Politologe über Proteste in Lateinamerika

"Die politische Elite ist das Problem"

29:39 Minuten
Ein einzelner Mann steht auf der Straße und demonstriert vor einem Fahrezug der Polizei.
Für einen Weg zum sozialen Konsens könnte Chile eine wichtige Rolle spielen. © AFP/ Martin Bernetti
Günther Maihold im Gespräch mit Burkhard Birke · 16.11.2019
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Proteste in Chile und Ecuador, Sturz des Präsidenten in Bolivien, Machtkampf in Venezuela: Linke wie rechte Regierungen in Lateinamerika taumeln unter dem Druck der Massen, die gegen Korruption, Amtsanmaßung und soziale Ungerechtigkeit protestieren.
Ungleichheit, Verteilungsungerechtigkeit, Korruption und Vertrauensverlust sind der gemeinsame Nenner der aktuellen Protestwellen, die mehrere lateinamerikanische Länder überrollen. Der Lateinamerikaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Günther Maihold, spricht von einer tiefgreifenden Krise des politischen Systems, die rechte wie linke Politiker erfasst habe. Die politische Elite sei das Problem, so Maihold, nicht die politische Farbe.
In Bolivien gab es einen vom Militär unterstützen Umsturz. Von Putsch im klassischen Sinne könne man nicht sprechen, sagt Maihold. Die Lage im Land war eskaliert, weil der seit 13 Jahren regierende Präsident Evo Morales die Verfassung gebeugt und sich ein viertes Mal zur Wahl gestellt hatte, bei der es zu Unregelmäßigkeiten gekommen war.

Problematisch: Alte politische Größen kehren zurück

Der chilenische Präsident Piñera müsse über seinen Schatten springen und einen neuen gesellschaftlichen und sozialen Konsens schaffen, glaubt Günther Maihold. Chile könne dabei wegweisend werden auch für andere lateinamerikanische Staaten.
Das Wiederauftauchen alter Größen auf der politischen Bühne, wie Lula in Brasilien und Fernández-Kirchner in Argentinien sieht Maihold problematisch. Gebraucht würden neue Persönlichkeiten, um die Polarisierung zu überwinden. Auf absehbare Zeit drohe Lateinamerika unruhig zu bleiben.

Prof. Dr. Günther Maihold, geboren 1957, studierte Soziologie und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg. Danach war er acht Jahre lang als Projektleiter für gesellschaftspolitische Beratung in Mittelamerika tätig. Weitere Stationen: Referent für Lateinamerika und Karibik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und Direktor des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz. Derzeit ist Maihold stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin.

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Das Interview im Wortlaut:

Deutschlandfunk Kultur: Heute ist unser Studiogast Günther Maihold, der stellvertretende Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik und Lateinamerikaexperte. Herr Maihold, Proteste nach einer drastischen Benzinpreiserhöhung in Ecuador, Massendemonstrationen in Chile nach einer marginalen Fahrpreiserhöhung der Untergrundbahn und jetzt anhaltende Unruhen in Bolivien auch, nachdem der langjährige Präsident Evo Morales zurückgetreten und ins Exil nach Mexiko gegangen ist.
In Venezuela herrscht Dauerkrise und tobt ein Machtkampf. In Brasilien scheint sich nach der Haftentlassung von Ex-Präsident Lula die Opposition gegen den Machthaber und Amtsinhaber Jair Bolsonaro neu zu formieren. In Nicaragua starben vor anderthalb Jahren mindestens 325 Menschen bei Protesten gegen den sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega. In Haiti gibt es seit Februar Gewalt auf den Straßen. Und in Kolumbien ist für nächste Woche ein Generalstreik angekündigt.
Was ist los in Lateinamerika? Gibt es da einen Zusammenhang zwischen den Protesten in so unterschiedlich ausgestalteten Ländern?
Maihold: Auf den ersten Blick sagt man natürlich, irgendwas muss doch da Gemeinsames sein. Wenn man genauer hinsieht, sieht man natürlich ein paar Faktoren, die in allen Ländern präsent sind.
Da ist die schon immer kritisierte und lange analysierte Ungleichheit, die Verteilungsungerechtigkeit. Das heißt also, auch nach der Tätigkeit des Staates, nach Steuererhebung wird es nicht sehr viel besser mit der Ungleichheit.
Und zum anderen die Krise der Politik, der Vertrauensverlust in die Gesellschaften, die sich auf ihren inneren Zusammenhalt beziehen, aber natürlich auch der Vertrauensverlust gegenüber den politischen Eliten, die sich immer mehr gegenüber der Gesellschaft abgekapselt haben. Und dann sind keine Kanäle mehr vorhanden, wie so was zum Ausdruck kommen kann, und die Leute optieren dann sehr schnell dafür, dies auf die Straße zu tragen.
Deutschlandfunk Kultur: Günther Maihold, bevor wir nun auf die verschiedenen Länder und die Spezifizitäten zu sprechen kommen, bleiben wir noch ein bisschen auf der Meta-Ebene und fragen uns mal, warum es ebenso links gerichtete Regierungen und Potentaten trifft wie rechts regierte Länder, zum Beispiel Chile mit einem eher rechts-konservativen Präsidenten Piñera und jetzt Evo Morales in Bolivien oder Maduro in Venezuela.
Maihold: Ich glaube, diese Orientierung links und rechts hat bei den Bürgern an Bedeutung eingebüßt. Man will stattdessen den Wechsel. Man erwartet vom Wechsel grundsätzlich eine bessere Konstellation. Das gilt insbesondere dann, wenn wie in Bolivien eine so lange Regentschaft von quasi 13 Jahren aufgelaufen ist, aber auch in Chile, wo sozusagen eine Gruppe von politischen Parteien und politischen Kräften sich mehr oder weniger abwechselt an der Macht und man keinen Fortschritt sieht.
Das heißt, wir aus der europäischen Perspektive sind geneigt, diesen Links-Rechts-Dimensionen große Bedeutung zuzumessen, aber angesichts der Personalisierung der Politik in Lateinamerika sind oftmals diese Loyalitäten sehr viel bedeutsamer als die Rolle von politischen Parteien.

