Platten und Polaroids

Das Comeback des Analogen im digitalen Kosmos

Eine grüne Kassette aus den 1970er-Jahren liegt auf einem Terrazzo-Steinboden.
Die Kassette ist nicht nur ein günstiges Medium, sondern steht in der heutigen digitalbeeinflussten Zeit für eine analoge Lo-Fi-Ästhetik. © dpa - picture alliance / Maximilian Schönherr
Von Lydia Heller und Andreas Hartmann · 26.10.2016
Mitten in der umfassenden Digitalisierung der Welt haben Vinyl-Platten, Kassetten und Polaroidkameras plötzlich wieder Konjunktur. Was steckt dahinter? Bloße Nostalgie?
Ein Wohnzimmer. Überall Schallplatten.
"Ich hab´s mal überschlagen – ich glaub, so ..10.000?"
In Regalen. Auf dem Fußboden. In jedem Zimmer. Sogar in der Küche.
"Ach so – draußen geht’s weiter! Oh! Hier ist so altes Zeugs, Jazz, Soul, HipHop, Elektronik…"
Andreas und Jörn – Plattensammler besucht Plattensammler. Berlin, im Oktober 2016.
"…interessant, das ist ja zum Teil neu, auch Re-Issues.. Oh! Dann hören wir mal schön die Green."
"Wie das kennst Du, ja?"
"Ja, das ist super!.."
Plattenstapel durchblättern. Das Knistern des Vinyls, bevor die Musik beginnt. Geräusche aus den 1960er- und 70er-Jahren – vielleicht noch aus den frühen 80ern. Danach beginnt der Siegeszug der CDs. Plattenspieler werden eingemottet, Platten landen auf dem Flohmarkt. Endlich nicht mehr ärgern über Knacksen und Nebengeräusche! Wer um die Jahrtausendwende noch Platten hört, ist entweder alt oder schrullig oder beides.

Auferstehung eines totgeglaubten Mediums

Seit rund fünf Jahren allerdings erlebt Vinyl ein erstaunliches Comeback. Plattenläden kehren in die Städte zurück. Filme, Zeitschriften und Bücher feiern die Auferstehung des totgeglaubten Mediums.
Morisse: "..dass es halt toll ist, dass es wieder Platten gibt, dass die Industrie sich dafür wieder interessiert, dass wieder Schallplatten rausgebracht werden, von den Neuerscheinungen."
Jörn Morisse. Kulturwissenschaftler. Plattensammler. Autor des Buches "Plattenkisten. Exkursionen in die Vinylkultur".
"Das hab ich halt genossen, nachdem es diese lange Durststrecke gab und man auf CDs und Downloads angewiesen war."
Wer in den 1990er Jahren Musik macht, veröffentlicht sie auf CD – wer Musik hört, kauft sie auf CD. CDs sind weniger empfindlich als Platten und einfach zu benutzen. Man muss sie nicht umdrehen und kann von Titel zu Titel springen. Und trotzdem: Der Weltverband der Phonoindustrie meldet sinkende CD-Verkaufszahlen, Jahr für Jahr, seit gut zehn Jahren.
"Und jetzt gibt’s von neuer Musik verschiedene Formate, eben auch die Schallplatte. Und wenn man sich‘s aussuchen kann, ist das das Medium meiner Wahl."
Seit es möglich ist, Musik als reine Audiodatei zu speichern – seit man Alben oder Songs über das Internet kaufen und downloaden – oder streamen kann, sind physische Tonträger überflüssig. Wer darauf nicht verzichten möchte, kauft heute: Platten. Deren Verkäufe waren laut Bundesverband der Musikindustrie in diesem Jahr fast ein Drittel höher als 2015, im nächsten Jahr erwartet die Branche einen ähnlichen Zuwachs.

