Poesie und Antisemitismus im "Kaufmann von Venedig"

Wer hat Angst vor Shakespeares Shylock?

Das Denkmal von William Shakespeare, aufgenommen im Park an der Ilm in Weimar (Thüringen).
William Shakespeare: Denkmal in Weimar im Park an der Ilm © picture alliance / dpa
Von Dagmar Just · 29.04.2016
"Der Kaufmann von Venedig" ist das politisch umstrittenste Stück, das William Shakespeare schrieb. Ein Rachethriller über einen Juden, der einem Christen Geld borgt und der, als dieser zahlungsunfähig wird, das Messer wetzt. Viele Kritiker erkennen im "Kaufmann von Venedig" ein zutiefst antisemitisches Stück. Doch man kann es auch anders lesen.
"Der Kaufmann von Venedig" ist Shakespeares berüchtigtes Stück. Von den Nationalsozialisten als antisemitisches Propagandastück missbraucht, gilt es auch unter den Koryphäen des zeitgenössischen Theaters als antisemitisch. Die Inszenierung sowie die Darstellung der Figur des Shylock als jüdischer Schurke bleiben eine Herausforderung für Regisseure und Schauspieler.
Man kann den Text auch anders lesen. Bedingung ist eine Zeitreise ins London der Shakespeare-Zeit und das Venedig der Dogen und ersten Ghettos.
Wer hat Angst vor Shakespeares Shylock? - Über Poesie und Antisemitismus in "Der Kaufmann von Venedig".

"Ein Shakespeare-Stück kapiert jeder.” - Christoph Müller.
"Das glaubt jeder." – Heiner Müller.
"'Der Kaufmann von Venedig', muss ich gestehen, ist eins der Stücke gewesen, an das ich mich im Lauf meiner 35 Berufsjahre wirklich nur mit Skrupeln herangetraut habe."
Ulrich Matthes, gefeierter Darsteller des Shylock am Deutschen Theater Berlin 2005.
Es ist das politisch dunkelste, zwiespältigste, umstrittenste Stück, das der Londoner Theaterstar William Shakespeare schrieb. Falls er überhaupt Theaterstücke schrieb. Denn es gibt keine Beweise dafür, aber viele Theorien über andere Autoren, für die er womöglich nur den Strohmann spielte.
Unabhängig davon ist es ein famoser Genremix: ein Gegenwartsstück aus London, das in Venedig und einem fiktiven Belmont spielt. Ein Justizdrama über eine als Anwalt verkleidete Frau, die ein ganzes Gericht aufmischt und mit einem juristischen Trick einen verfahrenen Prozess komplett umdreht.
Eine romantische Komödie über die Kinder der High Society, die sich mit teuren Masken- und Heiratsspielen zynisch oder hilflos vergnügen. Ein Rachethriller über einen Juden, der einem Christen Geld borgt und als dieser zahlungsunfähig wird, das Messer wetzt, weil der Vertrag, den sie abgeschlossen haben, dem einen das Recht gibt, dem anderen das Herz aus dem Leib zu schneiden.