"Die politische Elite ist das Problem – nicht die politische Farbe"

Deutschlandfunk Kultur: Links und rechts scheint auch bei der Frage der Korruption wohl keine Rolle zu spielen. Beide sind wohl gleichermaßen korrupt?
Maihold: Das haben wir jetzt alles durchexerziert, um es mal so zu sagen. Nach den Strukturanpassungsprozessen, die unter der Ägide sogenannter Rechter lief, und der linken Dekade, die gerade zu Ende geht, stehen wir vor denselben Ergebnissen. Die politische Elite ist das Problem und nicht die politische Farbe.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns jetzt spezifisch über verschiedene Länder sprechen. Bolivien war die ganze Woche, die letzten Tage vor allen Dingen, in den Schlagzeilen auch bei uns. Evo Morales, Präsident seit knapp 14 Jahren, wurde zum Rücktritt gezwungen. Das heißt, der Militärchef hat erklärt, dass Evo Morales doch zurücktreten solle. Und er ist dem auch wohl gefolgt und ins Exil nach Mexiko gegangen. – War das ein Putsch?
Maihold: Das bewegt die Geister nun seit einer Woche ungefähr - sich darüber zu streiten, ob es ein Putsch war. Man kann sicher sagen, es ist nicht im klassischen Sinne ein Putsch, wie wir ihn kannten, dass das Militär die Macht übernimmt und die Zivilen aus den Ämtern drängt, sondern es ist ein militärisch gestützter Umsturz, wenn man es mal so formulieren will, der auch von zivilen Kräften vorangetrieben wurde. Und die Entscheidung der Militärs, diese Einladung – in Anführungszeichen – an Evo Morales auszusprechen hat die Sache extrem beschleunigt und dazu geführt, dass er dann doch seinen Rücktritt erklärt hat.
Deutschlandfunk Kultur: Was hat aber die Proteste ausgelöst? Es war ja die Rede von Wahlbetrug, auch von Seiten der Organisation Amerikanischer Staaten. Und es war ja sehr umstritten, dass Evo Morales für ein viertes Mandat überhaupt angetreten war, nachdem er ja vor drei Jahren ein Referendum abgehalten hatte, wo er danach gefragt hat, ob es eine Verfassungsänderung geben sollte, die ihm erlaubt, ein viertes Mal anzutreten, und das mit "nein" beschieden wurde von der Mehrheit der Bolivianer.
Maihold: Das ist, glaube ich, der Punkt, ab dem sozusagen die Vektoren nach unten zeigen, bezogen auf Evo Morales. Er hat gemeint, dass er eben durch Beeinflussung des obersten Gerichtshofes dieses Referendum beiseite schaffen kann und sich nicht um die Frage gekümmert, ob die Legitimität seiner Herrschaft noch gegeben ist.
Hinzu kommt natürlich die Ermüdung der Bevölkerung mit der ihn umgebenden Gruppe von Personen, die auch nicht völlig aus dem Vorwurf der Korruption und der Bereicherung an den Staatsunternehmen, die im Bereich Öl und Gas aber auch anderer Rohstoffe aktiv sind, geschaffen wurden, auszunehmen sind, so dass also hier verschiedene Elemente zusammengelaufen sind.

