Philosoph Dieter Thomä

"Keine Helden in Sicht in Deutschland"

Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä
Der Schweizer Philosophieprofessor Dieter Thomä © picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler
Moderation: Susanne Führer · 21.10.2017
Der französische Präsident Emmanuel Macron hält "politisches Heldentum" für die Zukunft Europas für notwendig. Auch so mancher Bürger scheint auf eine Vision für unsere Gesellschaft zu hoffen. Wir fragen den Philosophen Dieter Thomä, was einen demokratischen Helden ausmacht.
Deutschlandfunk Kultur: Unser Thema heute in Tacheles ist der immer wieder formulierte Wunsch nach einer neuen, nach einer großen Erzählung für Europa. Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht sogar von "demokratischem Heldentum", das die moderne Demokratie beleben solle.
Mit Helden kennt sich mein heutiger Gast aus, mit der Demokratie natürlich auch. Es ist der Philosoph Dieter Thomä. Er lehrt an der Universität St. Gallen und hat zuletzt das Buch "Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds" veröffentlicht. Erstmal herzlich willkommen, Herr Thomä.
Dieter Thomä: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: In den vergangenen Tagen haben in Deutschland hier ja die ersten Gespräche, die sogenannten Sondierungen, über eine Regierungsbildung zwischen Union, FDP und Grünen begonnen. Was auch immer dabei herauskommen wird, eine neue große Geschichte für unser Land wahrscheinlich nicht, oder?
Dieter Thomä: Keine Helden in Sicht in Deutschland und große Erzählungen auch nicht. Also haben wir die Helden eher im Westen und im Osten, in Frankreich und in Österreich, die sich da gerade in Szene setzen. Je mehr Köche im Topf rühren, desto mittelmäßiger wird oft das Essen. In diesem Fall haben wir natürlich auch ein ungeheures Zögern bei den Akteuren. Die warten erstmal die Niedersachsenwahl ab und keiner steckt die Nase in den Wind. Der Minimalkonsens wird dann eben das schmale Brett sein, auf dem Deutschland in die Zukunft surft.
Deutschlandfunk Kultur: Bevor wir zu den Heldenfiguren kommen, würde ich noch gerne ein bisschen bei den großen Erzählungen bleiben. Wenn man jetzt mal an den Wahlkampf zurückdenkt, ich glaube, kaum jemand wird irgendeinen Wahlkampfslogan von CDU, CSU, SPD, Grünen, Linke noch zitieren können.
Dieter Thomä: Doch, ich kann's. "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben."
Deutschlandfunk Kultur: Das ist jetzt welche Partei?
Dieter Thomä: CDU.
Deutschlandfunk Kultur: Okay. Also, Sie sind eine der Ausnahmen. Aber ich glaube, viele, alle wollen irgendwie, dass wir gut leben, dass wir gerne leben, dass wir gerecht leben und so weiter. Nun kann man ja sagen: Ja, Leute, aber das ist doch auch gut, denn wir haben ja mit Fug und Recht gelernt, diesen großen Ideen, den großen Utopien, man denke an den Kommunismus, gerade in diesen Tagen 100 Jahre Oktoberrevolution, zu misstrauen.
Dieter Thomä: Dass wir uns eigentlich an keinen Wahlslogan erinnern oder dass es eigentlich auch fast peinlich ist, dass ich mich dran erinnere, ist nicht wirklich ein gutes Zeichen. Denn es wäre dann unproblematisch, wenn man das Gefühl hätte: Alles ist in Ordnung, keiner regt sich auf, es geht seinen Gang, niemand muss irgendwas Besonderes tun. Aber dieses Gefühl deckt sich ja nicht mit der Erfahrung, die die Leute im Lande machen, und auch nicht mit der Lage, in der wir uns befinden.
Es ist tatsächlich ja so, dass die Demokratie in einer Existenzkrise ist. Das muss man sagen. Es gibt eine außerordentliche innere und äußere Bedrohung. Es gibt unglaublich große Geschäfte auf der Agenda. Deshalb kann man sich nicht einfach damit zufrieden geben, dass man business as usual macht.
Diese Diskrepanz macht einen nervös. Die macht die Leute nervös, wenn man sich das Verwalten auf der Seite der aktuellen Politik und die großen Herausforderungen auf der anderen Seite anschaut. Deshalb ist es so, dass dieses Stichwort von der großen Erzählung nicht an den Haaren herbeigezogen ist.
Man merkt eigentlich auch erst, wie groß diese Erzählung ist, in der man eigentlich schon drin steckt. Wenn da jemand einen Punkt setzen und sagen will, so, jetzt machen wir mal Schluss mit dieser Erzählung, dann erst wird es einem bewusst. Das ist, glaube ich, jetzt auch die Aufgabe, in der sich die Politik befindet, dass man so was wie die kostbaren Errungenschaften, die man hat, weiterentwickelt und sich nicht kaputtmachen lässt. Erst wenn Gegenwind entsteht, muss man die Nase in den Wind halten. Wenn Windstille ist, kann man sich auf die faule Haut legen. Das ist aber nicht die Situation, in der wir uns befinden.

