Politischer Erzieher und ausgleichender Versöhner

02.01.2008
Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, war Allroundgelehrter und allseitig gebildeter homo politicus. Vieles von seinem politischen Denken hat Heuss in Briefen verbreitet, die jetzt in acht Bänden herausgegeben werden. Die Korrespondenz der Jahre 1945 bis 1949 ist jetzt unter dem Titel "Erzieher zur Demokratie" erschienen.
"Ich bejahe einen sogenannten Föderalismus unter dem Gesichtspunkt, dass die Länder oder Staaten eine höhere Ebene der Selbstverwaltung sind und darin vor allem in der Erzeugung einer demokratischen Selbstverantwortung und Tradition eine Aufgabe haben. Aber ich wehre mich dagegen, die deutschen Länder als Elemente einer europäischen Gesamtformung, die ich bejahe, zu akzeptieren. Der Rückgriff auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist ein Anachronismus, weil in Auswirkung der französischen Revolution die nationale Idee der Demokratie in die Geschichte trat. Ich weiß selbstverständlich um die wesenhaften Aufgaben der christlichen Kirchen in der Formung einer öffentlichen Gesinnung, aber der Prozess der Säkularisation großer geistiger und sachlicher Gebiete lässt sich nicht aufheben. Der ‚christliche Staat’ ist zumeist nur eine Floskel der Romantik, in dem die Politik wenig Konkretes leisten kann."

So schreibt Theodor Heuss Ende Juli 1949 an einen politisch interessierten, christlich-konservativen Wirtschafts- und Steuerberater aus dem "Ländle". Da lag die Verabschiedung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat bereits hinter dem Gelehrten und seine Wahl zum ersten Bundespräsidenten sollte keine zwei Monate später erfolgen. Auf der Suche nach einem neuen deutschen Staat besannen sich manche Zeitgenossen des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Heuss erteilt solchen Anwandlungen eine klare Absage. Nach der NS-Katastrophe kommt für ihn ein Rückgriff auf vormoderne Ideen nicht in Frage. Er ist ein leidenschaftlicher Demokraten, der sein Volk zur Demokratie erziehen will – ein liberal-konservativer Politiker, der zunächst noch von der Katastrophe des Jahres 1945 als einer "Stunde Null" ausgegangen war, bevor er zögerlich das Fortwirken personeller, ideologischer und struktureller Kontinuitäten akzeptierte. Ein starker föderativer Nationalstaat – das ist für Heuss der aussichtsreichste Weg in die Zukunft.

"Wenn ich über Föderalismus und dergleichen rede, sage ich den Leuten, dass wir uns von überkommenen Vorstellungen freimachen müssten, weil die Gegebenheiten sich völlig verändert haben. Ich verzichte auch immer auf alle Polemik gegen Preußen, weil die Polemik gegen die Geschichte mir immer etwas unfruchtbar erscheint und heute darin etwas wie eine seelische Preisgabe des deutschen Ostens mitschwingt, die in irgend zu zeigen mir heute gesamtpolitisch nicht erlaubt scheint."

So schreibt Theodor Heuss an seinen norddeutschen Parteifreund Wilhelm Heile Ende Mai 1947, der auch für ein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation eingetreten war. Die Alliierten haben wenige Monate zuvor Preußen als Großmacht des Militarismus aufgelöst. Heuß akzeptiert das, aber ihm ist offenkundig unwohl bei dieser Abrechnung mit Preußen. Aus der Verlegenheit hilft er sich mit der Bemerkung heraus, dass ihm Polemik gegen die Geschichte unfruchtbar erscheine. So muss er sich nicht weiter über Preußen äußern, auch nicht über die Auflösung Preußens durch die Alliierten. Diese diplomatische Höflichkeit und intellektuelle Eleganz, mit der er sich aus manchen Auseinandersetzungen herauswindet, wird später eine Bedingung seines Erfolges als Bundespräsident sein.

Schon 1948, zu Beginn der Arbeit des Parlamentarischen Rates, wurde er als Erzieher und ausgleichender Versöhner der Deutschen für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht - von dem sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Paul Löbe! Heuss sucht den Partei übergreifenden Konsens – und ist nach dem Bundestagswahlkampf 1949 enttäuscht darüber, dass sich die politischen Lager so heftig bekämpfen. Verärgert schreibt er an seinen Parteifreund, den Wirtschaftspolitiker Franz Blücher aus Nordrhein-Westfalen, wegen dessen Ablehnung einer Großen Koalition der Mitte:

"Ich habe selber Äußerungen über die kommenden parteipolitischen Kombinationen vermieden, aber zum Ausdruck gebracht, dass die Verschärfungen, die durch die persönliche Form des Wahlkampfes von Schumacher und Adenauer entstanden sind, die Aufgabe des Mittlertums nur schwerer machen. Welcherlei ‚Koalition’ in Frage käme, habe ich nicht ausgesprochen und bin etwas unsicher, ob Ihre von den Zeitungen gemeldete schroffe Ablehnung der großen Koalition nicht bereits etwas wie eine Bindung in sich schließt."

In seinen zahlreichen Briefen, die Heuß 1945-49 schreibt, sind vor allem seine grundlegenden Gedanken über den Zustand und die Zukunft Deutschlands interessant. Die Deutschen müssen erst noch Demokraten werden: das ist offenkundig seine Überzeugung. Bezeichnend ist eine skeptische Bemerkung zur Frage einer Direktwahl des Bundespräsidenten. Anfang Mai 1949. schreibt er an den FDP-Kreisverband Düsseldorf:

"Die Wahl des Bundespräsidenten vom Volk ist nach den Erfahrungen, die Deutschland mit Hindenburg gemacht hat, von niemandem im Parlamentarischen Rat vorgeschlagen worden. Unser Volk ist gegenwärtig gar nicht innerlich strukturiert genug und könnte morgen wieder in seinem seelisch amorphen Zustand der Raub eines Demagogen sein. Die Form der künftigen Wahl durch eine Bundesversammlung geht auf meine Anregung zurück und musste gegenüber CDU und SPD durchgesetzt werden."

Ein Bundespräsident für die große Mehrheit der deutschen Nachkriegsdemokraten ist Theodor Heuß geworden – vom 12. September 1949 bis zum 12. September 1959. Ein Erzieher zur Demokratie, der eine Kontinuität aus demokratischer, liberaler und bildungsbürgerlicher Tradition der Deutschen wiederherstellen wollte. Mit den Briefen von 1945 bis 1949 liegt nun der erste von acht Brief-Bänden vor, die die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus geplant hat. Allein dieser Band ist ein Dokument hoher bildungsbürgerlicher Briefkultur – und eine Quelle, um die Orientierung des Bildungsbürgers Heuß nach der NS-Katastrophe zu verstehen.

Rezensiert von Jochen R. Klicker

Theodor Heuss: Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945-1949
Herausgegeben und bearbeitet von Ernst Wolfgang Becker.
K.G. Saur Verlag München 2007
621 Seiten, 39.80 Euro