Boliviens Übergangspräsidentin vor schwierigen Aufgaben

Deutschlandfunk Kultur: Nun wurde oder hat sich Jeanine Añez zur Präsidentin erklärt. Ist das verfassungskonform? Denn normalerweise hätte es der Vizepräsident übernehmen müssen. Der ist zurückgetreten. Dann wäre der Senatspräsident an der Reihe gewesen. Auch der ist ja zurückgetreten, weil er dem Movimiento al Socialismo, also der Partei von Evo Morales, angehörte. Dann auch der Parlamentspräsident.
Ist es richtig, dass sie wirklich dann in der Reihenfolge die Nächste war, obwohl sie nun jetzt von der Opposition kommt und man ihr nachsagt, sie sei rechtspopulistisch ausgerichtet?
Maihold: Es ist eine ganz einfache Opportunitätsfrage. Es ist gar niemand anderes mehr da, dem man die Schärpe umhängen kann. In diesem Sinne, und ich glaube, so versteht sie sich auch selber, ist sie eine Übergangslösung bis zu den Wahlen, die innerhalb von 90 Tagen angesetzt werde müssen. Das ist die zentrale Aufgabe. Wir können jetzt nicht davon ausgehen, dass sie in der Lage sein wird, irgendwelche Strukturentscheidungen zu treffen. Es geht zunächst darum, die Ruhe wieder herzustellen, zur Entspannung zwischen den mobilisierten Gruppen der einen oder anderen Seite beizutragen und vor allem ein Wahlgericht einzurichten, das eine transparente und nachprüfbare Durchführung der Wahlen sicherstellen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Der Widerstand rührt sich schon im Land. El Alto, das ist die Stadt, die über eine Million Einwohner zählt und direkt über La Paz liegt, hat gesagt, sie erkennt die neue Regierung, in der auch zahlreiche Militärs als Minister vertreten sind, nicht an und mobilisiert zugunsten von Evo Morales gegen die jetzt im Amt befindliche Regierung. Kann Bolivien zur Ruhe kommen oder glauben Sie, dass Evo Morales, der ja in Mexiko ist, wie er sagt, "wenn er gebraucht würde", wieder zurückkäme nach Bolivien?
Maihold: Also, ich würde nicht ausschließen, dass Evo Morales noch eine politische Rolle in dem Land spielen wird, weil, wir sehen natürlich bei den Siegern dieser Auseinandersetzung teilweise schon bedenkliche Elemente. Also, die offizielle Erklärung des Luis Fernando Camacho, der da die Bürgerkomitees aus dem Tiefland von Santa Cruz anführt und mit einer Bibel in den Präsidentenpalast gelaufen ist und gesagt hat, "hier ist wieder Jesus zu Hause und nicht mehr die Pachamama", hat natürlich symbolischen Charakter letztlich mit der klaren Ausrichtung: Hier wird jetzt wieder die Herrschaft der Weißen über die Indigenen, die durch Evo Morales vertreten wurden, hergestellt. Das sind keine guten Zeichen, um Verständigung herbeizuführen und die Ruhe im Land wieder aufleben zu lassen.
Auf der anderen Seite hat Evo Morales ja aus Mexiko erklärt, er wolle einen nationalen Dialog unterstützen. Man kann nur hoffen, dass sich das bei seinen Anhängern auch rumspricht, weil, die Eskalation führt nur dazu, dass ein weiterer Protagonismus der Militärs eine Rolle spielen wird. Und das kann das Land am wenigsten gebrauchen.