"Es gibt jetzt so eine Art innere Abrechnung"

Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir nach Deutschland blicken, dann könnte man sagen, okay, die Einzigen, die wirklich eine neue Erzählung oder vielleicht auch eine alte - wie heißt das, alter Wein in neuen Schläuchen - angeboten haben, ist die AfD mit diesem relativ simplen Bild: 'Das sind alles Verräter da oben und da draußen die Ausländer, das sind alles Kriminelle. Die wollen wir nicht haben'.
Das zeigt ja etwas an, was man auch in Frankreich beobachten konnte oder auch in Österreich. Wenn jemand kommt und sagt, 'ich will jetzt hier wirklich was ganz Neues und es anders machen', dann ist das nur um den Preis der Polarisierung zu haben, was ja vielleicht auch per se nicht schlecht ist für eine Demokratie, nur, was diese konsenssehnsüchtigen Deutschen etwas verschreckt.
Dieter Thomä: Ja, es gibt jetzt so eine Art innere Abrechnung von Leuten, die sich irgendwie nicht mitgenommen fühlen innerhalb von Demokratien. Das heißt: Erstmal könnte man den Spieß rumdrehen und sagen: Offensichtlich gibt es ein politisches Establishment, das ist ja auch das Wort, mit dem dann irgendwie die Rechte oft operiert, das nicht das getan hat, was eigentlich zur Demokratie gehört, nämlich dass sich dieses Establishment als Vertreterin des Volkes versteht.
Entsprechend gibt es dann jetzt die Quittung. Und jetzt kommt der verhängnisvolle Move der Enttäuschten, dass sie von der großen Erzählung der Demokratie auf die alte Erzählung des Nationalismus umschwenken. Die hat enorme "Vorteile". Die ist unglaublich übersichtlich und die erfüllt die klassischen Voraussetzungen für das, was man früher Ideologie genannt hat. Also, wir leben in einer total vernetzten Welt. Alle sind an ihren Smartphones. Auch die, die AfD wählen, sind an ihren Smartphones. Die Globalisierung in der Wirtschaft schreitet voran. Und jetzt sind dann haufenweise erfolgreiche Politiker unterwegs, nicht nur in Deutschland, sondern in anderen Ländern sogar erfolgreicher als in Deutschland, die sagen: 'Hey, wir schaffen eine ganz neue Welt. Und diese Welt ist unsere kleine Käseglocke'.
Da merkt man natürlich, dass das eigentlich eine kleine Erzählung ist. Diese große Erzählung, die da jetzt auf der Rechten Erfolge feiert, ist eine verdammt kleine Erzählung.
Deutschlandfunk Kultur: Aber das Beispiel Emmanuel Macron zeigt ja, dass es auch anders geht. Der hat ja erstaunlicherweise mit - ich sage jetzt mal neutral - einer Wahlkampagne für ein offenes Frankreich, eingebettet in die Europäische Union, für eine Modernisierung des Landes die Wahl gewonnen.
Dieter Thomä: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht so eine Art faule Sortiererei im Kopf veranstalten mit den Politikern heutzutage, also nach dem Motto: 'Wer jetzt etwas Ungewöhnliches tut, ist gleich eine Gefahr. Wir sollten auf die bekannten, vertrauten Rituale der Politik setzen. Sonst landen wir irgendwo im Faschismus.' - Das ist alles totaler Unsinn.
Denn ich habe mich ja tatsächlich viel mit den Störenfrieden beschäftigt und es gibt eben solche und solche. Daran merkt man, es ist natürlich ganz faszinierend zu sehen, dass jetzt eben im Westen und im Osten Deutschlands zwei Leute auftreten mit ungeheurem Erfolg, die beide das Parteiensystem total aushebeln - Macron ja noch stärker als Kurz. Kurz nennt benennt kurzerhand die ÖVP um in "Liste Kurz" oder so ähnlich. Und Macron zerstört buchstäblich dieses ganze Parteiensystem von Mitte links bis rechts oder bis Mitte rechts, sagen wir so.
Das heißt also, da gibt's jetzt diese zwei Figuren. Davor gab es den großen Aufbruch mit Obama und dann die Farce mit Trump. Also, es gibt sehr, sehr unterschiedliche Figuren, die in irgendeiner Weise versuchen, Bewegung in den Laden zu bringen. Man kann nicht automatisch sagen, das sei von Vornherein des Teufels, sondern man sieht dann eben auch sehr unterschiedliche Formen von Störungen, die dann plötzlich ins Zentrum der Macht gelangen.
Die Unterschiede sind dann eben auch an dem Punkt abzulesen, denn man will ja nicht einfach jetzt alle in einen Topf werfen, wo dann die Nagelprobe stattfindet. Die Nagelprobe bei einer großen Erzählung, einer Vision dieser Art besteht dann darin, dass nicht über die Leute hinweg geredet wird. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man eine Erzählung so fasst, dass die anderen nur zuhören und dann irgendwann einschlafen, dann werden Sie dabei vielleicht bei Kindern Erfolg haben, die in den Schlaf geredet werden wollen, aber nicht in einer Demokratie. Das ist praktisch der eine Punkt, also dieses Mitnehmen. Und darüber kann man ja auch klagen, dass dieses Mitnehmen zu wenig erfolgt, wenn Politik zu abgehoben ist.
Der andere Punkt ist, dass die große Erzählung, die es da gibt, eben nicht so eine Art Verbissenheit kriegen darf. Das ist die große Gefahr, wenn die große Erzählung zu dieser kleinen Erzählung wird, wie ich vorhin gesagt habe, und zu so einer Käseglocke, in der man sich wunderbar gut zurechtfindet, die dann aber außen Stacheln hat, auf der dann die Fremden und so weiter aufgespießt werden.

