Philosophischer Wochenkommentar

Das Leid anderer anerkennen

Ein kleiner Junge mit einem Plakat auf dem Protestmarsch "Families belong together" in San Diego am 23.6.2018.
Gegen die Trennung mexikanischer Einwandererkinder von ihren Eltern: Protestmarsch "Families belong together" in San Diego am 23.6.2018. © imago / Xinhua
Von David Lauer · 24.06.2018
Die weinenden Kinder an der mexikanischen Grenze – alles nur gespielt, um uns zu manipulieren? Diese "aberwitzige Idee" einer Fox-News-Kommentatorin folge einem Muster, meint David Lauer: Das Leid anderer nicht an sich heranzulassen, um nicht handeln zu müssen.
Ein kleines Kind streckt die Hand nach seiner Mutter aus und weint bitterlich. Die Mutter wird von Grenzbeamten abgeführt. Das Kind versteht nicht, was geschieht, nur dass der einzig verbliebene Anhaltspunkt seiner Welt in der Dunkelheit verschwindet. Seine panische Angst ist in jeder Faser seines Körpers gegenwärtig.
Aber fallen Sie nicht darauf herein: Das ist alles nur Fassade. Das Kind ist nur ein "child actor", darauf abgerichtet, Schmerz vorzuspielen, um Sie zu manipulieren. So jedenfalls behauptete es die erzkonservative Kommentatorin Ann Coulter im Sender Fox News.
Die Idee ist aberwitzig, doch sie folgt einem Muster. Auch die Überlebenden des Schul-Massakers von Parkland in Florida und die Eltern der 2012 in der Grundschule von Sandy Hook ermordeten Kinder wurden von einflussreichen rechten Ideologen als Simulanten diffamiert. Ihre Verzweiflung, ihre Tränen seien gestellt. In Wahrheit handele es sich um bezahlte Schauspieler im Sold des politischen Gegners. Es ist zwecklos, erneut nachweisen zu wollen, dass diese Behauptungen grotesk sind. Es stellt sich vielmehr die Frage, warum sich Menschen mit aller Gewalt noch an die absurdesten Pseudo-Theorien klammern, nur um das Leid anderer nicht an sich heranlassen zu müssen.

Die Anerkennung des Leids beinhaltet eine moralische Forderung

Dies ist eines der Themen, auf die der vor wenigen Tagen verstorbene amerikanische Philosoph Stanley Cavell immer wieder zurückkam. Er deckte den existentiellen Kern der skeptischen Diskussion auf, ob wir je wissen können, was ein anderer Mensch fühlt, mehr noch: ob er überhaupt etwas fühlt und nicht in Wirklichkeit bloß eine Attrappe ist. "Ich weiß, was du fühlst" ist, so Cavell, kein Ausdruck der Gewissheit, sondern der Anerkennung. Anerkennung überschreitet Gewissheit, weil sie eine moralische Forderung an uns richtet.
Ein Bettler hält am 14.09.2016 in Münster (Nordrhein-Westfalen) einen Becher und ein Schild mit der Aufchrift "Ich habe Hunger".
Neu zugewanderte Menschen leben in Deutschland zunächst verstärkt in prekären Verhältnissen.© dpa / picture alliance / Friso Gentsch
Jeder kennt das: Sind wir einmal in Blickkontakt mit dem Bettler am Straßenrand geraten, gibt es kein Zurück mehr. Wir müssen Farbe bekennen, und der Bettler weiß das. Egal, was wir jetzt tun, es wird unsere Antwort auf seine ausgestreckte Hand sein – auch und gerade dann, wenn wir angestrengt geradeaus blickend an ihm vorbeischlendern. Das bedeutet: Im Angesicht des Anderen sind wir gezwungen, uns selbst zu erkennen zu geben – und uns selbst zu erkennen. Und was wir da sehen, ist oft wenig schmeichelhaft. Wer hat noch nie versucht, dieser Zumutung zu entgehen, indem er den Blickkontakt mit dem Bettler krampfhaft vermied? So tat, als hätte er ihn nicht bemerkt? Sich vielleicht mit dem Gedanken beruhigte, dass man ja gar nicht wisse, ob es dem wirklich so schlecht geht?

Der um sich greifenden Kälte etwas entgegensetzen

Ann Coulters sich gleichsam die Augen und Ohren zuhaltender Skeptizismus, ihr Nicht-Anerkennen-Wollen um jeden Preis, liegt am Ende dieses Weges. Ihn kennzeichnet, so Cavell, keine bloße Ignoranz, nicht einfach die Abwesenheit von Wissen, sondern die "Anwesenheit von etwas, eine Verwirrung, eine Indifferenz, eine Unempfindlichkeit, eine Erschöpfung, eine Kälte." Cavell, der in seinem Werk den Fallstricken und der Fragilität des Menschlichen mit größter Sensibilität nachspürte, hat ein Leben lang versucht, dieser um sich greifenden Kälte etwas entgegenzusetzen, und daran erinnert, dass ein gelingendes gemeinsames Leben möglich ist. Seine Stimme wird fehlen. Gerade jetzt.
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