Shylock - die heimliche Hauptfigur

Der Jude heißt Shylock. Als einziger der 19 Darsteller, darunter drei Frauen, hat er keinen Vornamen. Er taucht auch nur in fünf der 20 Szenen auf. Und das Stück heißt nach seinem Gegenspieler Antonio und nicht nach ihm "Der Kaufmann von Venedig". Trotzdem ist Shylock die heimliche Hauptfigur. An ihm entzünden sich seit über 400 Jahren die Kontroversen - im angelsächsischen wie im deutschsprachigen Raum, auf Bühnen wie unter Akademikern. Seinetwegen wurde das Stück in der Weimarer Republik 150 Mal pro Jahr in 25 Neuinszenierungen aufgeführt. Eines der fünf beliebtesten Shakespeare-Dramen.
Und seinetwegen wurde es noch in den 70er Jahren in den USA als "antisemitisch" eingestuft und seine Behandlung in der Schule behördlich verboten. Es sind nur 360 Verse, die Shylock spricht. Die aber sind so berühmt wie berüchtigt. Am berühmtesten - die Verteidigungsrede, dritter Akt, erste Szene. Hier eine Kurzfassung der Ereignisse, die dazu führten:
In Venedig kursiert das Gerücht, Antonio habe sein gesamtes Vermögen eingebüßt. Antonio ist der Kaufmann, der bei Shylock das Geld für eine Heiratstour seines Vetters geborgt und dafür einen Schuldschein unterschrieben hatte. Da er nun das Geld in der vereinbarten Frist nicht zurückzahlen kann, hat Shylock laut Vertrag das Recht, ihm ein Pfund Fleisch aus dem Körper zu schneiden. Auf der Straße trifft er einen Dandy aus Antonios Entourage, der ihn, halb blasiert, halb ungläubig fragt: "Du wirst sein Fleisch nicht nehmen – wofür soll das gut sein?"
Shylocks Antwort darauf - hier in einer historischen Aufnahme von 1966 mit dem legendären Fritz Kortner, der selbst Jude war, von den Nazis ins Exil getrieben wurde und nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte:
"Fische mit zu ködern. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache. Er hat mich beschimpft, mir ‘ne halbe Million gehindert; meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet, mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde gehetzt. Und was hat er für Grund? Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir’s euch auch darin gleich tun. Wenn ein Jud' einen Christen beleidigt, was ist seine Demut? Nu? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muss seine Demut sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich gelehrt, die will ich ausüben, und es muss schlimm hergehen, oder ich will es zuvortun meinen Meistern."
"Es gibt in Deutschland keinen Sprecher, der das Wort vom blutenden Menschen, wenn man ihn sticht, so hinreißend, so einfach, so eindringlich, so tief erlebensvoll herausbrächte wie dieser Kerl."
Alfred Kerr, Starkritiker der Weimarer Republik, über Kortners Shylock in der Inszenierung von Jürgen Fehling 1927 in Berlin. Und dazu Ulrich Matthes:
"Natürlich hat auch Shylock Grund für seinen Zorn. Was machen denn die Demütigungen, die ein Menschen immer und immer erfahren hat, mit einem? Und wann im – oder explodiert so ein Mensch?"
Dann steigert sich Shylock jedoch in einen wüsten Mordgierfuror.
Vierter Akt, erste Szene, Gerichtssaal. Shylock fordert unerbittlich sein Recht:
"Bei unserem heil’gen Sabbat schwor ich es / Zu fordern, was nach meinem Schein mir zusteht."
Und weiter:
"Ihr fragt, warum ich lieber ein Gewicht / von schnödem Fleisch will haben, als dreitausend / Dukaten zu empfangen? Darauf will ich / nicht Antwort geben; setzet nur, / dass mir’s so ansteht: ist das Antwort g’nug?/ Wie - wenn mich eine Ratte im Hause plagt / und ich, sie zu vergiften, dreitausend / Dukaten geben will? – Ist’s noch nicht Antwort genug? Ich weiß keinen Grund, will keinen sagen / Als eingewohnten Hass und Widerwillen, / Den mir Antonio einflößt, dass ich so / Ein mir nachteilig Recht an ihm verfolge."
Harold Bloom, in New York geborener jüdischer Literaturkritiker und Shakespeareinterpret:
"Man muss schon taub, blind und dumm zu sein, um zu verkennen, dass Shakespeares großartige, zweifelhafte Komödie 'Der Kaufmann von Venedig‘ ein zutiefst antisemitisches Stück ist. Der Holocaust hat es unaufführbar gemacht."
Ganz ähnlich der in Berlin geborene und noch als Kind mit den Eltern emigrierte jüdische Regisseur Peter Zadek:
"Der Kaufmann von Venedig" ist ein antisemitisches Stück mit einer missratenen Figur".
"Mir käme das nicht über die Lippen. Wenn ich denke, dass Zadek das so gesagt hat, dann kann Zadek das, sag ich jetzt mal so kess, deshalb sagen, weil er Jude ist. Ich finde, dass man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen muss."
Ulrich Matthes, gleichfalls in Berlin geboren, aber lange nach der Shoah und dem Kriegsende.