"Die Schweiz ist stolz darauf, keine Helden zu haben"

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben jetzt positiv von den Störenfrieden gesprochen - Macron spricht von demokratischen Helden - und ganz verschiedene Politiker genannt. Ich würde aber trotzdem gern nochmal beharren auf dieser Errungenschaft, wenn man so will, der Postmoderne, eben dieser Kritikfähigkeit und diesem Misstrauen, was wir jetzt gar nicht unbedingt durch die Postmoderne gelernt haben, sondern eben durch zwei Weltkriege, den Faschismus, die sogenannten sozialistischen Staaten, dass wir gute Gründe haben, Ideologien oder großen Erzählungen zu misstrauen, und dass wir auch gute Gründe haben, Helden zu misstrauen, Heldenfiguren. Und dass erwachsene Bürger nicht eigentlich davon träumen sollten, dass da so ein Held kommt und sie rettet. Das ist nicht demokratiegemäß.
Dieter Thomä: Ja, das ist - wie soll ich sagen - so ein ganz empfindlicher Punkt in uns selbst auch und in der Politik. Ich lebe und arbeite ja in der Schweiz teilweise. Nehmen Sie mal die Schweiz. Das ist interessant, weil, da gibt's heute überhaupt keine Helden in der Politik. Es gibt ja irgendwie keine wirklich herausgehobene politische Figur, sondern so ein Kollegium, das regiert. Also, die Schweiz ist stolz darauf, keine Helden zu haben, und stellt da einen Zusammenhang dazu her, dass sie eben eine Demokratie ist, in der man keine Helden braucht. Traurig das Land, das Helden braucht.
Umgekehrt hat die Schweiz Wilhelm Tell. Da fahren dann alle drauf ab. Diese Spannung ist eine, die wir auch aktuell in Demokratien haben meines Erachtens. Wilhelm Tell braucht die Schweiz, und zwar als eine Erinnerung an den Moment, an dem dieses ganze Land in Gefahr war. Dann braucht man eben auch jemanden, der sich exponiert.
Ich glaube, Postmoderne hin oder her, die Postmoderne hat diesen großen Vorteil, dass sie uns irgendwie in so einen Zustand der Ironie und der Vielfalt hineingebracht hat. Die Postmoderne führt so eine Art Parasiten-Existenz in dem Sinne, dass sie davon ausgeht, dass schon alles im Großen und Ganzen so eingerichtet ist, dass wir den Karneval der Kulturen feiern können. Das ist aber nicht selbstverständlich.
Das heißt, die Postmodern hängt eigentlich davon ab, dass man sich da in einem Rahmen bewegt, in dem tatsächlich dann auch diese Vielfalt möglich ist. Die ist eben unter Beschuss.
Und wenn Sie sich jetzt fragen, was brauchen wir dann, um so eine Situation aufrechtzuerhalten, dann kommen Sie um die Helden nicht rum. Es gibt bloß solche und solche. Ich glaube, es gibt wirklich zwei Arten von Helden: Die einen Helden, die übrigens jedes Kind, auch viele Erwachsene brauchen und die sie dann auch oft anderswo finden, in der Popmusik, im Sport oder sonst wo, es gibt einerseits Helden, die eigentlich diese Vorbildrolle erfüllen. Und deren entscheidende Tugend, und das macht sie dann auch erst zu einem demokratischen Helden übrigens, ist, dass sie uns anstacheln, über uns hinauszuwachsen.
Das ist eigentlich ja biologisch irgendwie unmöglich. Wer kann schon von uns über sich hinauswachsen? Aber es ist eigentlich ein wunderschönes deutsches Wort, weil es eben diese Art von Herausforderung, an der man dann wächst, bezeichnet. Und wenn Helden dazu führen, dass sie in dem Sinne uns anstacheln, ein bisschen mehr zu schaffen, als wir uns eigentlich zugetraut haben, dann ist doch dagegen nichts einzuwenden.
Dann gibt es aber gegen den demokratischen Helden den anderen, der sozusagen zu uns eher so ein Verhältnis hat wie der Herr zum Hund. Also, wir sind klein. Wir fühlen uns ganz mies. Und da oben ist dann der große Herr, der alles regelt und zu dem wir aufschauen müssen. Das ist praktisch die Gegenfigur des Helden.
Also, mein Vorschlag ist: Wir unterscheiden am Besten zwischen zwei Helden und treten nicht alle Helden in die Tonne.

