Pionier der NS-Aufarbeitung

Von Winfried Sträter · 22.12.2012
Der Historiker Joseph Wulf erfuhr kalte Ablehnung, als er in den 60er Jahren eine Gedenkstätte an dem Ort errichten wollte, an dem der Massenmord an den Juden geplant wurde. Wenige Jahre später nahm er sich aus Verzweiflung das Leben. Erst Anfang der 90er Jahre wurde die Villa der "Wannsee-Konferenz" als Museum und Gedenkort eröffnet.
1965 erfuhr der Historiker Joseph Wulf jedoch kalte Ablehnung, als er versuchte, in Berlin ein Zentrum für die Erforschung des Nationalsozialismus aufzubauen. Der Bedarf war unabweisbar, wurde auch anerkannt, aber: nach seinem Willen sollte das Zentrum in jener Villa am Wannsee errichtet werden, in der 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte - jene Konferenz, in der der Massenmord an den Juden organisatorisch geplant wurde. Joseph Wulf sagte dazu 1967 im RIAS:

"Das hat eine Anziehungskraft für das Ausland. Wenn Sie eine demoskopische Untersuchung machen, werden Sie erfahren, dass in Deutschland – wissen vielleicht von hundert Personen vielleicht zehn, was die Wannseekonferenz ist. Wenn Sie in New York, in Paris und in Israel einen Menschen auf der Straße fragen, hundert Personen fragen, dann werden 90 sagen, sie wissen, was die Wannseekonferenz war. Und das ist der Grund auch, dass wir das Haus haben wollen. Das hat eine große Anziehungskraft."

Ein Ort der Täter als Forschungszentrum? 1967 wies der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz, diese Initiative, der sich eine stattliche Anzahl namhafter Persönlichkeiten angeschlossen hatte, mit einer bösen Bemerkung zurück: Berlin brauche keine "makabre Kultstätte", schrieb er in der "Welt am Sonntag". So blieb die Wannseevilla noch etliche Jahre ein Jugenderholungsheim für Kinder aus dem Bezirk Neukölln.

Die Niederlage im Streit um die Wannseevilla war für Joseph Wulf ein Wendepunkt in seinem Leben. Am 22. Dezember 1912 wurde er als Kind einer jüdischen Familie in Chemnitz geboren, wuchs in Krakau auf. 1941 wurde er nach Auschwitz deportiert, überlebte, weil es ihm bei einem Todesmarsch gelang zu fliehen. Noch vor Kriegsende begann er, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erforschen. Wulf wurde zu einem der Pioniere der NS- und Holocaust-Forschung, zunächst in Polen, ab 1952 in Berlin. Es war die Zeit des eisigen Schweigens, des Verdrängens, aber nicht nur: Allen Schwierigkeiten zum Trotz wurde Joseph Wulf zu einem respektierten Historiker: Über seine Arbeit erzählte er 1967 im RIAS:

"Letzten, würde ich sagen, bin ich sehr bekannt geworden durch meine fünfbändige Serie über Kunst und Kultur im Dritten Reich, also darunter ist selbstverständlich immer ein Kapitel "Die entartete Kunst", wie es damals hieß, und selbstverständlich waren darunter sehr viele Juden. Aber es ist allgemein ein Phänomen des Dritten Reiches."

Wulf veröffentlichte grundlegende Dokumentationen zur NS-Zeit. Als Überlebender sah er seine Mission darin, zur Aufklärung über die NS-Verbrechen beizutragen. Er wurde mit Preisen geehrt, aber er hatte keine akademischen Weihen. Das erwies sich in den 60er Jahren zunehmend als Problem. Er wurde mehr und mehr als akademischer Außenseiter gesehen und geriet in Konflikte mit etablierten Forschern. Und in den Stürmen der Studentenrevolte von 1968 wurde er mit seinen Anliegen kaum noch öffentlich wahrgenommen. Wulf vereinsamte und verzweifelte und nahm sich 1974 das Leben. Erst als eine regelrechte Bewegung zur NS-Forschung einsetzte, wurde die Bedeutung von Joseph Wulf wieder erkannt. Und 1992, 18 Jahre nach seinem Tod, wurde die Wannsee-Villa als Gedenkstätte eröffnet. Joseph Wulf hatte sehr früh erkannt, dass ein Ort der Täter ein Ort der Erinnerung und der Aufklärung sein kann und sein muss: Das war seine Größe und seine Tragik.

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