Plädoyer für offene Bildungsmaterialien

"Was öffentlich finanziert ist, muss auch öffentlich zugänglich sein"

Korel, Alessandro und Sarah schreiben in der Ganztagsschule in der Helsinkistraße in der Messestadt in München in ihren Heften.
Unterricht in der Ganztagsschule © picture alliance / Frank Leonhardt
Jöran Muuß-Merholz im Gespräch mit Ute Welty · 30.10.2017
"Open Educational Resources" (OER), also frei zugängliche kostenlose und modifizierbare Bildungsmaterialien erhöhen die Bildungsgerechtigkeit, meint OER-Experte Jören Muuß-Merholz. Leider hätten selbst im pädagogischen Bereich die wenigsten bisher von OER gehört.
Ute Welty: Es dürfte wohl eines der letzten Male sein, dass die USA in der UNESCO-Generalversammlung teilnehmen, denn die Vereinigten Staaten werden die Kultur- und Bildungsinstitution der Vereinten Nationen verlassen. Dabei diskutiert die UNESCO-Generalversammlung ab heute über ein Instrument, das auch den USA helfen könnte, ihr Bildungsproblem zu lösen. Offene Bildungsmaterialien stellen Bildung in jeglicher Art und jeglichem Medium in Aussicht. Der Erziehungswissenschaftler Jöran Muuß-Merholz ist einer der führenden deutschen Experten für offene Bildungsmaterialien, für Open Educational Resources, und er gehört zu den Verfassern der jüngst OER-Studie. Guten Morgen, Herr Muuß-Merholz!
Jöran Muuß-Merholz: Guten Morgen!
Welty: Haben Sie Verständnis für die Menschen, die heute zum ersten Mal von offenen Bildungsmaterialien hören?
Muuß-Merholz: Da sind diese Menschen bestimmt in guter Gesellschaft. Ich würde vermuten, dass selbst im pädagogischen Bereich irgendwas nach 95, 98 Prozent diesen Begriff noch nie gehört haben.

Frei heißt nicht nur kostenlos

Welty: Wie funktionieren denn diese offenen Bildungsmaterialien im Gegensatz zu klassischen Schulbüchern?
Muuß-Merholz: Man kann das tatsächlich am Begriff Open Educational Resources einzeln auseinandernehmen. Educational Resources sind tatsächlich jegliche Bildungsmaterialien – Sie haben es gerade schon gesagt –, also nicht eine bestimmte Form. Man diskutiert das vor dem Hintergrund der Digitalisierung und hat dann sofort vielleicht digitale Materialien vor Augen, aber es kann auch einfach ein Schulbuch sein, ein Lehrbuch, es kann ein Film sein oder andere Materialien, die wir nutzen.
Das Entscheidende ist, dass da dieses Open davorsteht, und das meint nicht nur, dass es frei ist im Sinne von kostenlos und im Netz verfügbar, sondern dass es auch offen sein muss im Sinne von nicht geschlossen, und da gucken dann manche Menschen und sagen, na ja, wieso sind denn Bildungsmaterialien bisher geschlossen. Das ist tatsächlich auf dem zweiten Blick dann doch relativ markant, wie geschlossen unsere Bildungsmaterialien sind, dass es uns quasi kaum noch auffällt, wie wenig man mit denen machen darf.
Sowohl im urheberrechtlichen wie im technischen Sinne ist der Standard, dass man mit denen eigentlich nur machen kann, was der Herausgeber oder der Urheber sich da gedacht hat. Man darf es nicht kopieren und an andere weitergeben. Man darf es nicht, was für einen Bildungskontext sehr wichtig ist, anpassen und auf den individuellen Bedarf von einer Gruppe hin verändern et cetera, und häufig verhindert auch die Technik gerade im digitalen Bereich, dass man das überhaupt könnte, dieses Anpassen und Weitergeben.

Schutz vor Manipulation versus Qualitätssteigerung

Welty: Wenn Sie sagen "nicht anpassen", dann bedeutet das ja auf der einen Seite, dass es keine Veränderung zum Positiven gibt, aber auch keine Veränderung zum Negativen, denn es geht ja auch um den Schutz vor Manipulation.
Muuß-Merholz: Das ist eine wichtige Frage, zweifellos. Wir kennen aber aus anderen Bereichen, dass das tatsächlich in der Praxis nicht so ein großes Problem ist wie man denkt. Wir haben das alles schon mal durchexerziert in den letzten zehn Jahren anhand von Wikipedia. Wikipedia hat genau diese Eigenschaft, man darf das verändern, was da drin steht, und tatsächlich jedermann darf das verändern, jedermann darf sich sogar eine Kopie machen und das weiter in Umlauf bringen, und das führt dazu, dass manipulierte Inhalte existieren, aber es führt auch dazu, dass falsche, manipulierte, nicht aktuelle Inhalte verbessert werden können, und wir wissen aus Vergleichsstudien von Wikipedia und älteren Enzyklopädiemodellen, dass tatsächlich auf längere Sicht deutlich bessere Qualität bei diesem offenen Modell herauskommt.
Welty: Die UNESCO fördert Open Educational Resources nicht zuletzt mit der Debatte ab heute auf der beginnenden Generalversammlung. Was sind denn die Chancen dieses Instruments, und wo stößt man damit auch an die Grenze?
Muuß-Merholz: Bei den Chancen muss man vielleicht differenzieren zwischen der globalen Ebene, die bei der UNESCO natürlich ganz stark im Vordergrund steht und der Debatte, die wir in Deutschland auch in den letzten Jahren haben. Für die UNESCO, die übrigens diesen Begriff oder diese Idee erfunden hat 2002, steht in erster Linie Zugang, Zugang, Zugang im Mittelpunkt. Da geht es auch um Gegenden in dieser Welt, wo Bildungsmaterialien einfach sonst gar nicht zur Verfügung stehen. Wieder vor dem Hintergrund der Digitalisierung können Materialien ja viel einfacher von A nach B gebracht werden, und wenn das dann auch erlaubt ist, also solche Materialien offen sind für die Weitergabe und Veränderung, zum Beispiel auch für die Übersetzung et cetera, dann ist das eine ganz großartige Chance gerade für die Gegenden dieser Welt, in denen vielleicht dann auch eine Familie überlegen muss, kann sie allen Kindern ein Schulbuch kaufen oder können sie etwas zu Essen kaufen für die nächste Mahlzeit.

