Philosophin und Nonne Edith Stein

"Sie lebte den Sühnegedanken"

Die katholischen Philosophin Dr. Edith Stein in einer historischen Portraitaufnahme.
Edith Stein auf einer undatierten Aufnahme © dpa
Religionsphilosophin Beate Beckmann-Zöller im Gespräch mit Philipp Gessler · 09.10.2016
Edith Stein wurde als Jüdin geboren, sie wurde erst Philosophin und dann katholische Nonne. Die Nazis ermordeten sie 1942 in Auschwitz. Die Religionsphilosophin Beate Beckmann-Zöller hat sich intensiv mit der faszinierenden Persönlichkeit auseinandergesetzt.
Philipp Gessler: Was für eine Frau, was für ein Mensch! Edith Stein, geboren vor 125 Jahren in Breslau in eine jüdische Familie, wurde eine große Philosophin, Frauenrechtlerin und öffentliche Intellektuelle. Sie konvertierte zum Katholizismus, wurde Nonne, und, in der verqueren Logik der Nazis, bei der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht 1942 aus ihrem Kloster heraus von der Gestapo als Jüdin inhaftiert. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. An Edith Stein, eine Heilige der katholischen Kirche, wollen wir erinnern. Ihr Oeuvre ist groß, es gäbe über sie so viel zu sagen. Wir konzentrieren uns auf Edith Steins Verhältnis zum Judentum – nicht zuletzt weil bald im Herder-Verlag ein Buch darüber erscheinen wird.
Wir entfalten das Thema in einem Gespräch mit der Edith-Stein-Expertin Beate Beckmann-Zöller. Die Vizepräsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland ist Religionsphilosophin, Dozentin an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München und hat über Edith Stein promoviert. Meine erste Frage an Beate Beckmann-Zöller war, wie sie Edith Stein betrachtet: eher als Jüdin oder als Katholikin.
Beate Beckmann-Zöller: Es kommt immer drauf an, ob Sie von der Ethnie oder von der Religion sprechen, und Edith Stein selber hat zunächst natürlich in einer jüdischen Familie gelebt, hat die jüdischen Riten, die Liturgien in der Familie miterlebt, die wurden nicht von ihrem Vater, der verstorben war, gehalten, sondern von ihren älteren Brüdern, die als Teenager sich natürlich auch mal darüber lustig gemacht haben, und sie hat dann zum Atheismus gefunden, indem sie im Haus ihrer älteren Schwester in Hamburg gelebt hat und dort gemerkt hat, dass ihre ältere Schwester keine praktizierende Jüdin mehr ist. Sie hat sich bewusst mit 15 Jahren das Beten abgewöhnt, schreibt Edith Stein. Das heißt, sie war lange Zeit auch Atheistin.
Gessler: Das ist eigentlich eine erstaunliche Wendung, weil das Judentum, was dort gelebt wurde in ihrer Familie, in ihrer jüdischen bürgerlichen Familie, schien ja eigentlich ein recht offenes und kein enges Judentum zu sein, und später schreibt sie auch, Edith Stein, sehr warmherzig über diese jüdische Prägung. Warum ist sie trotzdem Atheistin geworden?
Beckmann-Zöller: Ja, das ist natürlich eine gute Frage, die sich sehr viele Eltern stellen, wenn ihre Teenager den Glauben in der Teenagerzeit verlieren.