Analog-Enthusiasten in einer digitalen Welt

Vinyl ist hip.
"Ich hab jetzt auch ein paar Beispiele mitgebracht, vielleicht kann ich dann einfach mal zeigen, was so Platten sein können."
Jörn Morisse blättert in seinem Platten-Karton. Er zieht eine Platte aus dem Stapel – ein Cover in schwarz-weiß, darauf vier Köpfe.
"…du klappst sie auf, du hast die Bilder, die Typographie, du riechst es ja vielleicht sogar ein bisschen – das kommt aus einer anderen Zeit!"
Schallplattenspieler mit Langspielplatte 
Schallplattenspieler mit Langspielplatte© imago stock&people
Die Platte hat er vor Jahren von seinem Vater bekommen. Erzählt er, während er sie aus dem Cover zieht und vorsichtig auf den Plattenspieler legt.
"Und das war immer schön, sich vorzustellen, dass mein Vater die schon in der Hand hatte und er hat, glaube ich, sogar mal erzählt, wie er mit seinem ersten Lehrlingsgeld zum Elektroladen damals, glaube ich, gegangen ist, und sich diese Beatles-Platte gekauft hat. Da hatte er mal was von gehört. Das ist diese neue Band. Die Beatles. Und … naja, immer wenn ich das höre, muss ich auch immer an meinen Vater denken. Wie der so mit 16/17 war."
Erinnerungen, Aura – "Charme": das vermissen Analog-Enthusiasten überall im digitalen Kosmos. In den USA treffen sich Freizeit-Literaten neuerdings zu "Type-Ins" – zu Treffen, auf denen sie mit manuellen Schreibmaschinen schreiben. In Deutschland gehören Teenager, die sich mit analoger Nachrichtentechnik beschäftigen, zum festen Teilnehmerkreis auf Hacker-Treffen. Musiker arbeiten wieder mit Röhrenverstärkern und Analog-Synthesizern. Nostalgiker? Retro-Fans? Nicht nur.
Bartmanski: "Wir hören ja immer, dass Künstliche Intelligenz oder Computer den Menschen in vielen Bereichen überlegen sind: Sie schlagen uns im Schach, in Quiz-Shows, neuerdings sogar im Strategiespiel 'Go'."
Dominik Bartmanski. Kultursoziologe an der Technischen Universität Berlin – und Autor des Buches: "Vinyl - The Analogue Record in the Digital Age".
"Aber: menschliche Intelligenz macht viel mehr aus. Es geht nicht nur immer darum, Probleme zu lösen. Es geht auch um Geist, Geschmack, Kunst – um ästhetische Erfahrungen. Das kann eben nicht so einfach simuliert werden. Dieses 'reale Leben'".

Ein Klassiker auf Vordermann gebracht

"Brauchst Du Hilfe?"
"Ähm, ja, kann ich die mal kurz rausnehmen? ...geht noch um die Farbe…"
"Himbeere!"
"Ja, hm… ich bleib bei lila...."
Berlin-Mitte, Scheunenviertel. Seit 2009 betreibt Jörn Freitag hier den "Sofortbild-Shop Berlin" – ein Geschäft für analoge Sofortbild-Kameras. Die Polaroid 600 findet man hier zum Beispiel – gebraucht, aber wieder auf Vordermann gebracht. Ein Klassiker.
"Diese Kamera kann nicht wirklich was, weil die ist von 1985 und da ist der Vorgang recht simpel gewesen: Film rein – warten, bis der Blitz geladen ist – uuund – Blitzen: Das ist ein Polaroid-Foto. Mehr gibt’s da nicht."
Noch in den 1990er-Jahren gab es in vielen Haushalten eine Polaroid-Kamera. Zu Weihnachten und an Geburtstagen holte man sie hervor – weil man innerhalb von Sekunden die Fotos in den Händen halten konnte. Und nicht – wie sonst bei Analog-Kameras üblich – warten musste, bis der Film vom Entwickeln zurückkam. Die Digitalfotografie jedoch machte die Geräte schlagartig überflüssig. Die Verkäufe sanken – 2008 stellte Polaroid die Produktion von Kameras und Filmen ein.
Eine Frau schaut sich auf der Messe Photokina die Polaroid Kamera Socialmanic an (2014).
Eine Frau schaut sich auf der Messe Photokina die Polaroid Kamera Socialmanic an (2014). © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Doch die analoge Sofortbild-Fotografie überlebte. Wiener Unternehmer nahmen die Produktion der Sofortbild-Filme wieder auf. Mit Erfolg. Verkaufte die Firma 2009 noch rund hunderttausend Filme pro Jahr, waren es fünf Jahre später bereits eine Million. Inzwischen produziert auch der japanische Foto-Hersteller Fuji eigene, neue Sofortbild-Kameras – und Jörn Freitags Sofortbild-Shop hat sechs Tage die Woche geöffnet. Neben Künstlern und spezialisierten Fotografen kommen vor allem: junge Leute. Wie Anna.
Lydia Heller: "Sie suchen eine Kamera für Ihre 11-jährige Nichte, sagen Sie – weil?"
Andreas: "…das heutzutage für die völlig undenkbar ist, dass man irgendwas in der Hand hat und sich anschauen kann. Und sie das nur noch auf dem Bildschirm eigentlich kennen. Und ich glaub, dieses, dass es wirklich dann ein einzigartiges Bild ist, dass es nicht vervielfältigbar ist und ja - glaub ich, weil‘s einfach auch ganz lustig ist, wenn man dann durch die Gegend laufen kann und immer direkt sowas in der Hand hat, eine halbe Stunde später."
Heller: "Die Fangemeinde, die jetzt entsteht, ist halt die Fangemeinde, die das von früher nicht kennt. Wir fanden es ja damals toll, weil der 36er Film damals eine Woche gebraucht hat, das war ja damals der Aha-Moment: Oh, ein Sofortbild! Aber meine 15-jährige Nichte findet‘s halt toll, weil sie das ja gar nicht miterlebt hat. Heutzutage sind alles Sofortbilder, ich sehe es ja immer gleich. Also kann‘s heute ja eigentlich nur noch ums anfassen und erleben und die besondere Chemie gehen. Also das ist eben das, was die Leute fasziniert."

