Politischer Dialog

Niemand ist im Besitz der absoluten Wahrheit

Die kurz zuvor gewählten Fraktionsvorsitzenden der AfD im Deutschen Bundestag, Alice Weidel (links) und Alexander Gauland, äußern sich nach der ersten Fraktionssitzung der Bundestagsfraktion der Partei Alternative für Deutschland (AfD) im Deutschen Bundestag in Berlin vor der Presse. Links dahinter steht der Parteisprecher Christian Lüth.
Erste Fraktionssitzung der AfD-Bundestagsfraktion: © picture alliance/ dpa/ Bernd von Jutrczenka
Von Matthias Gronemeyer · 20.10.2017
Die AfD sitzt im Bundestag, doch reden will keiner mit ihnen. Auch nicht mit ihren Wählern, die nach landläufiger Meinung nur Opfer bestimmter Gefühlslagen sind. Das findet Matthias Gronemeyer bedenklich, provoziert es doch nur Trotzreaktionen.
Wissen Sie noch, wie das war, als Sie klein waren? Als die Großen immer Recht hatten, die Eltern, die Lehrer – und man Ihnen nichts geglaubt hat, obwohl Sie von dessen Richtigkeit felsenfest überzeugt waren? Und als Sie dann merkten: Die irren sich auch?
Und erinnern Sie sich an das Gefühl des Triumphes, als die Großen Ihnen dann auch endlich einmal Recht geben mussten? Als Sie mit denen da oben endlich auf Augenhöhe waren (und bei der Gelegenheit vielleicht noch die eine oder andere Demütigung gerächt haben)?

Ein mündiger Bürger darf seinen Standpunkt verteidigen

Niemand ist im Besitz absoluter Wahrheit. Seinen eigenen, kontroversen Standpunkt zu verteidigen, ist daher ein emanzipatorischer Akt. Und zwar zunächst einmal unabhängig von dessen Inhalt. Zu erfahren, dass der eigene Verstand genauso viel wert ist, wie der eines jeden anderen, ist ein unabdingbarer Schritt hin zum mündigen Bürger.
Die nationalistischen und identitären Stimmen - ob öffentlich erhoben oder an der Wahlurne abgegeben - sind solch kontroverse Standpunkte. Wie aber reagieren die Angegriffenen darauf? Sie tun diese Akte als bloß von Ängsten motiviert ab. Als Angst vor Globalisierung, Überfremdung, Jobverlust oder was auch immer. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein Politiker oder ein Kommentator von den Ängsten der Bevölkerung spricht. Mit denen sich das Erstarken der politischen Rechten dann so wunderbar erklären lässt.

Wer Kontrahenten Angstmotive unterstellt, macht sich selbst groß

In der Psychologie nennt man die Untersuchung dieses Austausches von Standpunkten Transaktionsanalyse. Und diese Angstzuschreibung, also dieses "Die tun das ja nur, weil …" ist ein Verhalten, das das Gefälle zwischen zwei Sozialpartnern bekräftigt. Wer Angst hat, ist schwach (und unmündig), wer dem anderen Angst attestiert, groß und stark. Ängste sind irrational, die Analyse dagegen vernünftig. Ein Verhältnis wie zwischen Kindern und Eltern, weshalb die Psychologie hier auch vom Kind-Ich und vom Eltern-Ich spricht.
Und auf den Tadel der "Eltern" reagiert das "Kind" mit Trotz. Das geschieht ganz unabhängig vom tatsächlichen Reifegrad der Beteiligten und ist fast schon ein Automatismus. Behandeln Sie einfach mal einen beliebigen Erwachsenen wie ein unmündiges Kind, und es wird nicht lange dauern, bis es richtig kracht.
Sich auf die Position des Eltern-Ichs zurückzuziehen, ist in einer Konfliktsituation äußerst bequem, denn man muss dabei den eigenen Standpunkt nicht verändern. Verhält sich der andere reuig, bekommt er Trost (und vielleicht auch ein Leckerli). Ist er renitent, wird er gemaßregelt. Die eigene Kompetenz steht dabei in jedem Fall außer Frage.

Dialog beginnt mit der Einsicht, dass auch der andere Seite recht haben kann

Die Rede von den Ängsten der Bevölkerung ist solch eine bequeme Haltung. Und sie deutet darauf hin, dass die Angst wohl eher bei denen sitzt, die diese Rede im Munde führen. Die Angst vor einer richtig unbequemen Auseinandersetzung haben, bei der die eigenen Überzeugungen unter Umständen zur Disposition gestellt werden könnten.
Wer der eigenen Moral aber so wenig über den Weg traut, ist feige. Schon ist man wieder dabei, die aufmüpfigen Blagen mit allerlei Süßigkeiten ruhigzustellen, sei es, dass auch von Links eine Begrenzung der Zuwanderung gefordert wird oder die Konservativen das alte Burkaverbot wieder aus der Schublade holen.
Aus der Spirale von Tadel und Trotz kommt man aber nur heraus, wenn man der anderen Seite prinzipiell zugesteht, dass auch sie Recht haben kann. Wer sich das nicht traut, bekommt dann eben Rechts.

Matthias Gronemeyer ist promovierter Philosoph. Er lebt als freier Autor und Publizist ist Stuttgart. Zuletzt erschienen von ihm die vielbeachtete poetisch-philosophische Studie "vögeln – eine Philosophie vom Sex" und die Erzählung "Ein vernünftiges Gefühl".


© Iris Merkle


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