Politikverdrossenheit

Die deutsche Demokratie braucht neuen Schwung

Wahlkabine - hier wählt der Spitzenkandidat der SPD für die Landtagswahl in Brandenburg, Ministerpräsident Dietmar Woidke; September 2014
Wahlkabine: Wie kann das Wählen attraktiver gemacht werden? Diese Frage stellt unser Autor Lutz Rathenow. © picture alliance / dpa
Von Lutz Rathenow · 01.10.2014
Das deutsche Volk ist wahlmüde geworden. Das sei gefährlicher als die Radikalisierung an den politischen Rändern, meint der Schriftsteller Lutz Rathenow. Er wünscht sich viele gute Ideen für eine "friedliche Evolution" der bundesdeutschen Demokratie.
Ein Gespenst ging einmal um in Europa, meinte Karl Marx 1848, es war das Gespenst des Kommunismus. So beginnen Marx und Engels ähnlich einer Gothic Novel das Kommunistische Manifest. 141 Jahre später löst sich der Ostblock durch die Friedlichen Revolutionen und den Mauerfall in der DDR auf. Es machte den Ostdeutschen 1990 Spaß, wählen zu gehen. Es ging um etwas, was direkte Folgen auf die Lebenszusammenhänge haben würde: DDR-Sein oder bundesdeutsch werden, das war da die Frage.
Seitdem bröckelt die Wahlbeteiligung permanent und erreichte bei den drei letzten Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern einen Tiefpunkt. Und das im Jahr 25 der Friedlichen Revolution. Soll einen da nun gruseln?
Das schon, aber ein Grund zum Fürchten ist es nicht, noch nicht. Das Schöne an der Demokratie ist, dass man ihr gegenüber gleichgültig sein darf. Diese Ignoranz gegenüber der Wahl hat zwei Gründe: Man ist noch zu zufrieden mit dem System, es läuft auch ohne die eigene Stimme. Man traut den Parteien nicht sehr viel zu, aber das Nötige leisten halt alle. Wahrscheinlich wollen immer noch – oder schon wieder – die Allermeisten in den ewig als neu bezeichneten Bundesländern die ganz große Koalition. Es wäre spannend, wenn die Deutschen ihre Art der Demokratie einmal ernsthaft mit der strukturell stark auf Konsens ausgerichteten Schweiz vergleichen müssten.
Es nervte, in der DDR wählen gehen zu müssen
Das Gespenst des Kommunismus hatte ein Gesicht, das es hinter dem Make-up der Macht gut versteckte. Zu diesem Make-Up gehörten regelmäßige Wahlen in der DDR, die keine Alternative anboten. Statt abzunicken sollten da die Wahlzettel ungelesen zusammengefaltet werden. Der Ungehorsam begann nicht erst beim Gang in die Kabine, schon verspätet um 15 Uhr zur Wahl gehen zu wollen, konnte freundlichen Druck durch den Besuch der Wahlkommission bedeuten.
Die Erinnerung an die Wahl ist eine an etwas, das vor allem nervte. Es war eines der harmloseren Gruselstückchen im Labyrinth realsozialistischer Machtausübung. Und das prägte die Menschen im Osten auf merkwürdig-spezifische Weise. Was sagte mir 1990 einmal die Lehrerin meines Sohnes? "Ich will ja eine gute Pluralistin werden, nur muss mir einer sagen, wo es langgeht."
Und heute? Mit jedem Verlust an aktiven Wählern steigt die Gefahr der politischen Zersplitterung. Diese ist momentan größer als die Dominanz radikaler politischer Ränder. Was wäre, wenn einmal 21 Parteien alle knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde blieben? Wahrscheinlich würde die Sperrklausel kurz zuvor endgültig gekippt. Oder vorwiegend Einzelkandidaten mit regional dominanten Themen gewännen ihren Wahlkreis, so wie jetzt im Brandenburgischen geschehen.
Die Skepsis gegenüber den politischen Parteien hat auch damit zu tun, das die Bundespolitik viele Bereiche nicht stark genug beeinflussen kann, siehe Finanzkrise. Die politischen Parteien sollten mehr Menschen einbinden, die keine Parteisoldaten sein wollen. Vielleicht könnte – als Ansporn – die Zahl der Sitze in den Parlamenten mit der Zahl aktiver Wähler berechnet werden. Auch über attraktivere Orte denn Schulen als Wahllokale darf nachgedacht werden, und über das intensivere Ansprechen von Bürgern mit Migrationshintergrund. Es gäbe noch einige praktische Ideen, keine einzige davon hilft allein – zusammen könnten sie allerdings ein Aktivierungsnetzwerk knüpfen, das Wahllust erzeugt. Die Friedlichen Revolutionäre vor 25 Jahren waren auch keine Parteienprofis. Möge uns heute eine Friedliche Evolution innerhalb der bundesdeutschen Demokratie gelingen.
Lutz Rathenow, wurde 1952 in Jena geboren, lebte bis zum Mauerfall in Ostberlin, heute in Dresden und Berlin. Lyriker, Kurzprosaschreiber, Kinderbuchautor, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker, Nachrichtenübermittler. Flanierte zwischen politischer und subkultureller Opposition in Berlin. Kurze Zeit wegen des ersten Buches inhaftiert. Seit 2011 Sächsischer Landesbeauftragter für Stasi-Unterlagen. Am erfolgreichsten: "Ostberlin - Leben vor dem Mauerfall"(mit Fotos von Harald Hauswald), Neuausgabe Jaron 2014, demnächst: "Einer lacht immer. Ein Lesebuch", mdv Dezember 2014.
Der Schriftsteller Lutz Rathenow, Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen
Der Schriftsteller Lutz Rathenow, Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen© picture alliance / dpa - Matthias Hiekel