Politik als Reality-Show

Sind wir nur noch Zuschauer?

Eine Zeichnung von einem Publikum, das ein Video auf einer Website in Form eines Kinos genießt
Politik ist für uns zu Entertainment verkommen und wir realisieren nicht, dass wir protestieren müssten, kritisiert Sieglinde Geisel. © imago/Ikon Images/ Elly Walton
Von Sieglinde Geisel · 06.09.2017
Meldungen, die einen das Fürchten lehren, sind eher die Regel als die Ausnahme, meint Sieglinde Geisel: Vom Kriegsdonner zwischen den USA und Nordkorea bis hin zu den Folgen des Klimawandels. Wir aber schauen einfach nur vom Fernsehsessel aus zu, kritisiert die Journalistin.
In den polytheistischen Religionen gibt es die Vorstellung, dass die Götter von oben zuschauen und sich an unserem Treiben auf der Welt ergötzen. Am lautesten ist ihr Lachen, wenn die Menschen sich selbst für Götter halten und Schicksal spielen. Politik ist, aus der Sicht der Götter, nichts als eine Reality-Show. Sie dürfte kaum je so unterhaltsam gewesen sein wie heute. Entscheidend für die Dramaturgie ist die Willensfreiheit: Dass die Menschen selbst entscheiden, ob sie Gutes oder Böses tun wollen, verleiht der Sache erst ihren Reiz.

Trump und Kim Jong Un: impulsgesteuerte Männer mit Waffen

Die Menschheit hat es geschafft, ihre gefährlichsten Waffen zwei impulsgesteuerten und leicht entflammbaren Jungs in die Hand zu drücken - jetzt wird's wirklich spannend! "Wenn Trump in einem Anfall von Gereiztheit beschließt, etwas in Sachen Kim Jong Un zu unternehmen, gibt es kaum etwas, was ihn stoppen kann." Mit diesen Worten schreckte der amerikanische Ex-Geheimdienstchef James Clapper die Weltöffentlichkeit auf. Allerdings nur für einen Moment.

Staatsbürger verwandeln sich in bloße Zuschauer

Denn in der Position des unbeteiligten Beobachters sind nicht mehr nur die Götter. Je länger je mehr finden auch wir uns gegenüber der Politik im Zuschauersessel wieder. Niemand will den nächsten Aufreger verpassen oder den nächsten Tweet des Mannes, den die Amerikaner ihren Präsidenten nennen. Populismus, das heißt auch, dass jeder mitreden kann bei der großen Politik. Der Preis für diese vermeintliche Volksnähe ist, paradoxerweise, eine Entfremdung. Sie nimmt zu mit jedem Skandal, mit jedem grotesken Auftritt der Hauptdarsteller. Es ist, als fände das alles tatsächlich nur im Fernsehen statt oder im Internet. Und so werden Staatsbürger zu bloßen Zuschauern: Doch wer zuschaut, handelt nicht.

Trotz gravierender Bedrohungen geht keiner auf die Straße

"Empört Euch!", rief vor sieben Jahren Stéphane Hessel aus, der greise Aktivist und Résistance-Kämpfer. Dabei war damals, im Jahr 2010, die Welt noch in Ordnung, jedenfalls nach heutigen Maßstäben. Finanzkrise, Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung - so gravierend diese Probleme auch sein mögen, sie stellen keine unmittelbare Bedrohung unserer Zukunft dar. Inzwischen haben wir es mit ganz anderen Horror-Szenarien zu tun: Neben einem leichtfertig angezettelten Atomkrieg machen uns die unabsehbaren Umwälzungen durch die weltweite Migration zu schaffen. Und schließlich das, worüber wir am wenigsten reden: ein Planet mit Backofentemperaturen, in gar nicht mehr so weiter Ferne. Und doch geht kaum jemand auf die Straße, stattdessen diskutieren wir wie wild auf Facebook.
Es ist gefährlich, wenn Politik zum Entertainment wird. Das Lachen bewirke eine "Anästhesie des Herzens", stellte der Philosoph Henri Bergson vor hundert Jahren in seinem Essay über das Lachen fest. Amüsieren wir uns zu gut um zu handeln? In der Tat sind wir wie betäubt: Wir haben uns an Dinge gewöhnt, die wir uns vor kurzem noch nicht einmal hätten vorstellen können. Oder ist es das Entsetzen, das uns lähmt? Für das, worüber wir uns jetzt empören sollten, gibt es keine Ansprechpartner, die Probleme sind zu global, zu komplex, zu diffus. Wer ist schuld an Flucht und Migration? Wen kann man für den Klimawandel zur Rechenschaft ziehen?

Im Fall des Untergangs werden wir vom Zuschauer zu Betroffenen

Schon einmal stand die Menschheit kurz vor ihrer Vernichtung, so erzählt es die Sintflut-Geschichte. Nach einer sumerischen Überlieferung hatten die Götter genug von den Menschen und ihrem Lärm und wollten sie loswerden. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen uns und den Göttern: Wir sind bei der Reality-Show der Politik nicht nur Zuschauer, sondern auch diejenigen, die im Finale den Untergang riskieren.

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, seit 1999 ist sie es in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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