Der katholischen Lithurgie am nächsten

Gessler: Ja.
Beckmann-Zöller: Das ist mehr oder weniger, denke ich, eine Reife, eine Phase des Reiferwerdens, und Edith Stein hat sich auch weiterhin auf die Suche begeben. Sie ist ja dann nicht einfach völlig zu einer Materialistin geworden, sondern hat sehr klar Werte vertreten und eben auch immer diese innere Geborgenheit gesucht. Die hat sie dann allerdings im Christentum gefunden. Sie hat zunächst auch in protestantischen Kirchen gesucht. Ihr waren die Predigten zu politisch, die sie dort damals in Göttingen erlebt hat, und sie hat dann Zeugen getroffen, die tatsächlich ein glaubwürdiges Christentum gelebt haben. Das waren Protestanten und Katholiken, und ihr selber lag die katholische Liturgie einfach näher am jüdischen Glauben ran, rein inhaltlich und auch rein vom Psalmengebet und so weiter, sodass sie ganz klar Katholikin wurde, aber erst, nachdem sie Teresa von Ávila gelesen hatte und dieses innere Beten kennengelernt hat, diese Begegnung mit Gott im inneren Raum der Seele. Das war für sie so der Anlass. Sie hat sich aber fünf Jahre lang vor ihrer Taufe bereits mit Gotteserlebnissen beschäftigt und immer wieder gezögert, um ihre jüdische Mutter nicht vor den Kopf zu stoßen.
Gessler: Trotzdem wundert man sich ein wenig, warum ausgerechnet der Katholizismus, weil Edith Stein war ja auch eine Frauenrechtlerin, hat Vorträge darüber gehalten. Wenn man sich nun den christlichen Glauben aussucht, könnte man sagen, warum unbedingt den Katholizismus, der auch schon damals so geprägt war, dass Frauen weniger zu sagen hatten als etwa in der protestantischen Kirche?
Beckmann-Zöller: Ja, das ist für damals eigentlich eine erstaunliche Frage, denn Edith Stein ist gerade durch ihren Beichtvater dazu angehalten gewesen, immer wieder in die Öffentlichkeit zu treten und Vorträge über die Frau in der Kirche, die Frau im Beruf und so weiter zu halten. Also gerade ihr Beichtvater Raphael Walser in Beuron hat sie daran gehindert, einfach ins Kloster zu verschwinden und für die Öffentlichkeit, für die Laien nicht mehr präsent zu sein, sondern sie sollte gerade als Frau im Beruf, in der Welt das Christentum, die katholische Seite eben auch vertreten, und das hat Edith Stein mit einer großen Leidenschaft auch getan.
Sie hat sich wirklich berufen gefühlt als Lehrerin, als Prophetin, als Professorin, geistlich könnte man sagen auch als Prophetin, denn sie schreibt ja auch einen Brief an den Papst, um ihn zu erinnern, doch nicht zu schweigen gegenüber der Judenfrage, sondern eben auszusprechen, dass das eine große Häresie ist, was der Nationalsozialismus da verkündet. Das heißt, Edith Stein hat sehr wohl innerhalb der katholischen Kirche ihre Berufung als Frau umgesetzt in ihrer persönlichen Berufung, aber auch gedanklich sich sehr stark mit Differenz und Gleichheit zwischen Mann und Frau beschäftigt, hat sehr stark auch die Dogmatik durchforstet, was spricht für oder gegen das Priestertum der Frau, hat die Geschichte von heiligen Frauen sich angesehen und betont gerade, dass Brigitta von Schweden und Katharina von Siena doch vorbildliche Frauen waren, in der Bedeutung auch für die Kirchengeschichte.

"Der sprichwörtliche Sündenbock"

Gessler: Edith Stein sah sich ja offenbar auch bei ihrem Ordenseintritt 1933 diesen Schritt als eine Art Teilhabe am Leiden ihres jüdischen Volkes. Das ist ja ein bisschen widersprüchlich, katholische Nonne zu werden aus Solidarität mit ihren jüdischen Schwestern und Brüdern. Wie erklären Sie sich diesen Gedanken?
Beckmann-Zöller: Der Gedanke der Stellvertretung kommt sehr stark auch aus dem Judentum, und es ist Edith Stein sehr stark bewusst, dadurch, dass sie am Versöhnungstag Jom Kippur selbst geboren wurde, also im Jahr 1891 fiel dieser Tag, der ja auch wandert, auf den 12. Oktober, und an diesem Tag wurde sie geboren und hat immer wieder diesen Gedanken aufgenommen, dass ja dieses Schaft, was da geschlachtet wird, stellvertretend für das Volk, also die Sünden des Volkes werden diesem Schaf auferlegt im biblischen Judentum …
Gessler: Der Sündenbock.
Beckmann-Zöller: Ja, genau, der sprichwörtliche Sündenbock, und der wird getötet stellvertretend für das Volk sozusagen und nimmt die Sünden dann weg, und diese Stellvertretung hat Edith Stein sehr stark für sich empfunden, schon immer, und das hat sie dann direkt eben auch eingebracht 1933 in diesem Gedanken, für ihre Familie, für jüdisches Volk auch beten zu können, ganz anders eine Verbindung herstellen zu können in diesem geistlichen Leben im Karmel.
Gessler: In ihrem Testament von 1939 schreibt Edith Stein, sie nehme ihr Sterben an, Zitat: "zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes" – das hört sich jetzt aus heutiger Sicht nicht besonders danach an, als ob sie tatsächlich das Judentum so hoch schätzen würde wie das Christentum.
Beckmann-Zöller: Ja, dazu muss man ein bisschen spezifizieren, was bedeutet der Unglaube. Sie selber hat das ja erlebt: sie selber war ja Jüdin, hat die Liturgien praktiziert, aber nicht geglaubt. Das schreibt sie über sich selber natürlich auch. Genau das meint sie, sie meint nicht das Dogmatische, dass Juden eben grundsätzlich nicht den Erlöser anerkennen, das meint sie gar nicht, denn sie schreibt an anderen Stellen immer wieder, dass sie auch glaubt, dass ihre Mutter bereits bei Jesus im Himmel angekommen ist, obwohl sie nicht christlich gläubig war, also sie glaubt, dass ein Weg zur Wahrheit im christlichen Sinne führt durch das Leben, was man führt, durch die Sehnsucht, die man hat, aber nicht unbedingt durch den dogmatischen Glauben, den man teilt. Das heißt, Edith Stein hat eigentlich ein sehr weites Kirchen- und auch Heilsverständnis, Erlösungsverständnis, und zugleich meint sie damit aber, dass die Juden eigentlich ihr Judentum nicht innerlich genug leben, so wie sie selber das eben auch nicht getan hat, und dafür möchte sie eben stellvertretend beten und ihr Leben hingeben.