Theater als Massenvergnügen

Genau wie das Original dieser Musik wird der "Kaufmann" meist auf die Zeit zwischen 1596 und 1598 datiert, 1600 erscheint es im Druck, 1604 wird es von den King’s Men, der Schauspieltruppe, deren Teilhaber Shakespeare ist, uraufgeführt.
Damals war alles Theater Kommerz. Ein Massenvergnügen, wie heute die großen Musicalshows. In riesigen Häusern mit bis zu 3000 Plätzen, die an den Rändern der Stadt lagen, in den Amüsiervierteln, zwischen Hetzarenen, Bordellen und Tavernen. Pro Woche strömten bis zu 15.000 Menschen in die Theater. Alle Klassen, alle Schichten. Die lautstark pfeifend, klatschend, grölend wie auf dem Fußballplatz oder beim Sechstagerennen mitteilten, was sie von den Geschichten auf den Bühnen hielten.
Shakespeares erster Shylock-Darsteller war Richard Burbage, einer von Londons Schauspielstars und selber Eigentümer eines Theaters. Wie gab er ihn? Hat er ihn geliebt? Verachtet? Verhöhnt?
"Man hat als Schauspieler grundsätzlich das Problem, dass man seine Figur zumindest verteidigen will, vielleicht sogar muss, wenn nicht gar lieben."
Die Gelehrten streiten sich. Manche meinen, Burbage spielte "ein Fantasie-Scheusal", "eine Alptraum-Gestalt mit feuerroter Perücke und spektakulär großer Nase".
Vielleicht so, wie 1943 Werner Krauss in der berüchtigten antisemitischen Propagandainszenierung des Burgtheaterintendanten Lothar Müthel in Wien:
"Die Maske: ein von grellrotem Haar- und Bartwust umrahmtes blass rosa Gesicht, dazu die unstet-pfiffigen Äuglein, der speckige Kaftan mit dem umgeschlagnen gelben Kulttuch, das grölende oder murmelnde Organ – das alles eint sich zum pathologischen Bild des ostjüdischen Rassetyps ... bei Hervorhebung des Gefährlichen im Humorigen",
berichtet damals unter dem Titel "Shylock – ein Ostjude" ein Kritiker.
War dieser Shakespeare Antisemit? Andere sagen, dass er ihn so neutral gab, dass die Leute sich fragten: "Which is the merchant here, and which the Jew”?
Und doch kündigt der erste Titel des Stücks damals einen Horror-Juden auf der Bühne an:
"Die beste Geschichte des Kaufmanns von Venedig, mit den extremen Grausamkeiten von Shylock, dem Juden, gegen besagten Kaufmann durch Herausschneiden eines Pfunds von seinem Fleisch und die Erlangung der Portia per Wahl der drei Kästchen."
War dieser Shakespeare also Antisemit und sein "Kaufmann" eine Art Vorläufer von Veit Harlans "Jud Süß"?
Der Autor schweigt. Es gibt keine Äußerungen von ihm. Nicht zum Theater, nicht zu seinen Dramen. Es gibt nur den Text - der von den drei Hauptfiguren Portia, Antonio und Shylock dominiert wird – so wie die Zeit, in der er entstand, von den drei Mächten: Elisabeth I., der Melancholie. Und der Paranoia.

EINS: ELISABETH I.