Briefe mit der Hand schreiben

Etwas in der Hand haben, anfassen. Erleben. Abseits eines Bildschirms. Teil einer Gegenwehr sei dieser Wunsch, gegen die Durch-Digitalisierung der Gesellschaft, die uns als alternativlos präsentiert werde. Schreibt Andre Wilkens 2015 in seinem Buch "Analog ist das neue Bio". Mit Freunden auf Konzerte gehen, fordert er darin, müsse wieder fester Bestandteil des Alltags werden, genauso wie bar zahlen, Briefe mit der Hand schreiben und analog fotografieren - besser noch: malen. Ansonsten gingen uns Dinge verloren, die "uns als Menschen ausmachen".
Technikfeindlichkeit? Kulturpessimismus? Nicht nur.
"… wir sind jetzt im Labor-Bereich, hier im Faradaischen Käfig analysieren wir Hirnströme, auch während Tastaufgaben gelöst werden müssen…."
Die Hand einer Frau, die einen Brief mit einem Füllfederhalter schreibt.
Eine Frau schreibt einen Brief mit einem Füllfederhalter. © dpa / picture alliance / Tobias Hase
Universität Leipzig, Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung, Haptik-Labor. Hier erforscht Martin Grunwald die Grundlagen der Tastsinnes-Wahrnehmung – die Rolle von Berührungen für die menschliche Psyche. Der Einfluss des Körpers auf Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse, sagt er, wurde von der akademischen Psychologie lange unterschätzt. Heute weiß man:
"Wenn man nicht hinreichende Berührungs-Reize erfährt, dann reifen bestimmte Hirngebiete nicht. Körperreize sind der Motor für Hirn- und Körperentwicklung. Das belegt am Tier und am menschlichen Modell. Auf der anderen Seite ist das Tastsinnes-System auch das System, womit wir die Eigenschaften der äußeren Umwelt überhaupt erkennen, studieren und wahrnehmen können."
Heller: "Das heißt, wir erkennen unsere Umwelt erst, wenn wir körperlich mit ihr interagieren?"
Martin Grunewald: "Nur auf diese Weise. Und das kann man auch nicht reduzieren. Wenn man da Modalitäten wegnimmt, ist das eine extreme Reduktion der äußeren Umwelt. Die Komplexität der äußeren Umwelt kann am besten im multimedialen Kontext erfasst werden."
Morisse: "… das macht Geräusche, das ist ein mechanischer Vorgang – dann hab ich die Geschwindigkeit eingestellt, drücke auf Start und senke den Tonarm auf die richtige Stelle."