"Sie hat ein inneres Freiheitsgefühl"

Gessler: Es gibt jetzt die Überlieferung, dass bei der Verhaftung durch die Gestapo von Edith Stein zusammen mit ihrer Schwester Rosa, die auch in den Karmel in den Niederlanden dort eingetreten war, dass sie zu dieser Schwester Rosa sagt, komm, wir gehen für unser Volk. Hier ist wieder dieser Opfergedanke wohl zu erkennen, wenn diese Überlieferung richtig ist.
Beckmann-Zöller: Ja, man hat dann spekuliert. Meint sie wirklich für das jüdische Volk, meint sie vielleicht auch für das deutsche Volk. Edith Stein hat sich auch immer als Preußin und als Deutsche betrachtet oder meint sie tatsächlich, komm, wir gehen für das jüdische Volk, und ich denke, dass sehr viel für das Letztere spricht und dass sie tatsächlich auch da diesen Sühnegedanken lebt und aber nicht besonders verkrampft, sondern die letzten Zeilen, die sie schreibt, ist, ich konnte herrlich beten. Also sie hat ein inneres Freiheitsgefühl, wenn sie sich da hingibt oder wenn sie sich da hineingibt in das Unbekannte, in das, was da auf sie zukommt. Sie hat ja den Kindern noch die Haare gekämmt, da, wo die Mütter das gar nicht mehr konnten, nicht mehr sorgen konnten für ihre Kinder vor lauter Angst und Verzweiflung.
Gessler: Also auf dem Weg zur Deportation.
Beckmann-Zöller: Der Deportation, genau, und in dieser Zeit spürt man dann, dass sie das wirklich gelernt hat, eine Meisterin des inneren Lebens zu werden, eben von innen heraus zu leben und eben diesen Gedanken halt, wir gehen für unser Volk, wir, die wir das verstehen, was da passiert eben, aus der geistlichen Sicht, dass das jüdische Volk wieder einmal gebeutelt wird, wie es schon sehr, sehr oft in der Geschichte schon … bereits im Alten Testament haben die Juden selber ja das immer so interpretiert, dass durch politisches Eingreifen, durch Überfälle von Ägypten aus oder von anderen Völkern, von Persien aus, die sie überfallen haben, dass das immer wieder die Hand Gottes war, die ruft, kommt zurück zu mir.

"Neue Offenheit für die Gespräche zwischen den beiden Religionen"

Gessler: Verstehen Sie denn, dass manche jüdische Gelehrte eher Schwierigkeiten haben mit Edith Stein, so nach dem Motto – ich verkürze das jetzt sehr –, jetzt machen sich die Katholiken über Edith Stein auch noch zu Opfern des Holocausts.
Beckmann-Zöller: Ja, das ist der berechtigte Vorwurf gewesen, der in den 80er- und 90er-Jahren auch von jüdischer Seite immer wieder, gerade auch von amerikanischer Seite, verlautet war. Es gibt aber jetzt inzwischen auch eine neue Generation von jüdischen Wissenschaftlern und stellvertretend dafür möchte ich den Rabbi James Barden nennen, der auch bei uns in der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland Mitglied ist, der selber eben über Edith Stein forscht und zwar natürlich aus jüdischer Sicht als Rabbi. Er beleuchtet durch sie hindurch die Beziehung zwischen Judentum und Christentum, und das ist recht interessant, dass da also eine neue Offenheit auch für die Gespräche zwischen den beiden Religionen, eigentlich den älteren Geschwistern für die Christen, zustande kommen.
Gessler: Vielen Dank, Frau Beckmann-Zöller. Das war ein Gespräch mit der Religionsphilosophin und Dozentin an der katholischen Stiftungsfachhochschule München sowie der Vizepräsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Beate Beckmann-Zöller. Von der Edith-Stein-Gesamtausgabe at sie die Bände 6, 9, 14, 15, 16, 17 bearbeitet, und von ihren eigenen Büchern sei hier nur dies erwähnt: "Frauen bewegen die Päpste: Leben und Briefe von Hildegard von Bingen, Brigitta von Schweden, Katarina von Siena, Mary Ward, Elena Guerra und Edith Stein", erschienen im Sankt Ulrich Verlag, Augsburg, 2010, Preis 19,90 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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