Die Handlung des "Kaufmanns" beginnt so: Ein junger Schnösel namens Bassanio pumpt seinen Vetter Antonio auf offener Straße an, damit der ihm die Reise zu einer gewissen Portia finanziert, einer reichen Erbin, die er heiraten will - auch, um mit ihrem Geld seine Schulden zu begleichen.
"In Belmont is a lady richly left.”
Schnitt. London. Zweite Hälfte 16. Jahrhundert. die "gloriose Zeit", "The Golden Age", Englands mythische Jahre. An der Spitze: eine Frau:
Elisabeth I. Das Volk nennt sie "Feenkönigin", "Sweet Bessy", "Gloriana".
Erfolgreichste Politikerin aller Zeiten.
Die erste Frau, nach der später eine ganze Epoche in der Weltgeschichte benannt wird.
Sowie deren Bewohner, auch Shakespeare und sein Publikum, Elisabethaner heißen.
Mit 25 bestieg sie den Thron und blieb dort bis zu ihrem Tod 1603 - unfassbare 48 Jahre, in denen sie spektakuläre Erfolge wie andere Pilze sammelte. Die größten Dichter knien vor ihr: Abenteurer, Denker, Offiziere, Komponisten, Kapitäne.
Sir Philip Sidney / Philip Marlowe / Francis Bacon / William Shakespeare / Ben Johnson /Edmund Spenser / Francis Drake / William Rawley / John Donne /John Lyly / Thomas Dekker / Gabriel Harvey.
Sie ermuntert sie, fördert sie, inspiriert sie, versorgt sie mit Kaperbriefen, Lizenzen, Projekten. Und sponsort sie durch ein raffiniertes System der Monopol- oder Patentvergabe, das sogenannte "Office of Intellectual Property".
Die jungfräuliche Königin. Europas berühmteste Braut.
Über 30 Jahre war die Königin die reichste, mächtigste und meist umworbene Partie auf dem internationalen Heiratsmarkt. Alle großen Familien Europas pokerten um sie, ihr Königreich, ihre Mitgift.
Jakob IV. von Schottland./ Philipp II., König von Spanien, ihr Ex-Schwager. / Erzherzog Karl von Österreich. / Kronprinz Erik von Schweden. / François Herzog von Alençon, Neffe des französischen Königs
Ein VIP-Tableau am Hof von Shakespeares Portia – erster Akt, zweite Szene "Kaufmann". Auch hier – das Heiratskarussell. Auch hier – der Poker um eine kluge Frau und ihr Erbe. Auch hier – die Liste der hochnoblen Kandidaten aus aller Herren Länder:
Der Prinz von Marokko / der Prinz von Aragon / der Prinz von Neapel/ ein englischer Baron / ein italienischer Marquis / ein sächsischer Graf.
Was für ein Kick, ein Spaß, ein Politikum für die Zuschauer: die Bühnen-Königin beim Abschmettern der erlauchten Bewerber um ihr Reich zu beklatschen.

ZWEI: MELANCHOLIE

Der allererste Satz und Auftritt im "Kaufmann” gehören ihm selbst:
"Freunde, ich weiß nicht, warum ich traurig bin. / Woher es mich angeweht / Aus welchem Stoff es ist, / Ich weiß es nicht."
Antonios Schwermut, seine Melancholie. Heute meist als Folge seiner glücklosen schwulen Liebe zum Vetter Bassanio inszeniert, damals war sie Kult. Ein exklusives Zeichen von Sensibilität und Gottesnähe.
"Alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler waren Melancholiker." Aristoteles.
Das war Konsens:
Schöner leiden als Gesellschaftsspiel. Stilvolle Anbetung der schwarzen
Sonne. Weltschmerz als edle Kunst.
Im gleichen Jahr, in dem Shakespeare den "Kaufmann" schrieb, komponierte der gefeierte Lautenist John Dowland sein grandioses Lachrimae "Flow my Tears”, die Hymne aller Melancholiker.
Der ansonsten erfolglose Autor Robert Burton katapultierte sich mit seiner 1621 veröffentlichten 800 seitigen "Anatomie der Melancholie" über Nacht in die Riege der Klassiker.
Was die moderne Spaßgesellschaft als Depression fürchtet und mit allen Mitteln bekämpft, war unter dem Begriff der Melancholie damals eine Mode unter den mit eigenen Regeln und eigenem Dresscode genauso en vogue wie Schamkapseln, Maskenspiele oder Venedig.
Venedig? – Ganz London schwärmte davon, aber besonders die Eliten. Es war das New York von damals: der Sehnsuchtsort. Trendsetter und Inbegriff von raffinierter Verfeinerung und mondäner Lebensart: Gabeln und Gondolieri. Teure Tizians und Kurtisanen. Filigrane Glaslüster und prächtige Palazzi. Reich ziselierte Waffen und edle Bücher. Rauschende Feste auf dem Wasser und dubiose Karnevalsmasken.
Und dann war Venedig auch das neue Babylon: multikulturell und kosmopolitisch.
Reisende staunten über die "mächtige und gefährliche Mischung so vieler unterschiedlicher Völker".
Menschen von überall bevölkerten die Lagunenstadt - aus Europa, aus Afrika, aus dem Orient und Juden. Denn für sie, das wusste jeder, gab es in der Republik Venedig, was es sonst nirgendwo gab: Rechtssicherheit. Nur Venedig schützte sie vor der Inquisition. Nur in Venedig wurden Repressalien gegen sie geahndet. Im Gegenzug wurden die Juden von der Stadt hart besteuert. Und lange durften sie in der Stadt weder wohnen noch Bauland kaufen. Bis der Senat die Gründung des ersten Ghettos beschloss, im Januar 1516, vor 500 Jahren.
Anfangs lebten 700 Familien dort. Beengt, aber geschützt. Doch ihre Zahl stieg mit Beginn der Judenvertreibungen in Spanien und Portugal derart rasant, dass Mitte des 16. Jahrhunderts bereits das zweite, das "Ghetto nuovo" eröffnet wurde.