Bei den Platten aus den 1970er-Jahren hängengeblieben

Zurück bei Andreas und Jörn. Die Sammler sind bei einer Platte aus den 1970er Jahren hängengeblieben: Psychedelic-Pop aus der Türkei.
Jörn: "Das Schöne ist, dass es die Musik ein wenig langsamer macht. Es ist etwas anderes als irgendwo drauf zu klicken. Und ich genieß das: durch das Archiv zu gehen und die Finger spielen zu lassen: Welche Erinnerungen möchte ich hervorzaubern? Oder, mit was möchte ich mich beschäftigen, mich fordern? In welche Zeit der Musikgeschichte möchte ich mich versenken?"
Andreas: "Ich glaube, das unterstützt schon so eine altertümliche Form des Musikhörens. Dass man sich die Platte auflegt, sich auf die Couch setzt und dann das Album hört. Wir hören noch Alben!"
Jörn: "Wenn ich weiß, dass ich eine Platte aufgelegt habe, hab ich das Gefühl, es klingt besser. Oder ich fühle mich besser, als wenn jetzt nur der Stream durchläuft von irgendwas."
Als in den 1990er Jahren die CD ihren Siegeszug antritt, überzeugen die Vorteile der digitalen Musikwiedergabe: die Fehlerkorrektur, die Nebengeräusche herausrechnet, der kristallklare Klang. Vor allem Klassikfans sind begeistert.
Aber digitales Hören – ist Schwerstarbeit: Unser Gehirn, finden Neuro-Informatiker der Technischen Universität Berlin 2013 heraus, versucht permanent die Lücken zu schließen, die durch Umrechnen und Komprimieren entstehen. Die Folge: die Aufmerksamkeit lässt schneller nach, man ermüdet früher, empfindet eher Stress und verbindet negative Emotionen mit dem Gehörten.
Inzwischen allerdings ist digitale Aufnahme- und Wiedergabetechnik erwachsen geworden, es gibt bessere Analog-Digital-Wandler und hochauflösende, verlustfreie Digitalformate.
Ist die " Aura des Analogen" ein Mythos? Nicht nur. Dominik Bartmanski von der TU Berlin:
Bartmanski: "Je digitaler unser Alltag wird – desto mehr sehen wir diese Sehnsucht nach dem Alten, das rasant schnell aus unserem Leben verschwindet. Einerseits sind wir zwar froh darüber, dass alte und umständliche Dinge weg sind – und dass wir jetzt bessere und effizientere Geräte haben. Aber gleichzeitig merken wir, dass Effizienz allein uns auch nicht zufriedenstellt. Oder reine Nützlichkeit. Dass wir immer auch nach Bedeutung und Erfahrung suchen. Und das ist etwas ganz anderes."

