Philosoph Wilhelm Schmid

"Wir können nicht auf analoges Leben verzichten"

36:30 Minuten
Portrait des Philosophen Wilhelm Schmid.
Die Corona-Krise hat auch ihr Gutes, findet der Bestseller-Autor Wilhelm Schmid: "Was uns Bewegung wert ist im Leben, das erfahren jetzt alle Menschen." © picture alliance / Rolf Haid
Wilhelm Schmid im Gespräch mit Frank Meyer · 03.04.2020
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Das Coronavirus konfrontiert uns mit existenziellen Ängsten und Sorgen. Welche Antworten gibt ein Philosoph? Er rät zu einer Phase der Selbstreflexion: "Wir waren vielleicht etwas zu heftig unterwegs in den vergangenen Jahren", sagt Wilhelm Schmid.
Mit den praktischen Herausforderungen dieser Zeit kämpfen wir Tag für Tag: Wie geht’s weiter mit Arbeit und Verdienstmöglichkeit? Wo kann ich Nudeln kaufen? Maske ja, Maske nein? Wie bringe ich meinen Kindern Bruchrechnung bei? Doch die Zeiten der Isolation bringen im besten Fall auch eine Atempause. Und genau hier liegt die Chance, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid, der zahlreiche Bestseller zu Fragen der Lebenskunst geschrieben hat.

Eine Zeit der Besinnung

Die grundsätzlichen Fragen, die im Zuge der Corona-Krise auftauchten, könnten sich für jeden Menschen als wertvoll erweisen, sagt Wilhelm Schmid. Eine positive Folge der Pandemie sei, dass mit ihr eine Phase der Nachdenklichkeit und Selbstreflexion einherginge:
"Ein Sinn könnte sein, dass wir – jedenfalls für eine kleine Weile – nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Die Flugzeuge sind am Boden, die Kreuzfahrtschiffe sind in den Häfen, und auch mein Leben ist deutlich langsamer geworden. Wir waren vielleicht etwas zu heftig unterwegs in den vergangenen Jahren und konnten überhaupt nicht mehr nachdenken und zur Besinnung kommen."

Die Welt als Schicksalsgemeinschaft

Oft erkenne man das Positive erst, wenn man Negatives erführe. Die Bewegungsfreiheit aus den 'normalen' Tagen etwa würden viele Menschen seit der Corona-Krise weit höher schätzen als davor:
"Was uns Bewegung wert ist im Leben, die beliebige Bewegung jederzeit irgendwo hin, das erfahren jetzt alle Menschen. Und das werden wir – hoffe ich jedenfalls – eine Weile lang nicht vergessen."
Und noch ein anderer positiver Effekt sei rund um den Globus spürbar: das neue Gefühl von Zusammenhalt: "Wir erfahren durch so eine Krise, wie stark wir gemeinsam sind – wenn es denn sein muss. Und dass wir als Gesellschaft, letztlich sogar als Weltgesellschaft, eine sehr große Herausforderung durchstehen können."

Recht auf Freiheit contra Recht auf Leben

In vielen demokratischen Staaten wird die philosophische Diskussion im Zeichen der Corona-Krise von einer zentralen Frage beherrscht: Wie setzt man das Recht auf Freiheit ins Verhältnis zum Recht auf Leben? Bei uns empfinden viele Menschen die aktuellen Einschränkungen als sehr einschneidend – nehmen sie teilweise auch als Angriff auf demokratische Grundrechte wahr. Etliche Maßnahmen werden als unverhältnismäßig empfunden: Eltern fühlen sich mit dem Homeschooling überfordert, Menschen verstehen nicht, warum sie ihre Stadtparks nicht mehr betreten dürfen. Wilhelm Schmid kann den wachsenden Unmut verstehen, mahnt aber:
"Vielleicht ist es doch wichtig, über die Prioritäten nachzudenken. Und es scheint mir, dass das Grundrecht auf Leben jetzt erstmal vordringlich ist. Das Grundrecht auf Leben für einen selbst und andere Menschen. Da müssen andere Dinge etwas nachrangig behandelt werden."

Drakonische Strafen zeigen die Gefahr an

Auf den Vorwurf, die Politik schränke die Bürger mit zu großer Härte ein und schikaniere sie mit der Androhung drakonischer Strafen, entgegnet der Philosoph, dass der Staat nun einmal die primäre Aufgabe habe, Leben zu schützen:
"Die große Schwierigkeit bei dem Virus ist zu erkennen, dass es tückisch ist – eben viel tückischer als ein Grippevirus. Man bemerkt nicht, infiziert zu sein, hält sich für vollkommen gesund, geht in einen Park oder joggt – und auf diese Weise kann jeder jeden Tag zehn andere Menschen infizieren. Und dann haben wir in kürzester Zeit solche Verhältnisse wie in Italien oder in Amerika. Was glauben wir denn, was geschehen würde, wenn Hunderttausende in Deutschland sterben? Dieses Potential hat das Virus, und die drakonischen Strafen, die drohen, sollten uns vielleicht zeigen, wie groß die Gefahr ist, in der wir uns befinden."

Neue Strukturen in der Kommunikation

In punkto sozialer Austausch bringe die Krise viel Neues, sagt Wilhelm Schmid. Der allgemeine Digitalisierungsschub zeige, was Kommunikation im Kern ausmache:
"Wir lernen jetzt im praktischen Experiment, wie wichtig Analoges ist: Die Bewegung ist analog, Beziehungen, Menschen, die wir umarmen, sind analog, Berührungen sind analog. Wir können nicht auf analoges Leben verzichten – das ist die Basis."
Doch, sagt der Philosoph, es gäbe eine zweite wichtige Erkenntnis – nämlich, dass wir jetzt in Corona-Zeiten auch dem Digitalen ziemlich viel zu verdanken hätten:
"Wir können mit unseren Freunden, Nachbarn und Bekannten auch auf Distanz ständig in Kontakt sein. Viele im Berufsleben lernen jetzt die Vikos kennen, die Videokonferenzen, und merken, sie sind relativ einfach zu machen. Flexibles Arbeiten wird also möglich, wo es vorher unmöglich war."
Bei aller Begeisterung für die neuen und stärker als je zuvor genutzten Kommunikationsformen gibt es aber auch das Problem des Datenschutzes – und das Risiko, sich in den Cyber-Welten zu verlieren: "Die Gefahr, die ich sehe, könnte sein, dass wir am Ende zu sehr aufs Digitale setzen und dann wieder das Analoge vernachlässigen."
(tif)

Wilhelm Schmid, geboren 1953, studierte Philosophie und Geschichte und promovierte über "Lebenskunst bei Michel Foucault". Er lebt als freier Philosoph in Berlin, lehrt als außerplanmäßiger Professor Philosophie an der Universität Erfurt und hat viele Bestseller zu Fragen der Lebenskunst geschrieben.

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