Plädoyer für das Geheimnis

12.04.2012
Die Forderung nach mehr Transparenz analysiert der Kulturphilosoph Byung-Chul Han als Tendenz, alles verfügbar und berechenbar zu machen. Das führe zur Einebnung von Unterschieden zwischen Parteien, Konzepten etc. Um etwas zu verändern, sei kritische Distanz und Negativität vonnöten, nicht die "Immanenz des Gleichen".
"Transparent ist nur das Tote." In seinem neuen Buch "Transparenzgesellschaft" aktualisiert der Philosoph Byung-Chul Han seine erfolgreichen Thesen zur "Müdigkeitsgesellschaft". Müdigkeit, Depression und der Verlust des eigenen Schicksals sind nach Han auf das zurückzuführen, was er "Transparenz" nennt. Darunter sind alle Techniken zu verstehen, die wirtschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge lesbar und berechenbar machen – von den Fragebögen beim Online-Dating zur Marktforschung und Wählerbefragung im Stile der "Liquid Democraty" der Piraten-Partei.

Eine Transparenzgesellschaft ist eine "Positivgesellschaft", in der nur noch zählt, was sich zeigt und sichtbar machen kann. Der Gehalt einer Sache oder Person ist hinter ihren "Ausstellungswert" zurückgetreten. Die neue Währung ist die Aufmerksamkeit, deren undifferenzierte Gier das kritische Urteil zu verdängen droht. Unterschiede zwischen Konzepten, Ideen, Parteien usw. werden eingeebnet; Han spricht von der "Immanenz des Gleichen".

Im Kern seines scharfsinnigen Büchleins steht die Diagnose, dass es einer "Transparenzgesellschaft" wie der unseren an Negativität mangelt. Damit ist nicht nur die Verdrängung negativer Emotionen wie Angst, Scham und Schuld gemeint, die dann als Depression oder Erschöpfung wiederkehren; damit ist vor allem die Unmöglichkeit gemeint, zu irgendetwas eine kritische Distanz zu finden. Doch politische Veränderung bedarf abstrakter und realer Nicht-Einverstandenheit. Ein mündiges Selbst braucht den Abstand zu sich, um sich zu lenken und zu korrigieren. Alle Theorie ist bloße Meinung, wenn sie nicht die Möglichkeit hat, Inhalte gültig ein- oder auszuschließen.

Transparenz führt zu einem Verlust von Schwellen, Rangordnungen und Brüchen, die allein das Reale strukturieren und dadurch bedeutsam machen. Han schreibt:

"In einer entritualisierten, entnarrativierten Welt ist das Ende nur noch ein Abbruch, der schmerzt und verstört. Nur im Rahmen einer Narration kann das Ende als Vollendung erscheinen."

Der Verlust aller zeitlichen und sozialen Markierungen erzeugt die Totalität einer Gegenwart, deren größtes Versprechen darin besteht, weder die Vergangenheit zu wiederholen, noch die Zukunft zu ändern. Was bleibt, ist ein gleichförmiger und vollends ausgeleuchteter Raum, in dem alles Lebendige sich permanent ausstellt, das heißt: sich zu Markte trägt – ob als Selbstdarstellung im sozialen Netzwerk oder als stromlinienförmiger Lebenslaufexistenz.

Mit eleganter Präzision seziert Han die Unmenschlichkeit einer solchen Positivität, deren perfideste Volte darin besteht, dass jeder Einzelne Opfer und Täter zugleich ist. Dass diese Kritik bereits vielfach geäußert wurde, ändert nichts an ihrer Aktualität.

Zugleich findet der Autor immer wieder zu Begriffen und Konzepten zurück, die geeignet scheinen, der totalen Verwertung und Verwaltung Widerstand zu leisten: Anmut, Zartheit, Intuition, Herzensbildung. Und vor allem Vertrauen. Denn, und das ist eine meisterhafte Pointe, nur das Kriecherische, Miese und Mißtrauische hat es nötig, sich und andere ständig zu kontrollieren.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2012
96 Seiten, 10 Euro