DREI: PARANOIA

"The Jew" heißt ein Drama, das 1579 anonym in London erschien. 1589 bejubelt London die Rachetragödie von Philip Marlowe, "The Jew of Malta". Fünf Jahre später bringt der junge Thomas Dekker sein später verloren gegangenes Drama "The Jew of Venice", "Der Jude von Venedig", heraus. Im Sommer darauf steht Philip Marlowes "Jude von Malta" erneut auf dem Spielplan. 15 Tage, en suite, immer ausverkauft. Und kurz darauf schreibt Shakespeare seinen "Kaufmann". Fünf Stücke über geld-, mord- und rachgierige Juden in einem Land, in dem Juden seit 1290 offiziell die Einreise bei Todesstrafe verboten ist.
"England war die erste Nation der mittelalterlichen Christenheit, die sich in einem beispiellosen Akt per Gesetz ihrer gesamten jüdischen Bevölkerung entledigte und ihnen die Rückkehr bei Todesstrafe untersagte." Stephen Greenblatt.
Trotzdem gibt es damals eine kleine Gruppe von 100 bis 200 zwangsgetauften Juden aus Spanien und Portugal in London. Der prominenteste unter ihnen: Roderigo Lopez.
In Portugal geborener jüdischer Immigrant; Medizinstudium in Spanien; ab seinen Dreißigern in England. Schneller Aufstieg zum Society-Arzt; 1586 dann der Ritterschlag: Er wird Leibarzt der Königin. Es folgen: Reichtum, Reputation, große Familie, großes Haus und Neid. Der ihn - wie 100 Jahre später den deutschen Juden Joseph Süß Oppenheimer – an den Galgen bringt.
Anfang der 90er Jahre herrscht in London Krisenstimmung. Nach der Beulenpest – nun eine Flüchtlingskrise. Mehr als 5000 deutsche und niederländische Emigranten sollen in der Stadt gelebt haben. Dazu die aus Frankreich geflohenen Kalvinisten und Hugenotten.
"Es gab so etwas wie eine nationalistische Bewegung, die diese Fremden attackierte, und es drohte ein allgemeines Massaker." Jorge Luis Borges 1964 in "Das Rätsel Shakespeare"
Ein Mann nutzte diese Situation für seine Machtspiele: Lord Essex, der ehrgeizige Favorit der Königin. Jener so melancholische Jüngling nach allerhand militärischen und gesellschaftlichen Niederlagen, sein ramponiertes Image wieder aufzupolieren und sich als Retter der Nation zu inszenieren. Am 21. Januar 1594 stürmte er in Begleitung mehrerer Offiziere das Haus des jüdischen Arztes und verhaftete ihn. Die Anschuldigung lautete auf Hochverrat. Angeblich war Lopez an einem vom katholischen Erbfeind Spanien geplanten terroristischen Attentat zum Sturz der Regierung beteiligt, inklusive Vergiftung der Königin. Sein Motiv: Habgier. Die Rede war von 50.000 Kronen Bestechungsgeld.
"Wahrscheinlich war Lopez unschuldig."
Neil MacGregor in seinem Buch "Shakespeares unruhige Welt":
"Selbst die Königin hatte anscheinend starke Zweifel an seiner Schuld. Doch durch die allgemeine Verwirrung, Paranoia und Doppelagenten war der Fall hoffnungslos verfahren."
Lopez wurde schuldig gesprochen und am 7. Juni 1594 gehängt, ertränkt und gevierteilt. Die Hinrichtung selbst war ein Event. Ein antisemitisches Volksfest. Der tragische Höhepunkt: Lopez letzte Worte. Schon auf dem Schafott stehend soll er "Ich liebe die Königin genauso wie Jesus Christus" gerufen haben. Die Masse verhöhnte ihn mit frenetischem Gelächter.
War Shakespeare im Publikum? Und wenn, war er befriedigt? Angewidert? Schrieb er deshalb das Stück?