"Die Machtambition war zu groß"

Deutschlandfunk Kultur: War Evo Morales Fehler der, dass er einfach zu sehr an der Macht klebte, statt sich eigentlich mit einer insgesamt sehr positiven Bilanz seiner Regentschaft zurückzuziehen? Denn die Armut ist den Statistiken zufolge von 60 auf 35 Prozent gesunken. Die indigene Bevölkerung, die ja fast drei Fünftel der Gesamtbevölkerung in Bolivien ausmacht, ist aufgewertet worden. Es heißt ja auch nicht mehr "Republik Bolivien", sondern der "Plurinationale Staat Bolivien".
Also, er hat sich ja doch einige Verdienste, vor allen Dingen auch um die indigene Bevölkerung, aus der er stammt, er war der erste indigene Präsident, gemacht. Hat er hier wirklich etwas verspielt?
Maihold: Ganz sicher. Ich meine, wenn man sich mal anschaut, unter welchen Bedingungen er damals angetreten ist, wo wir auch in einer Situation waren, wo das Land vor dem Zusammenbruch stand, die Auseinandersetzungen unheimlich scharf waren, und er hat es zumindest geschafft, das Land in einen Wachstumspfad zu bringen und natürlich auch eine größere Repräsentativität in der Regierungsführung zu erreichen.
Aber letztendlich war offensichtlich die Machtambition zu groß und zu lang vor allem, zeitlich betrachtet. Er hat es auch versäumt, Nachfolger in seiner eigenen Bewegung aufzubauen, so dass die jetzt relativ kopflos dasteht und man erwarten kann, dass er eine ferngesteuerte Leitung seiner Partei noch ausüben kann aus Mexiko.
Deutschlandfunk Kultur: Fürchten Sie, dass Bolivien weiter unruhig bleiben wird?
Maihold: Ich fürchte es schon, insbesondere weil die neue Elite eigentlich die alte ist. Wenn man sich die Namen anschaut, die jetzt gehandelt werden, sind es alles politische Figuren, die wir schon vor dem Amtsantritt von Evo Morales vor 13 Jahren auf der politischen Bühne hatten. Die haben keine neuen Ideen, sondern da wird eher ein Programm präsentiert, das eine Rückentwicklung darstellt. Respektive sind die Bewegungen, die da sich zusammengefunden haben, so heterogen, dass sie überhaupt keine einheitlichen Vorstellungen haben, sondern nur geeint waren von der Perspektive "Evo muss weg". Nun ist er weg und nun beginnen die eigentlichen Probleme.

In Venezuela schauen alle auf Trump

Deutschlandfunk Kultur: Evo Morales mit seiner linken Politik war ja einer der treuesten Verbündeten auch von Nicolás Maduro, dem amtierenden Präsidenten in Venezuela. In Venezuela tobt ja ein Machtkampf.
Hat dieser Rückzug von Evo Morales ins Exil nach Mexiko irgendeine Signalwirkung oder Auswirkung auf den Machtkampf, der in Venezuela tobt zwischen dem amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro und dem selbsterklärten Präsidenten, nämlich dem Präsidenten der Nationalversammlung Juan Guaidó, der ja unter anderem auch von Deutschland und 50 oder mehr anderen westlichen Staaten anerkannt wird?
Maihold: Juan Guaidó hat natürlich die Chance genutzt und jetzt die neue Übergangspräsidentin, die ja nun auch nicht eine formell ernannte ist, in Bolivien anerkannt, um auch sozusagen natürlich gegen den Stachel von Maduro zu löcken. Also, hier versucht natürlich jeder jetzt aus dieser Situation für sich Kapital zu schlagen.
Nur muss man einfach sehen, der venezolanische Konflikt ist so stark auf die USA bezogen. Alle Akteure gucken letztendlich, was denn mit Trump und seiner Wiederwahl passiert, weil dies der zentrale Akteur ist und die ganze Sanktionsmaschinerie, die angeworfen worden ist, von den USA gesteuert wird. Also, Bolivien hat eine Orientierungsfunktion, aber die entscheidende Dimension sitzt in Washington.
Deutschlandfunk Kultur: In dem Augenblick, Günther Maihold, wo wir jetzt sprechen, wird gerade in Venezuela demonstriert. Juan Guaidó hat zu einem nationalen Protesttag aufgerufen. – Hat er denn überhaupt noch Rückhalt bei den Leuten, die ihm folgen, bei seinen Anhängern? Denn die haben doch vor allen Dingen eins im Kopf, nämlich sich irgendwas Essbares zu beschaffen, weil die Not und der Hunger so groß geworden sind.
Maihold: Das große Mobilisierungsmoment von Guaidó ist sicher vorüber: Das war auch getragen von der Hoffnung der Bevölkerung, nun werde schnell eine Ablösung kommen. Dies ist nicht eingetreten. Damit hat sich auch die Präferenz wieder verschoben. Man kümmert sich mehr um die Überlebensnotwendigkeiten und nicht mehr so sehr um die politische Transition, die trotz aller Beschwörungen aus dem Ausland auch nicht vorankommt. Insofern läuft dieser Konflikt auf einer niedrigen Flamme weiter, ohne dass wir Fortschritte sowohl auf der Verhandlungsebene oder auch bei der Frage sehen, ob sich das Militär neu orientieren könnte und dadurch einen Wandel erlauben würde.
Deutschlandfunk Kultur: Eine Militärintervention sehen Sie aber nicht als akute Gefahr durch die USA oder auch durch einen der Verbündeten der USA in der Region wie Kolumbien?
Maihold: Das halte ich für relativ ausgeschlossen. Ich glaube, alle sind sich darüber im Klaren, dass bei einer solchen Aktion eine derart große Flutwelle von Migranten über die gesamte Region losbrechen würde, die niemand zu bewältigen in der Lage ist. Geschweige denn, dass irgendeine dieser Mächte in der Lage wäre, die innere Situation in Venezuela, wo wir doch einen sehr hohen Grad der Bewaffnung der Bevölkerung haben, durch das Milizensystem, durch die organisierte Kriminalität, überhaupt in den Griff zu bekommen.