Bildungsgerechtigkeit erhöhen

Das heißt, da geht es tatsächlich um das ganz große Ziel, Bildungsgerechtigkeit deutlich zu erhöhen, indem man den Zugang verbessert. In den einzelnen entwickelten Ländern ist es sehr unterschiedlich, was man sich davon verspricht. In den USA – haben Sie gerade schon gesagt – spielen die Kosten eine ganz große Rolle, weil da Lehrbücher viel, viel teuer sind als wir es hier in Deutschland uns teilweise vorstellen können. Da haben wir in Deutschland noch relativ viel Glück. In Deutschland hat man die Debatte so in den letzten Jahren entdeckt, und man hat eine Reihe von Ideen, was damit besser werden könnte. Interessanterweise, in Deutschland finden es gleichzeitig Graswurzelakteure und Politik toll, zur gleichen Zeit. Das ist ja in der Bildungspolitik ja ein seltenes Phänomen.
Welty: Dass man einer Meinung ist, ja, das ist wohl wahr!
Muuß-Merholz: Ist es auf jeden Fall, ja. Und da ist ein Versprechen, das banale, dass es einfacher wird, weil man urheberrechtlich ansonsten tatsächlich in der Praxis als Pädagoge merkt, man stößt mit digitalen Materialien herkömmlicher Art an allen Ecken und Enden auf Verbote und Eingrenzungen und Unmöglichkeiten. Größere Versprechungen sind der Kontext der Individualisierung. Wir haben es in allen Bildungsbereichen mit immer heterogener werdenden Gruppen zu tun, und es ist quasi unmöglich zu sagen, wir nehmen ein Material und das passt auf alle. Das heißt, das, was Pädagogen heute ja ganz stark machen in allen Bildungsbereichen, ist Individualisierung, Anpassung von Material, Vielfalt schaffen, und das ist das, was tatsächlich mit Open Educational Resources dann erst möglich wird.

Multiplikatoren im Bildungsbereich müssen Information bekommen

Welty: Jetzt ist die Sache in Deutschland ja noch mal komplizierter, denn Bildung ist ja bekanntlich Ländersache. Fährt also auch in Sachen OER jedes Bundesland seinen eigenen Stiefel?
Muuß-Merholz: Ja und nein. Ich wähle mal die optimistische Variante: Wir haben nicht nur dieses seltene Phänomen, dass das Graswurzel und Politik toll finden, sondern dass sich auch relativ früh im Prozess schon Bund und Länder verständigt haben. Wir haben vor gut zwei Jahren ein Papier gesehen von einer Bund-Länder-Kommission, wo das BMWF für die Bundesseite und die Länder und ein paar weitere Vertreter sich schon auf einen grundsätzlichen Konsens geeinigt haben. Damals ging es noch nicht um Geld, aber die grundsätzliche Einigung war schon da, und das ist schon hilfreich für viele Entscheidungen. Jetzt macht jedes Bundesland zwar was Eigenes, aber es gibt auch deutlich übergreifende Initiativen. Wir haben im Moment ein Förderprogramm laufen, was 23 Projekte in ganz Deutschland fördert, die erst mal zum Ziel haben, überhaupt das Thema ins Bewusstsein zu bringen und sozusagen eine OER-Kompetenz zu schaffen, damit Multiplikatoren im Bildungsbereich überhaupt wissen, das gibt es, das funktioniert so und so, damit kann man das und das machen.

"Was öffentlich finanziert ist, muss auch öffentlich zugänglich sein"

Welty: Was muss man denn wissen, um mit diesen offenen Bildungsmaterialien umzugehen?
Muuß-Merholz: Ich glaube tatsächlich, dass die größte Hürde und vielleicht auch die einfachste darstellt, dass man verstehen muss, wie das Ganze funktioniert, dass man also diese Gegenüberstellung von was darf man mit Materialien eigentlich in Deutschland und was nicht, grundsätzlich verstehen muss. Das ist für mich tatsächlich auch in den letzten Jahren, wo ich selbst ganz viel Material als OER erstellt habe, die große Veränderung gewesen. Das Bewusstsein ist tatsächlich auch nicht unpolitisch, weil man ja sagen muss, in Deutschland werden Bildungsmaterialien zu einem ganz, ganz großen Teil aus öffentlichen Geldern finanziert, und da gibt es dann die Forderung, was öffentlich finanziert ist, muss auch offen zugänglich sein, also nicht nur in der Weise, wie sich zum Beispiel ein Verlag das ausgesucht hat, sondern ich habe das schon bezahlt als Steuerzahler, und ich möchte auch dann damit machen können, was ich will. Ansonsten gibt es eine Menge Handwerk, aber das ist, glaube ich, dann die zweite Stufe, mit der man einsteigt.
Welty: Darüber sprechen wir beim nächsten Mal. Wie lernen wir in Zukunft – das ist das Thema der UNESCO-Generalversammlung, die heute in Paris beginnt, und das ist das Thema, das ich mit Erziehungswissenschaftler Jöran Muuß-Merholz besprochen habe. Haben Sie herzlichen Dank!
Muuß-Merholz: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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