Musik ausschließlich auf Kassette

Besuch beim Musikproduzenten Elia Buletti. Sein Wohnzimmer in Berlin-Neukölln dient als Studio, vollgestellt mit Analog-Synthesizern, Samplern, Akustikinstrumenten. "Das andere Selbst" heißt sein Label – seit 2008 produziert er darunter Musik, ausschließlich auf Kassette.
Buletti: "Natürlich ist Kassette nicht an sich irgendwie 'besser'. Aber – mit Kassetten ist es ähnlich wie mit Platten. Man gestaltet in gewisser Weise auch seine Umgebung damit – Kassetten und Platten sind ja immer da, wie Menschen, oder die Idee von Menschen. Auch wenn man sie gar nicht benutzt: man kann die Cover sehen, man kann sie irgendwie fühlen. Und wenn man sie umstellt, dann verändert das den ganzen Raum. Sie sind wie Gefährten, ja? Eine physische Präsenz."
Früher, erzählt Elia Buletti, war die Produktion für und von Kassetten für ihn die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt zu arbeiten – jenseits aller Normen, die in der Musikindustrie gelten. Einschließlich der ästhetischen. Heute kommen junge Leute zu ihm, weil sie den Produktionsprozess lieben – in seiner ganzen analogen Umständlichkeit. Wie Björn Magnusson aus Zürich. Der Musiker hat sein gesamtes zweites Album analog produziert.
Magnusson: "Ich mag diese Physikalität. Allein den Gedanken, dass hier Elektrizität magnetische Abdrücke erzeugt und die Töne dann wirklich physisch auf dem Tonband sind. Und vorher: Man läuft durchs Studio, steckt Kabel zusammen – und Du weißt: wenn Du Gitarre spielst, ist da ein Mikrofon, das nimmt den Klang auf, es ist mit dem Mischpult verbunden und das mit der Band-Maschine – und die wandelt die elektrischen Signale in magnetische um. Das begeistert mich einfach."
Taste eines Kassettenrecorders
Kassettenrecorder© imago/McPHOTO/Joss
In Leipzig hat Martin Grunwald sein Labor abgeschlossen, geht zurück in die Werkstatt. Zwei kleine Räume im Souterrain des Paul-Flechsig-Instituts, darin Werkbänke mit Bohrmaschinen, Schraubstöcken und Computerbildschirmen – umgeben von Kabeln, Holzleisten, Kaffeebechern, Metallplatten, Ordnern. Den Psychologen und Haptik-Forscher überrascht die Begeisterung junger Leute für analoge Geräte nicht.
Grunewald: "Der wesentliche Motor dieser Freude am Analogen ist die Freude an der Handhabungs- Kompetenz, die man beim Umgang mit dieser Technik erleben kann. Wir können nicht gut leben, ohne dass man in seinem Alltag Wirkungs- und Handlungskompetenz auch spürt. Der Trend zum Selbermachen, zum selber handeln, zum selber gestalten - der ist ungemein groß. Ich kenne sogar Leute, die haben Kurse besucht, um sich mit einer selbst geschliffenen Einhand-Klinge zu rasieren, was ja eine ausgesprochen anspruchsvolle Handlung ist."
Heller: "Unser Alltag bietet nicht mehr genug Gelegenheiten, sich als wirkmächtig zu erfahren?"
Grunewald: "Unser Alltag ist im Wesentlichen, gerade wenn man im Dienstleistungssektor arbeitet: Plastik-Tastaturen, ein bisschen telefonieren und das war's dann auch schon. Und auch der Smartphone-Alltag erfordert keine Handhabungs-Kompetenz mehr im klassisch analogen Sinne."
Heller: "Heißt das, dieses Argument, dass mit der Digitalisierung viele Alltagsgegenstände 'bedienerfreundlicher' geworden sind, viel einfacher zu benutzen – das wiegt gar nicht so schwer? Sträuben wir uns dagegen, dass vieles um uns herum einfacher worden ist?"
Grunewald: "Es ist dermaßen vereinfacht worden, dass es unsinnlich geworden ist. Darunter leiden die meisten Bedien-Strukturen, die uns umgeben aktuell, dass sie für das Tastsinnes-System keine Herausforderungen mehr darstellen. Dass es einfach keinen Spaß mehr macht, die Dinge zu benutzen, weil wir in unserer Handlungskompetenz vollständig degradiert werden."

Wie werden digitale Fotos zu Polaroid?

Produktentwickler haben die Bedeutung analoger Elemente für Alltagsgegenstände mehr und mehr im Blick. Es gibt Aufsätze für Smartphones, über die Fotos aus der Bildergalerie wieder in "echte" Polaroid-Fotos verwandelt werden können – über einen analogen Belichtungsvorgang, gesteuert per App. Designer der Berliner Universität der Künste haben Dreh- und Schieberegler entworfen, die physisch auf IPads gesetzt werden können. Das Schneiden von Videos soll damit leichter fallen als über eine reine Touch-Oberfläche. Die schwedische Firma Shortcuts Labs entwickelt Plastik-Knöpfe – die sich ans Smartphone anschließen lassen und mit denen man die Playlist starten oder andere Funktionen auslösen kann: Mit einem fühlbaren Druck und einem hörbaren Klick – statt mit einem Wisch über das Display.
Berlin, Computerspiele-Museum. Museums-Direktor Andreas Lange holt eine kleine rosa Kugel mit Baby-Gesicht aus der Sammlung – und einen kleinen Mann mit blauer Latzhose, roter Mütze und Schnurrbart.
Lange: "Ja hier haben wir zwei Amiibos von Nintendo, einerseits so eine Figur, der Kirby, und andererseits Mario, den Klassiker von Nintendo. Beide mit einem Chip ausgestattet, so dass sie dann mit einem bestimmten Programm kombiniert werden können. Man setzt sie dann auf die Nintendo-Konsole in dem Fall, da werden Sie dann wahrgenommen über eben diesen Chip und erscheinen im Spiel. Man kann sie dann spielen und auch weiterentwickeln und der Spielstand wird dann in der Figur auch abgespeichert, so dass man sich quasi in die Tasche stecken kann und mitnehmen kann."
In den 1970er Jahren kommen die ersten Videospiele-Konsolen auf den Markt, zehn Jahre später die ersten Spiele für PCs. In rasender Geschwindigkeit erobern sie die Kinder- und Jugendzimmer – und ziehen Millionen Menschen heraus aus der Wirklichkeit hinein in die virtuellen Welten der Computerspiele. Heute verbringen Schüler Schätzungen zufolge bis zum Abitur rund zehntausend Stunden mit Computerspielen. Jeden Tag spielen etwa eine halbe Milliarde Menschen mindestens eine Stunde lang Online-Spiele.

