu bekämpfen, dort genau die Partner der USA, nämlich die Kurden bekämpft.

Erdoğans Zwickmühle

Deutschlandfunk Kultur: Also, es ist eine komplexe Gemengelage, die aber nicht unbedingt bedeutet, dass Erdoğan oder die Türkei – aber die türkische Außenpolitik ist nun mal Erdoğan, ich glaube, das kann man schon so personalisieren – sich nun wirklich aus der Nato verabschieden will und in den russischen Einflussbereich möchte, sondern das ist mehr so eine Schaukelpolitik.
Ayata: Das ist ein ganz guter Ausdruck, eine Schaukelpolitik. In der Rhetorik nach innen, also zu seiner eigenen Wählerschaft und der eigenen Bevölkerung, vertritt Erdogan eine sehr stark antiwestliche Politik, wo auch genau Alternativoptionen zur Nato sehr offen artikuliert werden und die EU als ein unwichtiger Akteur belächelt wird etc. Auf der diplomatischen politischen Bühne klingt Erdogan dann natürlich wiederum anders. Und dieser Zickzackkurs, diese Inkonsistenz in einer sehr nationalistischen, antiwestlichen Rhetorik einerseits, die ihm ja Stimmen zukommen lässt, und der Realität, dass sich die Türkei das nicht leisten kann, wird dadurch für ihn eine politische Zwickmühle. In die wird er zunehmend hinein verstrickt.
Deutschlandfunk Kultur: Die Zwickmühle – ein schönes Schlusswort für unser Gespräch. Prof. Bilgin Ayata von der Universität Basel, haben Sie vielen Dank dafür.
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