Politologe: Wunsch nach mehr Europa eint Deutschland und Frankreich

Alfred Grosser im Gespräch mit André Hatting · 19.10.2011
Die Regierungen Deutschlands und Frankreichs seien sich in ihrer Europapolitik noch nie so nah gewesen, sagt der Politologe Alfred Grosser. Beide hätten eingesehen, dass der Euro scheitert, "wenn es nicht ein Minimum von gemeinsamer Wirtschafts- und Steuerregierung gibt".
André Hatting: Deutschland und Frankreich: Diese Länder bilden das Fundament der europäischen Einheit. Bislang war es ein sehr stabiles, aber die Wirtschaftskrise entzweit die Freunde, so scheint es, Berlin und Paris haben nämlich ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was jetzt getan werden muss: Frankreich zum Beispiel will den Rettungsschirm hebeln, also verstärken, indem er ihn zu einer Bank macht – der Bundesfinanzminister lehnt das ab. Frankreich will investieren, Konjunkturprogramme schaffen – Deutschland will lieber sparen. Frankreich will die Mittel des Internationalen Währungsfonds aufstocken – kommt für Deutschland nicht infrage. Am Telefon ist jetzt Alfred Grosser, Soziologe und Politikwissenschaftler, in Deutschland geboren und in Frankreich aufgewachsen. Guten Morgen, Herr Grosser!

Alfred Grosser: Guten Morgen!

Hatting: Sie waren einer der Wegbereiter des Élysée-Vertrags, der die deutsch-französische Freundschaft begründet. Blutet Ihnen das Herz angesichts dieser Streitereien?

Grosser: Nein, keineswegs. Übrigens war es nicht der Élysée-Vertrag, sondern Robert Schuman am 9. Mai 1950. Und seitdem ist es ständig besser gegangen, es ist viel Positives geschehen, es hat Krisen gegeben, und diesmal kann es ... Also ich bin Politologe, das ist jemand, der nachher erklärt, wieso man es hätte voraussagen können. Aber meine Voraussage ist, dass man noch nie so nah aneinander gewesen ist im Wesentlichen, das Wesentliche ist: mehr Europa. Und in diesem Sinne sind, sagen wir mal, Schäuble und Frau von der Leyen auf derselben Linie heute wie Hollande und andere, (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich) vielleicht zukünftiger Präsident. Das heißt, es muss mehr Europa geben, nur ist der Streit, wie.

Hatting: Aber Sarkozy und Merkel sind es nicht.

Grosser: Also ja und nein. Auf der einen Seite haben Sie Frau Merkel, die lauer ist als Schäuble, aber immerhin es geschafft hat, eine tolle Mehrheit hinter sich zu bekommen, die aber ununterbrochen das Bundesverfassungsgericht im Rücken hat, das ist für mich in Europa also eine Katastrophe, und sie ist auch für mehr gemeinsame Leitung Europas. Die europäische Verteidigungsgemeinschaft ist 54 gescheitert, weil es keine politische Autorität gab über eine gemeinsame Armee. Der Euro wird nach und nach scheitern müssen, wenn es nicht ein Minimum von gemeinsamer Wirtschafts- und Steuerregierung gibt. Das haben beide Seiten eingesehen, nur Sarkozy geht sofort einen Schritt weiter, wo er nie hätte hingehen dürfen, das heißt: Von dem Geld, das vorhanden sein wird für die, die große Hilfen brauchen – zum Beispiel Griechenland, vielleicht morgen Spanien –, will ich Geld haben, um meine Banken zu finanzieren. Und da hat die Kanzlerin völlig recht, nein zu sagen.

Hatting: Trotzdem scheint es ja so, dass irgendwie etwas nicht so richtig funktioniert. Frankreich versucht es mit mehr Investieren – zumindest regt das Sarkozy immer wieder an, ich habe das schon angesprochen –, Deutschland ist dagegen. Wer hat recht?