Millionen Menschen auf der Flucht

Deutschlandfunk Kultur: Herr Maihold, Sie haben es erwähnt: Es gibt einen riesigen Flüchtlingsstrom, der bereits Venezuela verlassen hat und täglich Venezuela verlässt. Die letzten UN-Schätzungen sprechen von 4,6 Millionen. Nahezu die Hälfte hält sich im Nachbarland Kolumbien auf. Was für eine Belastung bedeutet dieses Flüchtlingsproblem für die Gesamtregion? Denn die Venezolaner sind ja nach Ecuador, nach Peru, bis Chile und Argentinien runter gegangen und auch nach Brasilien.
Maihold: Wir sehen immer mehr, dass die Nachbarländer jetzt restriktive Politiken ergreifen, insbesondere eine Visumspflicht erklären, was für die venezolanischen Flüchtlinge ein ganz, ganz schwieriges Thema ist, weil die meisten über keinen Pass verfügen oder nur ausgelaufene Pässe haben. Gegenwärtig werden in Venezuela keine Pässe mehr ausgestellt.
Das heißt, das führt dazu, dass Familien zerrissen werden, dass die Leute über illegale Wege und mit Schleusern weiterkommen müssen. Das führt wieder in eine humanitäre Katastrophe hinein, obwohl wir uns natürlich alle im Klaren sind, dass die Belastung mit zwei Millionen Flüchtlingen in Kolumbien oder mit 600.000 in Peru erhebliche Kosten für diese Länder darstellen und die internationale Flüchtlingsorganisation der UN hier auf die entsprechende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hingewiesen hat, um noch mehr Gelder zu mobilisieren.
Aber die Auseinandersetzungen werden natürlich auch weitergehen, weil natürlich auch homophobe Reaktionen vorhanden sind. Wir haben es im Norden Brasiliens in Roraima gesehen, wo ein Flüchtlingslager angezündet wurde, weil natürlich einfach die jeweiligen lokalen Gemeinden überfordert sind mit dieser Last und sich auch in einer gewissen Weise bedroht fühlen.
Deutschlandfunk Kultur: Die Lösung wäre ja eine politische Lösung in Venezuela. Sehen Sie die überhaupt? Sehen Sie die Chance für eine Regierung der nationalen Einheit? – Das scheint ja wohl der einzige vernünftige Ausweg.
Maihold: Gegenwärtig sehe ich dafür keine Anhaltspunkte. Die Gespräche sind ja wieder gescheitert. Maduro hat den alten Weg wieder beschritten, einen Teil der Opposition sozusagen herauszubrechen und sie dadurch zu schwächen. Alles wartet darauf, ob in den USA eine neue Regierung kommt, die mit anderen Instrumenten, mit anderen Zugängen arbeitet und nicht nur mit Sanktionspolitik, sondern eben auch mit einer gestalterischen Komponente in dem Sinne: Was können wir tun, damit hier eine Verbesserung der humanitären Lage eintritt? Was können wir tun, um dieses Land wieder aufzubauen? – Das kann vielleicht irgendwann der Anreiz sein, um alle nationalen Akteure dazu zu bringen, nochmal drüber nachzudenken, ob sie sich nicht auf so ein Ziel verständigen können.

