Plädoyer gegen die Heiligsprechung

Besprochen von Philipp Gessler · 28.07.2013
Pius XII. ist eine äußerst umstrittene Figur der Zeitgeschichte. Denn der Papst, der während des Dritten Reiches im Vatikan regierte, schwieg zum Holocaust und sah sich – trotz seines Wissens über den Genozid – zur Neutralität verpflichtet. Dass seine Heiligsprechung noch immer geplant ist, findet der Autor Dirk Verhofstadt skandalös.
Kaum ein Mensch des 20. Jahrhunderts war so umstritten wie er: Ein Intellektueller, vergeistigt, asketisch, in Würde erstarrt – wohl auch wegen seines Amtes, das ihn, der Theorie nach, hervorhob über alle anderen Menschen seiner Zeit: Papst Pius XII., der von 1876 bis 1958 lebte.

Manche hielten - und halten! - ihn für einen Heiligen. Andere für einen großen Sünder, unfassbar schuldig geworden der Sünde der Unterlassung. Denn dies ist die ungeklärte Frage der Kirchengeschichte. Sie beschäftigt viele einfache Katholiken, aber auch die Fachleute der Geschichtswissenschaft seit mindestens fünf Jahrzehnten: Hat Papst Pius XII. in der Zeit des Holocaust versagt, weil er als damals wohl wichtigste moralische Führungsfigur der Welt nicht gegen den millionenfachen Mord an den Juden in Europa protestiert hat, laut und öffentlich?

Ausschnitt "Der Stellvertreter" (Hörspielfassung von Erwin Piscator)

Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hat die Frage nach der Schuld des Papstes schon vor 50 Jahren eindeutig mit "Ja" beantwortet – in seinem Drama "Der Stellvertreter". Er hat damit eine Kontroverse entfacht, die bis heute anhält. Und auch den belgischen Publizisten und Ethik-Professor Dirk Verhofstadt befeuert. Sein im Original vor fünf Jahren erschienenes Buch zu diesem Thema ist nun auf Deutsch erschienen: "Pius XII. und die Vernichtung der Juden".

Dirk Verhofstadt, ein führender liberaler Intellektueller seines Landes, ist kein Eiferer und kein Christen- oder Katholikenfresser. Er wägt ab, er würdigt das Für und Wider der Position des Papstes. Der hat nur ein einziges Mal, und das sehr diplomatisch verschlüsselt, den Massenmord angedeutet, in seiner Weihnachtsansprache im Jahr 1942.

O-Ton, Papst Pius XII (Weihnachtsansprache 1942): "Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder fortschreitender Verelendung preisgegeben sind."

Verhofstadt kommt am Ende zu einem klaren Ergebnis: Der Pontifex Maximus war so gut informiert über den Holocaust wie kaum jemand anderes in Europa. Und dennoch protestierte Papst Pius XII. nicht laut und deutlich gegen den beispiellosen Völkermord an den Juden. Warum?

Papst Pius XII. sah sich selbst als bedrohten, antikommunistischen Staatsmann und Diplomaten des Kirchenstaats, weniger als herausgehobenen Seelsorger - oder einfach als Christ. Zustimmend zitiert Verhofstadt den Doyen der Holocaust-Forschung Saul Friedländer, der sagt:

"Wenn Sie Papst Pius XII. nur als Politiker und Diplomaten betrachten, dann können Sie seine Haltung verstehen. Für ihn war der Bolschewismus schlimmer als der Nationalsozialismus. Wenn man ihn aber als geistlichen Führer sieht, der als Nachfolger Christi auf der Welt der ganzen Menschheit die Frohe Botschaft zu bringen hat, dann hat Pius XII. jämmerlich versagt. Sein Schweigen war ohrenbetäubend. Ihm fehlte völlig jegliche Zivilcourage. Er hat die Juden im Stich gelassen."

Trotz Schwächen empfehlenswertes Buch
Und so leise die Mahnung des Papstes gegen den Judenmord war, so laut protestierte er gegen real-sozialistische Verbrechen. Verhofstadt schildert die Angst des Papstes vor dem Kommunismus und dem Liberalismus, er beschreibt dessen Sympathie für Deutschland und die antijüdischen Reflexe, die in der Jahrhunderte alten Vorstellung gründeten, die Juden seien die "Christusmörder", und er benennt seinen Glauben, der Vatikan müsse neutral bleiben – obwohl Neutralität angesichts eines Genozids nichts weiter ist als ein Verbrechen.

Hier zitiert Verhofstadt den Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel:

"Die Neutralen helfen immer den Henkern, schlicht und einfach allein dadurch, dass sie sie ihren Weg gehen lassen."

Das Buch Verhofstadts hat seine Schwächen: Die eine oder andere Formulierung klingt in der Übersetzung schief, und viele Zitate aus der deutschen Fachliteratur sind unnötige Rückübersetzungen aus dem Niederländischen. Manches ist mehr oder weniger überflüssig wie etwa ein Kapitel über die NS-Erziehung - oder oberflächlich wie beispielsweise das Kapitel über die Haltung Konrad Adenauers zur Schuld der Kirche in der Nazizeit. Und Verhofstadt neigt zu Wiederholungen.

Ärgerlich ist auch, dass der wichtige, öffentliche und mutige Protest der Bischöfe der Niederlande gegen die bevorstehenden Deportationen von Juden nach der Besetzung ihres Landes nur am Rande erwähnt wird – offenbar, weil das Kapitel über die Juden in den Niederlanden keine Aufnahme in die deutsche Ausgabe fand.

Für eine andere Schwächen kann der Autor nichts: Wichtige Dokumente im Vatikan sind der Forschung nach wie vor verschlossen – frühestens 2015 sollen sie zugänglich sein.

Insgesamt aber ist dieses Werk zu empfehlen. Denn es überzeugt durch eine klare Sprache und einen Mut zu klaren Urteilen. Verhofstadt argumentiert differenziert und sauber. Er erwähnt alle wichtigen Texte und Argumente für und gegen das Verhalten von Papst Pius XII.

Verdienstvoll ist schließlich, was das Buch fürs Heute will: gegen die immer noch geplante Heiligsprechung von Papst Pius XII. anschreiben.

"Sie würde lehren, dass Schweigen zu Grausamkeiten, die bekannt und auf irgendeine Weise zu verhindern oder zu beheben sind, ethisch verantwortbar ist."

Die Heiligsprechung des schweigenden Papstes durch den Vatikan würde zu einem "moralischen Kurzschluss" führen, warnt Verhofstadt, und hat dagegen ein flammendes und schlüssiges Plädoyer vorgelegt.


Cover: Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden (Alibri Verlag)
Cover: Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden© Alibri Verlag
Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2013
450 Seiten, 26 Euro