Die Faszination der digitalen Wirklichkeit

Computerspiele – sind das Symbol für die Faszination der digitalen Wirklichkeit. Aber: auch die Spielehersteller entdecken analoge "Spielzeuge" – und verschmelzen sie mit den digitalen Welten. Mit einem Erfolg, der sie selbst erstaunt: Nintendo verkaufte rund zweieinhalb Millionen Amiibo- Figuren allein in den ersten sechs Monaten – doppelt so viele wie vom rein digitalen Nintendo- Flaggschiff Super Smash Bros. Die Skylanders-Reihe von Activisions, die 2011 das Genre der physisch-digitalen Spiele begründete, gehört heute zu den bestverkauften Game-Franchises aller Zeiten. Und seit das Augmented-Reality-Spiel Pokemon Go veröffentlicht wurde, jagen Eltern und Kinder zusammen per Smartphone virtuelle Wesen in echten Parks, Straßen und Gebäuden.
Eine Frau spielt auf ihrem Smartphone Pokémon Go.
Eine Frau spielt auf ihrem Smartphone Pokémon Go.© dpa / picture alliance / Daniel Karmann
Lange: "Man muss sich physikalisch bewegen und erst in dieser Kombination, einen konkreten, physikalischen Ort aufgesucht zu haben oder ein physikalisches Objekt irgendwo platziert zu haben, mit eben dem digitalen System – erst in dieser Kombination ersteht dann die Spielsituation. Insofern geht Augmented Reality eben durchaus hin wieder zu materiellen Elementen. Und das ist in der Tat so eine Art Rollback, was wir seit 2011 erleben, wo zunehmend wieder unsere ganz urmenschlichen Bedürfnisse in den Blick genommen werden und in einer marketingtechnisch gewinnträchtigen Kombination uns angeboten werden als Produkte."
Mit rund 450 Millionen Dollar Umsatz ist Pokemon Go schon jetzt eine der erfolgreichsten Apps überhaupt. Gemessen an den Umsätzen der Computerspiele-Branche insgesamt – rund 95 Milliarden Dollar erwarten Experten in diesem Jahr weltweit – ist das trotzdem nur eine Fußnote. Und: Mit einem Anteil von knapp drei Prozent am Musikmarkt sind auch Platten ein Nischenprodukt. Die Industrie produziert sie nicht aus Liebe, erzählt Platten-Experte Frank Wonneberg im Magazin für Vinylkultur – sondern weil sie der letzte physische Tonträger seien, der sich mit Gewinn verwerten lässt.Analog also: eine Verkaufs-Strategie? Die sinnlichere, nachhaltigere und geselligere Alternative? Das Luxus-Feature im digitalen Mainstream? Analog ist doch das neue Bio? Nicht nur.
Bartmanski: "Digitalisierung ist ja stark verbunden mit Beschleunigung – eines der großen Themen unserer Zeit. Und in analogen Geräten sehen viele Leute das Gegenteil."
Kultursoziologe Dominik Bartmanski.
"Sie stehen für ein langsameres Leben, bewusstere Erfahrungen. Etwas, was dieser permanenten Beschleunigung entgegensteht. Aber: Es geht hier nicht um gut oder schlecht – es geht, darum, die Balance wiederzufinden."