Wenn befriedigt, wieso spielt das Stück dann in Venedig?
Wenn angewidert, wieso erfand er dann einen mordgierigen Juden?
Korrumpierte ihn die Hoffnung, dass mit einem solchen Stück die Kasse klingeln würde?
Wollte er so Lord Essex, der ein enger Freund seines Gönners war, schmeicheln?
Oder war Mitleid für Juden damals ein Tabu, das keiner ungestraft brach? Fürchtete Shakespeare, dass ein menschlicherer Shylock ihn wie so viele seiner Dramatikerkollegen ins Gefängnis bringen könnte?
Und: Was folgt aus all dem für uns?
Wozu brauchen wir dieses 400 Jahre alte Stück? Was suchen, was finden wir darin? Wieviel fremde, wieviel eigene Geschichte?
"Ich finde, dass Shakespeare da etwas Tollkühnes gelungen ist in dieser Figur, in diesem Stück. Und natürlich kann man nicht ahistorisch an das Stück herangehen."
"Wenn ich so eine Rolle probiere, da ist doch meine ganze Beschäftigung mit der Shoah, mit dem Nationalsozialismus, mit Totalitarismus, meine ganzen Lektüren, Semprun, Kertész, Primo Levi, Klemperer in mir und wartet darauf, quasi kreativ umgewurschtelt und in Spiel übersetzt zu werden",
sagt Ulrich Matthes, der Schauspieler.
Dagegen sagt Harold Bloom, der jüdische Literaturwissenschaftler:
"Der Holocaust hat den 'Kaufmann von Venedig’ unaufführbar gemacht."
"Ich bin ja nun mal Schauspieler. Ein Maler würde ein Bild malen, und ich geh auf eine Probebühne und fange an zu probieren, so intuitiv, so impulsiv wie möglich. Aber davor und danach bin ich, der Mensch, der ich bin. Ein überaus neugieriger Mensch. Auschwitz hat es gegeben. Und die Nazis hat es gegeben. Das nehme ich als Zufall des Schicksals, dass ich in dieses Volk hineingeboren bin an, und versuche damit umzugehen. Und zwar mein Leben lang."
Und die Regisseure? Wie stellen sie sich diesem Thema, hier und heute?
Sie gehen ihm aus dem Weg, vermeiden den Konflikt. Beispiel eins: die Berliner "Kaufmann"-Inszenierung von 2005, in der Ulrich Matthes den Shylock spielte:
"Ich war ein bisschen verdattert. Es war eine mehr oder weniger geschickte Nacherzählung des Stoffes mit ein paar bunten Bildern illustriert. Das fand ich enttäuschend, das fand ich geradezu sträflich."
Beispiel zwei: Münchner Kammerspiele 2015. Die Kritik moniert:
"Stemann macht den heiklen Text unschädlich und unkenntlich."
Beispiel drei: Schauspielhaus Leipzig 2013.
"Bachmann drückt sich mit ironischer Collage-Ästhetik vor den Abgründen des Stücks."
Ein Gegenvorschlag. Arbeitstitel: Das Herz. - Welches Herz? Shakespeares "Kaufmann von Venedig" als bittere politische Farce – frei nach Fritz Kortner:
Das Thema ist nicht Shylocks Mordgier. Das Thema ist die von Gott und allen guten Geistern verlassene Spaßgesellschaft. Ihre unter den lachenden Masken verborgenen kleinen Verbrechen und großen Lügen. Der Kitt aus Sex and Crime, Geld und Hass, der sie zusammenhält. Und die Gesetzesmaschinerie, mittels derer sie Fremden eine Religion aufzwingen, die sie selbst nicht die Bohne interessiert.
Fritz Kortner:
"Ich brannte darauf, ein Shylock zu sein, der, von der christlichen Umwelt unmenschlich behandelt, in Unmenschlichkeit ausartet."
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