Schleichende Ausdehnung der Gewalt in Kolumbien

Deutschlandfunk Kultur: Betroffen von der Krise ist natürlich als unmittelbarer Nachbar insbesondere Kolumbien. Kolumbien hat momentan eine eher Mitte-Rechts-Regierung, die eine sehr konservative und zurückhaltende Politik bei der Umsetzung des Friedensprozesses betreibt. Sie hatte sogar versucht, diesen Friedensprozess noch einmal grundsätzlich infrage zu stellen. Jetzt werden kommende Woche, Günther Maihold, die Kolumbianer aufgerufen zu einem Generalstreik, aber auch wegen der sozialen Kluft, die im Land herrscht, Kolumbien ist eines der ungleichsten Länder in ganz Lateinamerika, und wegen gewisser Arbeitsmarktreformen, die die Regierung offenbar im Visier hat. – Wird Kolumbien das Land, wo es demnächst knallt und ein zweites Chile mit Massenprotesten? Sehen Sie diese Gefahr?
Maihold: Ich sehe das nicht, dass wir jetzt in eine Phase der Massenproteste kommen. Was viel schlimmer ist, ist sozusagen die schleichende Ausdehnung der Gewalt im Lande. Wir dachten ja, dass dies mit dem Friedensabkommen überwunden ist. Aber da es in der Umsetzung erhebliche Probleme gibt, da sich neue Gewaltakteure gefunden haben, Teile der FARC sich wiederbewaffnet haben, sich die Drogenmafia weiter ausdehnt, dazu diese mobilisierten Personen aus dem Flüchtlingstreck natürlich auch sich in diesen kriminellen Bereich hinein begeben, indem sie als Coca-Pflanzen-Pflücker, Coca-Blätter-Pflücker auftreten, also, da entwickeln sich Sicherheitsherausforderungen, die schon eine sehr große kritische Dimension haben.
Und eine Regierung, die letztlich sich nicht entscheiden kann, in welche Richtung sie gehen will, ob sie wirklich eine Vertiefung der Friedensprozesse vorantreiben will, ob sie die Versicherheitlichung durch die Flüchtlingssituation nutzen will, um den Friedensprozess langsam absterben zu lassen, all dies ist ein Moment der Unsicherheit. Und wenn die wirtschaftliche Lage dann auch noch kritisch wird, ist natürlich dann die Mobilisierung der Straße unausweichlich.
Deutschlandfunk Kultur: Im anderen Nachbarland von Kolumbien weiter südlich, in Ecuador, gab es ja vor ein paar Wochen ganz heftige Proteste wegen einer drastischen Benzinpreiserhöhung, sozusagen, wie behauptet wurde, "aufoktroyiert durch die Maßnahmen des internationalen Währungsfonds" im Gegenzug für einen viereinhalb Milliarden-Dollar-Kredit.
Glauben Sie, dass Ecuador wieder zur Ruhe kommen könnte, nachdem die Maßnahmen zurückgenommen sind? Oder sehen sie da auch eine Dauerprotestsituation, ähnlich wie sie sich ja offenbar momentan in Chile abzeichnet?
Maihold: In Ecuador hat sich ja sozusagen durch diese Rücknahme des Dekrets über die Streichung der Treibstoffsubventionen zunächst mal oberflächlich die Lage beruhigt. Aber die Regierung ist ja gezwungen, durch die Bedingungen dieses Kredites irgendwas im Bereich dieser Energiepreise zu machen. Sie hat sich jetzt verpflichtet, das mit CONAE, das ist der Indigenenverband, den Gewerkschaften und 60 anderen Organisationen zu verhandeln und auch noch ein größeres Paket einzubringen.
Das heißt, hier stehen die Protestierenden Gewehr bei Fuß, wenn man so sagen will, um den Verhandlungsweg zu beschreiten, aber, wenn dieser nicht erfolgreich ist, auch wieder auf die Straße zurückzukehren – und das bei einer Regierung, die keine große Unterstützung gegenwärtig in der Bevölkerung hat und deswegen auch nicht besonders stark auftreten kann, sondern immer schnell wieder sich in die Hände der Generäle begeben muss.
Deutschlandfunk Kultur: Günther Maihold, gehen wir jetzt noch ein paar hundert oder tausend Kilometer weiter südlich nach Chile. Wir haben ja jetzt schon mehrfach auch Chile immer wieder erwähnt. Da gab es und gibt es massive Proteste gegen die Politik des Präsidenten Piñera, der selbst ein Multimilliardär ist, der aber gesagt hat: "Ich habe die Zeichen der Zeit erkannt, die Signale gehört."
Er hat die Renten angepasst. Er hat den Mindestlohn erhöht und hat versprochen, dass er die noch aus der Ära Pinochet, also des Diktators, stammende Verfassung umkrempeln will, dass er eine verfassungsgebende Versammlung offenbar einberufen will. – Dennoch gehen die Proteste weiter. Ist das nicht genug? Oder warum erklären Sie sich, dass trotz doch dieser fundamentalen Zugeständnisse die Bevölkerung weiter protestiert?
Maihold: Ich glaube, Piñera hat die Lage noch nicht richtig verstanden. Sondern wir haben hier eine grundsätzliche Krise der politischen Kräfte, und zwar aller – Regierung und Opposition, die aus der Sicht der Protestierenden als unfähig angesehen werden, wirklich einen Wandel im Entwicklungsmodell des Landes herbeizuführen. Das ja in zentraler Weise auf die Privatisierung gesetzt hat im Rahmen der Strukturanpassung und das letztlich noch nicht einen Umschwung in Richtung stärkerer sozialer Rechte, stärkerer Beteiligung der Bevölkerung – und man sieht es ja an den Forderungen, die vom Zugang zum Erziehungswesen bis zur Rentensituation reichen – in allen Bereichen hier eine neue Auflage, eine Neukonzipierung des Zusammenlebens zustande gebracht hat.
Das ist jetzt aber auf der Tagesordnung. Die Neigung der politischen Eliten ist ja immer: "Wir machen eine verfassungsgebende Versammlung, schreiben da wunderschöne Rechte rein. Aber an der Realität ändert sich nichts." – Deswegen ist die Herausforderung, dass die rechtliche Neuordnung parallel gehen muss mit einer Neubestimmung des Entwicklungsmodells und des sozialen Ausgleichs.
Die Vermutung der Protestierenden ist, dass man wieder eine Seite sozusagen abwickeln möchte, nämlich die reale Verbesserung, und alles auf den rechtlichen Pfad einer verfassungsgebenden Versammlung hin orientieren möchte.