Verlassene Büros und leere Studios

"..wie machen wir das dann? Wir können auch was sampeln?"
"Soll ich Dir mal’n Signal geben?"
Berlin-Oberschöneweide, Funkhaus Nalepastraße. Früher hatte hier der Rundfunk der DDR seinen Sitz, heute ist es eine Baustelle. Holz, Beton und Staub. Verlassene Büros und leere Studios. In einem davon ein altes Analog-Mischpult, links davon ein Tisch mit Computer und teuer aussehender, digitaler Studiotechnik. Andi Thoma, Mitglied des Elektro-Duos Mouse on Mars, und Klangkünstler Thomas Mahmoud Zahl testen "fluXpad"..
"... Fluxpad, Fluxpad, Fluxpad…"
…eine App, mit der sich Musik, auf einem IPad zum Beispiel – malen lässt.
"Jetzt hab ich hier so Drumsounds und kann die über Malfunktion eingeben. Das interessante ist, durch das Malen malt man auch die Modulation von dem Sample."
"Jetzt kann ich da reinsingen. Okay, mach mal!"
"Jetzt kann man dieses Sample zerschneiden und in einer rhythmischen Struktur eingeben. Mal gucken, was passiert."
Drei Jahre lang haben sie an der App gearbeitet: Das IPad wird zum Werkzeug, zum Instrument, das – wie ein Akustikinstrument auch – mit Körpereinsatz und Fingerfertigkeit: gespielt wird.
Thoma: "Es hat auch was sehr unmittelbares, man macht das aus so einer Energie – die Energie, etwas zu gestalten, die bleibt bestehen, weil man auch zuhört. Also, man ist nicht mit Technik beschäftigt, sondern man sieht, was man gemalt hat, an Sounds, und kann auch arrangieren. So unmittelbar. Aus dem Moment. Ja, diese komischen Dinger, die man immer mit sich rumschleppt und streichelt, da kann man halt auch positive Sachen mit machen. ..Das ist die Gitarre von heute. Ja."

Sounds der "wirklichen Welt"

Auf der Suche nach neuen, noch ungehörten Sounds, Geräuschen und Rhythmen, erzählen die Künstler, sind sie immer wieder zurückgekommen – auf den Körper, die Umgebung – die sogenannte "wirkliche Welt".
"Als ich damit anfing – also ich nehme meine Waschmaschine auf und mach daraus einen Basslauf – da ging es mir auch immer darum, den Moment der Einzigartigkeit kurz herstellen zu können, den ich nicht reproduzieren kann mit irgendeinem digitalen Gerät. ..Ich kann mit den Fehlern arbeiten. Das hab ich beim Digitalen nicht. Ich sitz dann am Rechner und sehe hier ist es zu laut, dort zu leise. Wenn ich analog arbeite, merke ich das gar nicht. Ich geh mit dem Fehler um, vielleicht ist er auch gut. Oder es kommt jemand zur Türe rein und das nehm ich dann noch mit. Arbeiten mit den Zufall."
Thoma: "Das lässt sich auch nicht machen mit einer Software. Da fehlt dann die Seele."
TMZ: "Analog kann ich erstmal nicht korrigieren. Am Rechner kann ich jederzeit hingehen und die Spur löschen und alles wegschmeißen."
Jemand hat seine Umwelt wahrgenommen, mit ihr interagiert, einen einzigartigen Moment bemerkt oder geschaffen – und ihn festgehalten. Das – ist "Seele".
Thoma: "Mir ist egal, ob die Seele analog oder digital ist. Letztendlich wird sowieso alles digital."
Der Charme, die Aura. All das hängt weniger davon ab, ob ein Lied, ein Text oder ein Bild auf einer Platte, in einem Buch oder auf Fotopapier existiert. Sondern eher davon, wie es entstanden ist.
Noch einmal zurück in Jörn Freitags Sofortbild-Shop. Eine Frau ist vor der Pinnwand mit Polaroid- Fotos von Kunden stehen geblieben. Manche bläulich, manche rötlich – viele unscharf und einige gar nicht komplett entwickelt, weil das Fotopapier schon alt und eingetrocknet war.
"Unterschiedliche Effekte des Films sind immer von der Außenwelt beeinflusst, also: Temperatur, Luftfeuchtigkeit, wie ich fotografiere, wie warm ist es bei der Entwicklung, also: optimale Temperaturen sind so 15 bis 25 Grad, wenn ich da drunter fotografiere, wird‘s eher blau und grün – und über 25 Grad wird‘s immer mehr rot und orange haben. Also wenn ich so einen Effekt haben will, kann ich die Bilder beim Entwickeln in die Gefriertruhe tun, auf die Heizung legen, manche fahren da mit dem Fahrrad drüber – aber das ist ja auch der Charme des Analogen. Es ist halt erst mal einzigartig und man hat einen ganz anderen Zugang zu so einem Ergebnis."