"Im Moment gibt's eher das Ritual: hochjubeln und hohnlachen"

Deutschlandfunk Kultur: Dieter Thomä, Sie haben jetzt gerade eine Lanze für die Helden gebrochen. Ich glaube, zum Heldentum gehört ja unbedingt auch die Ferne dazu. Sie haben das Beispiel Wilhelm Tell genannt. Der ist nun zeitlich sehr fern. In Deutschland gab es auch eine Obama-Mania. Wir haben Barack Obama hierzulande verehrt wie einen Halbgott. Der war eben auch schön weit weg in den USA. Und Macron finden wir schon weniger toll, weil der ja doch gleich nebenan ist. Und in Deutschland selbst ist gar kein politischer Held in Sicht.
Es gab mal diese kurze Zeit mit einem Freiherrn - die war dann auch schnell wieder vorbei -, aber wo sich mir auch nochmal diese Sehnsucht nach so einer Figur ganz klar gezeigt hat, die, wie Sie sagen - Postmoderne hin oder her - nicht aus den Menschen herauszubekommen ist.
Dieter Thomä: Ja. Sollen wir jetzt da uns hinstellen und uns irgendwie darüber beklagen, dass Menschen irgendwie in anderen etwas sehen, was sie dann idealisieren? Da würde ich eben einfach nochmal sagen wollen: Das hängt sehr davon ab, was man dann für Schlüsse draus zieht. Wenn man eben in einer Situation sich befindet, wo man sich richtig mies fühlt, und dann eigentlich so eine Art totales Gegenbild sucht, was man dann auf den Sockel stellt, und dann fällt man in die Knie, dann dankt man im Prinzip ab als jemand, der selbstbestimmt leben will.
Keinen kann man dran hindern, aber es wäre natürlich deprimierend, wenn 80 Millionen Deutsche das jetzt machen würden. Dann sind wir auch wieder in einem anderen Jahr gelandet, nämlich 1933.
Umgekehrt ist es so, dass eigentlich nichts dagegen spricht, dass sich um eine Person, an einer Person bestimmte Ziele festmachen, die diese Person in besonderer Weise verkörpert. Wenn man dann diese Verbindung herstellt zwischen Personen und Zielen, dann verliert sich eigentlich ein bisschen dieses Geschmäckle, dass wir hier irgendwie in einer Unterwerfungsfigur drinstecken, denn diese Ziele sind dann unsere Ziele.
Aber weil Sie einen gewissen Freiherrn ansprechen, im Moment gibt's ja eher das Ritual: hochjubeln und hohnlachen - nicht nur beim Freiherrn, auch bei Martin Schulz, Aufstieg und Absturz um zwanzig Prozent innerhalb von ein paar Wochen. Das heißt, wir übernehmen eigentlich, wenn wir in der Politik über Helden sprechen, ganz stark ein Muster, das gar nicht aus der Politik stammt, sondern aus dem Kommerz. Also, wir hypen Helden hoch und dann sind sie wieder out. Wir sind sehr ungeduldig mit diesen Leuten. Entsprechend ähnlich ist es dann eigentlich auch bei den Kommerz-Helden, meinetwegen in der Pop-Branche, die irgendwie dann auch ganz schnell gefallene Helden sind.