Chiles Präsident muss über seinen Schatten springen

Deutschlandfunk Kultur: Kann ich das so interpretieren, dass Sie nicht davon ausgehen, dass Chile demnächst zur Ruhe kommt?
Maihold: Unter dem, was bisher angeboten wurde, nicht. Das, was Piñera als Dialog bisher vorgetragen hat, erreicht diese Gruppen nicht. Wir haben weiterhin einen massiven Einsatz der Carabineros. Wir haben eine harsche Reaktion der Sicherheitsorgane. Das stärkt nur die Emotionen, die auf Wut und Rache und die Zerstörung öffentlicher Einrichtungen ausgerichtet sind. Hier müsste ein ganz anderes Signal erfolgen, nämlich die Offenheit, mit diesen Gruppen zu reden. Das ist ein schwieriger Prozess, insbesondere wenn man aus der Schicht kommt wie Piñera. Aber da muss er über seinen eigenen Schatten springen, um eine Änderung herbeizuführen.
Deutschlandfunk Kultur: Schauen wir nach Brasilien. Der frühere Präsident Lula ist jetzt aus dem Gefängnis zunächst einmal auf freien Fuß gesetzt, bis das letztinstanzliche Urteil in dem Korruptionsprozess gegen ihn fällt. Ist jetzt zu erwarten, dass sich die Opposition mit Lula an der Spitze in Brasilien wieder besser formiert und Jair Bolsonaro jetzt auch massive Proteste bekommen wird, zumal es ja auch schon im Mai eine Kundgebung überall im Land gegen die Bildungsreform gab, wo mehr als zehn Millionen Menschen auf der Straße waren?
Maihold: Das Wiedereintreten von Lula in die politische Arena hat zwei Seiten. Zum einen kann er ein Gesicht der Opposition sein. Aber auf der anderen Seite ist er natürlich auch das Gesicht der Vergangenheit. Er blockiert die politische Erneuerung in seiner eigenen Partei. Kein anderer politischer Führer kann auftauchen, weil Lula die Bühne blockiert.
Das ist genau das, was eigentlich für die Zukunft des Landes nicht vielversprechend ist, dass wir sozusagen immer wieder die alten Akteure beleben, damit auch die alten Polarisierungen wieder neu in der Gesellschaft beleben. Es gibt einen klaren Anti-Petismus, also, gegen die Partei PT von Lula gerichtete Position in der Gesellschaft. Und es wäre eben sinnvoll gewesen, hier ein neues politisches Gesicht, eine neue politische Führungskraft zu haben. Nun geht das alles wieder zurück. Und Bolsonaro kann das, was er im Wahlkampf gemacht hat, wieder aufnehmen, nämlich die alte Kritik an Lula als korrupt, als einseitig für bestimmte gesellschaftliche Gruppen orientiert inszenieren.
Deutschlandfunk Kultur: Der Kontinent oder Subkontinent ist einfach zu groß, um alles wirklich in Tiefe und im Detail zu besprechen, aber lassen Sie uns noch ganz kurz nach Argentinien auch blicken. Da gab‘s eine Wahl. Der eher rechte Mauricio Macri wird jetzt durch Fernández ersetzt. Und Cristina Kirchner-Fernández ist als Vize-Präsidentin sozusagen Schattenpräsidentin. Auch da das Problem, dass hier wieder die alten Gesichter die alten Rezepte anpacken würden?
Maihold: Das steht zu befürchten. Dieser Doppelpack Fernández gibt noch kein Zeichen an sich in Richtung auf eine neue Konzeption, obwohl die Bedingungen andere sind. Es gibt kein Durchregieren mehr. Viele der Einzelstaaten sind von anderen Parteien kontrolliert. Auch die internationale Solidarität der Linken wird Argentinien nicht heraushelfen.