An der Wirklichkeit scheitern

Die analoge, physische Welt zu begreifen – und sie sich anzueignen, sagt Psychologe und Haptik-Forscher Martin Grunwald – das ist ein zähes Geschäft. Es erfordert Mühe, Geschick und Geduld – den Mut zuzugeben, dass man die Umwelt nie völlig unter Kontrolle hat und die Stärke zu akzeptieren, dass man an der Wirklichkeit auch scheitern kann. Mit dem Finger einen Kreis auf einem Tablet zu zeichnen, sei viel einfacher, als einen Kreis mit einem Stift auf Papier zu zeichnen.
Grunwald: "Da müssen Griffpositionen, Aufdruckstärken, Vibrationen, die beim Zeichnen stattfinden – also es ist ein ganz viel größeres, multisensorisches Gemisch, was dort gemanagt werden muss. Also, die digitale Welt ist in jedem Falle, in jedem Falle, eine sensorische Reduktion. In jedem Falle. Das ist niemals so komplex wie ein analoges, physisches, reales Ereignis. Wenn einerseits die positiven Erfolgserfahrungen in der digitalen Welt gemacht werden – und wenn man dann versucht, das in der realen physischen Welt zu transportieren und dann sehen muss, dass das alles noch etwas komplizierter ist. Und das ist ein Zustand, der ist sicherlich hoch frustrierend."
Oder: inspirierend. Wenn es gelingt, das Hintergrundrauschen des Analogen mit der digitalen Welt zu verschmelzen: unsere Fehler und Unzulänglichkeiten, das Bedürfnis, einzigartig und wirkungsvoll mit unserer Umwelt zu interagieren, überrascht zu werden und selbst zu überraschen, zu fühlen, zu experimentieren, zu gestalten.
Jörn Freitag: "Theoretisch ist es ja so: die Leute kommen hier her und sagen, sie hätten gern einen Film, der so aussieht, wie diese Instagram-Filter. Weil sie gar nicht wissen, dass Instagram eigentlich so aussieht, wie unsere Filme!"
Jörn Freitag, Sofortbild-Shop Berlin.
Magnusson: "Die meisten Leute, die ich kenne, machen keinen Unterschied mehr zwischen digital und analog. Sie nehmen sich aus jeder Welt einfach das, was sie gerade brauchen. Die Frage, ob etwas ein veraltetes Medium ist und ob es gerade ein Comeback erlebt oder so – die interessiert uns gar nicht. Wir, also die jüngere Generation, fühlen uns ziemlich frei zu wählen, die uns nützlich erscheinen, egal ob ein Medium oder eine bestimmte Art zu denken – und egal, aus welcher Ära."
Björn Magnusson, Musiker und Kassetten-Enthusiast.
Thoma: "Die Kombination von einem Gerät, sei es digital oder analog, und dem, der an dem Gerät arbeitet, die Persönlichkeit, das ist das interessante."
Andi Thoma, Klangkünstler.
Bartmanski: "Man hat lange angenommen, dass Kultur – und Technologie – sich in einem linearen Prozess weiterentwickeln. Dass das Neue dem Alten überlegen ist und das Alte deshalb ersetzt. Aber mittlerweile sehen wir, dass Kultur nicht so funktioniert – dass Fortschritt so nicht funktioniert. Es ist viel komplexer, viele Entwicklungen passieren gleichzeitig, Altes und Neues bleiben parallel bestehen, es entstehen Hybridformen und so weiter. Und das wiederum kann man darauf zurückführen, wie Menschen funktionieren – ihr Gehirn, ihr Körper und – ja: ihre Sehnsüchte."
Sagt Dominik Bartmanski, der Kultursoziologe.

So menschlich wie möglich erscheinen

Bei jedem Turing-Wettbewerb, bei dem Software-Programme versuchen, so menschlich wie möglich zu erscheinen, gibt es auch einen Wettbewerb für Menschen, so menschlich wie möglich zu wirken. Schreibt Christoph Kucklick in seinem Buch "Die granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst". Gefragt, wie er die Jury von seinem Mensch-Sein überzeugt habe, antwortete ein Gewinner: "Ich war launisch". Eine Blaupause für alle, so Kucklick, die souverän in einer Welt leben wollen, in der Algorithmen unser Verhalten immer genauer vorhersagen können.
Das – ist ziemlich "analog": Soweit es geht: unberechenbar sein.
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