Grosser: Ja, wer investiert. Und da ist ein bisschen mehr Wille, dass der Staat da mit eingreift in Frankreich, und da hat man eine mehrstaatliche Tradition, und in Deutschland sträubt man sich dagegen, obwohl Frau Merkel und die zukünftige etwaige SPD-Regierung beide sozialdemokratisch denken, weit entfernt von der FDP und von der CSU.

Hatting: Die USA setzen Europa unter Druck: Obama will, so hat man das Gefühl, der EU diktieren, wie man jetzt die Krise richtig löst, also ordentlich zupacken. Die Bundesregierung nervt das, Sarkozy dagegen scheint in einigen Bereichen Richtung Washington zu schwenken, ich nenne mal die Stärkung des IFW.

Grosser: Ja, aber zuerst einmal finde ich überhaupt skandalös die Haltung von Amerika. Wir sind in der Krise wegen Amerika, wir sind in der Krise wegen dieser (Anm. d. Red: Auslassung, da schwer verständlich) Dinge, die Millionen Leute geliehen worden ist, obwohl man wusste, dass sie nicht zurückzahlen konnten, und dann hat man diese Bonds versteckt und sie in der Welt verkauft. Das war der Anfang der Krise, das war eine amerikanische Krise. Und heute sollte doch Amerika in seinen Forderungen Europa gegenüber bescheiden sein und zuerst mal sagen: Beraten wir, was wir zusammen tun können.

Hatting: Aber warum unterstützt mittlerweile Sarkozy auch die Position aus Washington, wenn es zum Beispiel um den Internationalen Währungsfonds geht, wohl wissend, dass Deutschland sich dagegen wehrt?

Grosser: Der Währungsfonds soll an sich mehr Macht bekommen, wenn auch Strauss-Kahn weg ist, und eine Französin als letztes (Anm. d. Red.: Auslassung, da schwer verständlich) die in Washington noch was ganz anderes sagte, als sie Wirtschaftsministerin in Paris war, und alle internationalen Einrichtungen sollen gestärkt werden, zuerst aber Europa. Und momentan sind wir in der Lage, dass die Kommission, die die eigentliche Ankurbelung von Europa sein sollte, mit Barroso sehr schweigsam ist, bevor den letzten Tagen, wo er endlich angefangen hat, zu reden, und dass die gemeinsame Außenpolitik absichtlich anvertraut worden ist einer Dame, die davon nichts verstand. Warum? Und da sind wir beim Kern der Frage, die weder in Berlin noch in Paris so klar dargestellt wird: Europa soll nicht nur zwischen Regierungen geregelt werden. Und das Europäische Parlament hat heute viel Macht, viel Entscheidungsmöglichkeit, zusammen mit der Kommission, und Europa wollen heißt auch, darauf zu verzichten, nur zwischen den Regierungen Entscheidungen zu treffen. Und bei ihnen haben Sie eine gute Revolte des Parlaments, um zu sagen, die Regierungen nicht allein, bitte.

Hatting: Das wäre dann eben der Schritt Richtung vereinigte Staaten von Europa, Sie hatten es am Anfang des Gesprächs angesprochen. Am Sonntag treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs wieder zu einem Krisengipfel. Ist der zum Scheitern verurteilt, weil sich die wichtigsten Mitspieler nicht einigen können?

Grosser: Es wird wahrscheinlich wieder mal vertagt werden, und das war das Schicksal der Verträge: Wenn man eine Einstimmigkeit braucht mit 27, ist es unwahrscheinlich schwierig, zu einem Resultat zu kommen. Und die Kommission, die heute da zusammengesetzt wird, ... das heißt, jeder vertritt seinen Staat, das ist total absurd und ist eine Verneinung der Kommission, wie sie geschaffen worden war. Solange so etwas nicht behoben wird, ... Und das ist das Schlimme: Wir brauchen einen neuen Vertrag, der Europa vertieft, aber dann braucht man 27 Ja-Stimmen, und jetzt hat man gesehen, dass man schon allein mit der Slowakei große Schwierigkeiten gehabt hat.

Hatting: Einschätzungen des deutsch-französischen Politikwissenschaftlers Alfred Grosser waren das. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Großer!

Grosser: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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