Also, man muss neu denken. Und ich hoffe, dass die Gewählten dann auch in der Lage sind, dies aufzunehmen.
Deutschlandfunk Kultur: Ein zumindest auf nationaler Ebene neues Gesicht war López Obrador in Mexiko, der Präsident, der ja doch auch mit einem linken Wahlprogramm angetreten ist und mit einem Antikorruptions-, Antimafiaprogramm. – Kann er Wort halten?
Maihold: Das wird sehr schwierig werden. Korruption ist immer aktive und passive Korruption. Das heißt, es ist ein Element, was auch in der Bürgerschaft verankert ist, um sich Zugang zu staatlichen Leistungen zu ermöglichen. Das wird nicht besser, indem ich einen nicht korrupten Präsidenten an diese Stelle setze, sondern wir müssen einfach sehen: Hier gibt es Strukturdefekte im Lande. Hier haben wir auch zusätzlich noch die Belastung durch die organisierte Kriminalität, die eben dann Polizeikräfte bedroht und sagt: "Geld oder Leben!"
Da ist dann relativ klar, wie das ausgeht. Und das gilt für Polizei, Justiz und andere Bereiche. Also, hier ist ein Riesenproblem auf dem Tisch. Bisher drückt sich López Obrador da noch weitgehend drum rum. Das könnte ihn die Zustimmung kosten, die er bisher noch umfassend genießt.
Deutschlandfunk Kultur: Mexiko ist ja auch das Haupt-Durchgangsland für Migration. Steht er da wirklich am Gängelband von US-Präsident Trump, der ihm da alles auferlegt, dass Mexiko nun die Last übernimmt?
Maihold: Mexiko hat sich auf ein neues Zertifizierungsverfahren eingelassen, das alle 45 Tage überprüft wird, wie es denn agiert. Diese Überprüfung findet in Washington statt. Das ist ein Rückschritt. Man hat mal auf Augenhöhe miteinander gesprochen. Insofern steht da jedes Mal wieder von Neuem die Frage des Zugangs zum US-Markt auf dem Plafond. Das bedeutet natürlich eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten von Mexiko. Man wird sehen, ob man irgendwann nochmal aus dieser Zwickmühle herauskommt.

Hoffnung für Chile

Deutschlandfunk Kultur: Die Zeit ist einfach zu kurz, um wirklich in Tiefe die ganzen Probleme in Lateinamerika zu besprechen. Günther Maihold, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik und Lateinamerikaexperte war heute unser Gast in der Sendung Tacheles.
Herr Maihold, ich entlasse Sie aber nicht ohne die provokante Frage: Wo knallt es als Nächstes? Und gibt es überhaupt eine Lösung für diese komplexen Probleme in Lateinamerika?
Maihold: Ich will mich gar nicht mit der Frage befassen, wo es knallt, sondern: Wo kommen wir mit neuen Lösungen um die Ecke? Ich glaube, da ist Chile sicherlich eine ganz zentrale Dimension. Hier ist ein Land, wo es möglich sein sollte, eine neue Art des Zusammenlebens zu finden, ohne viele Belastungen, die Menschen in anderen Ländern haben. Deswegen hoffe ich, dass wir da vielleicht einen Durchbruch finden, der auch für andere Länder von Interesse sein könnte.
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