Philosophischer Kommentar

Der Flughafen BER ist wie wir

Ein Feuerlöscher hängt am "Lufthansa-Gate" in Schönefeld im noch nicht fertiggestellten Flughafen Berlin Brandenburg BER.
Für unseren Autor liegt im BER – in all seiner selbstverschuldeten Unfertigkeit – ein wahrhaft identifikatorisches, lebensbefreiendes Potenzial. © dpa-Zentralbild
Von Wolfram Eilenberger · 28.05.2017
Schon der Bauplan des Flughafen Berlin Brandenburg (BER) steckte voller Fehler und Ungereimtheiten. Immer wieder wurde die Eröffnung verschoben. Der Philosoph Wolfram Eilenberger findet: Diese Großbaustelle verrät uns etwas über uns selbst.
Lassen Sie uns offen miteinander sprechen: Wir alle sind einst als Mammutprojekte gestartet. Einmal zur Welt gebracht, sollte unser Beitrag für das große Ganze nicht nur irgendeiner, sondern ein besonderer und wesentlicher sein. Mit viel Tamtam und besten Wünschen wurden wir deshalb aus der Taufe gehoben. Von echten Durchbrüchen, gar endgültigen Problemlösungen war die Rede. Und gerade in den ersten Jahren schienen die Fortschritte so sichtbar und enorm, dass sie tatsächlich größte Hoffnungen nährten.
Was seither schief lief? Wer die Schuld am Schlamassel trägt? Wie es nur jemals soweit kommen konnte? Längst sind dies unsere eigentlichen Lebensfragen geworden. Denn spätestens nach zehn Jahren "Projektverlauf" zeigten sich, seien Sie ehrlich, auch bei Ihnen Mängel und Schwächen, so offenbar und gravierend, dass sie ernste Zweifel hervorrufen mussten.
In der Nachbetrachtung steckte bereits der Bauplan selbst voller Fehler und Ungereimtheiten. Die Proportionen falsch dimensioniert, die Sicherungen nicht stabil genug, wesentliche Notsysteme unzureichend oder inexistent. Nicht zu reden von dem alltäglichen Pfusch, der sich ohne Widerspruch und Korrektur in Ihren Werdensprozess schlich. Anstatt entschieden einzuschreiten, sahen die Zuständigen lieber weg, hielten anderes für wichtiger oder schoben die Verantwortung an Dritte weiter.

Womöglich scheitert dieses Projekt in Gänze

Und die Folgen? Gefangen in einem Gestell aus Gleichgültigkeit gegenüber Anvertrauten, Nachlässigkeit gegen sich selbst und den strukturellen Zwängen eines allzu kurzfristigen Gewinnstrebens, sehen sich die allermeisten von uns eines Tages vor die bittere Einsicht gestellt: Womöglich wird das auch gar nichts mehr. Womöglich scheitert dieses Projekt zur Gänze! Womöglich wird es niemals wirklich abheben, sondern in allzu absehbarer Zukunft einsam, verlassen und weitgehend ungenutzt irgendwo in der flachen Provinz sein endgültiges Ende finden.
Dies jedenfalls sind Gedanken, die mich als Mensch, Bürger und Zeitungsleser begleiten, wann immer ein neuer Status-Bericht zum BER veröffentlicht wird. Also dem noch immer unvollendeten, noch immer tief mangelhaften, noch immer scheiternden Flughafen Berlin-Brandenburg. Die Baustelle an sich. Lachblatt, Fanal und Schande einer ganzen Stadt, wenn nicht Nation.
Wie gewiss auch Sie, geschätzte Hörer, habe ich mit Blick auf dieses Fiasko wesentliche Phasen der Trauerverarbeitung bereits durchschritten. Am Anfang, dem klassischen Kübler-Ross-Schema folgend, stand pure Ungläubigkeit und entsetztes Staunen, schon bald folgte das Stadium des Zorns, ja der Revolte. Gefolgt von der extrem berlintypischen Hoffnung, sich da vielleicht doch noch irgendwie herausschlonzen zu können. Bis schließlich die Phase der Depression und Verzweiflung einsetzte.

BER und menschliches Leben als gescheiterter Versuch

Nimmermehr: Seit ich das Flughafenprojekt BER als perfekte Allegorie auf mein und in Wahrheit unser aller Leben zu begreifen gelernt habe, geht es mir deutlich besser. An die Stelle der Wut ist der Geist der Versöhnung getreten. Gewiss, Hamburgs Elbphilharmonie, der Istanbuler Flughafen oder Schweizer Eisenbahntunnel mögen beweisen, dass nicht jedes überambitionierte Großprojekt notwendig scheitern muss. Doch nur dem BER eignet – in all seiner selbstverschuldeten Unfertigkeit – ein wahrhaft identifikatorisches, ich möchte sagen, lebensbefreiendes Potenzial. Dieser BER ist wie wir. Sein Werden gleicht, bei Lichte betrachtet, dem unseren. Wie auch sein absehbares Schicksal als gescheiterter Versuch.
Das eigene Leben als einen solchen wahrnehmen – und vor allem: annehmen – zu können, aber galt Philosophen von Alters her als größte und eigentlich menschliche Erkenntnisleistung. Der BER macht sie uns bedeutend leichter. Und zumindest ich bin ihm dafür, mittlerweile, ehrlich dankbar.
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