"Seit 1989 in einer ideologischen und auch ideellen Konfusion"

Deutschlandfunk Kultur: Herr Thomä, lassen Sie uns nochmal zurückkehren zur Politik und zu den großen Aufgaben, die ja zweifelsohne vor uns liegen, wie Sie ja eingangs auch gesagt haben.
Emmanuel Macron erinnerte auch daran, dass die Gründer der europäischen Einigung natürlich nicht über Quoten und Stimmrechte zueinander gefunden haben, sondern - geprägt durch die beiden schrecklichen Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts - durch diese große Idee: Nie wieder Krieg!
Die scheint ja, und das wird ja allenthalben beklagt, heute nicht mehr diese notwendige Bindekraft zu bieten, um die Europäische Union, um die europäischen Demokratien zusammenzuhalten. Deswegen fordern ja auch ganz unverdächtige Demokraten wie Peer Steinbrück, der SPD-Politiker, oder auch der Philosoph Richard-David Precht: Wir brauchen eine neue große Erzählung für Europa.
Ja, aber die kann man doch nicht einfach irgendwo bestellen. Das wirkt so ein bisschen hilflos.
Dieter Thomä: Nee, die kann man nicht irgendwo bestellen und die kann noch kommen oder nicht. Es ist aber jetzt eben tatsächlich auch nicht so ein Wunder, dass wir in dieser vertrackten Lage sind, muss ich ehrlich sagen, einfach weil Geschichte ein ziemlich langsames Geschäft ist.
Sie haben völlig zu Recht davon gesprochen, dass im Gründungsakt der EU, wie wir sie jetzt heute haben, ursprünglich hieß sie ja nicht EU, dieser Horror der Kriege stand als Hintergrund. Das heißt, da gibt es einen ganz starken Druck. Das ist eben dieser Sturm der Geschichte, in dem man sich da befunden hat. So einen Sturm, wenn man ihn sich sozusagen richtig in die Segel fallen lässt, der vermittelt auch den politischen Akteuren natürlich eine große Energie bei all dem Schrecken, der damit verbunden ist.
Das war die prägende Erzählung, diese Friedensvision - bis wann genau? Bis die Nachkriegszeit zu Ende war. Und wann ist sie zu Ende gegangen? 1989 und folgende. Dann kann man sagen, der Kalte Krieg war zu Ende. Man muss sich da einfach ein bisschen in Geduld fassen. Denn was kam dann? Phase zwei. Entschuldigung, dass ich das kurz ausbreite.
Nach der Nachkriegszeit kam so eine kurze Verirrung, die aber eigentlich dann ein paar Jahrzehnte dauerte. Diese kurze Verirrung war: comfort zone. Wir befinden uns in der Komfortzone. Der Kalte Krieg ist vorbei, Demokratie und Freiheit und Marktwirtschaft sind überall auf dem Vormarsch, die Posthistoire, wie es damals hieß, hat begonnen. Die Geschichte ist zu Ende, wir verstehen uns alle gut, es geht voran. Die Marktwirtschaftsexperten werden nach Russland geschickt und da kommt dann auch die Demokratie. Alle sind happy, dass sie sich in die EU hineinbegeben. Und dann kamen sozusagen die Schocks: Zerfall Jugoslawiens, Völkermord und so weiter.
Wir sind jetzt eigentlich seit 1989 - und das ist jetzt ein bisschen lange hin, aber es ist so, Geschichte dauert manchmal lange - in einer ideologischen und auch ideellen Konfusion, weil wir eigentlich denken: Mensch, jetzt müsste doch die Demokratie überall auf dem Vormarsch sein. Aber es schlägt uns im Ausland wie im Inland der Nationalismus und der Rassismus usw. die Ohrfeigen um die Ohren.
Das heißt also, ich sehe das so, dass wir eigentlich jetzt so eine Art Hallo-Wach-Effekt haben, dass wir jetzt merken, okay, nach der Nachkriegszeit kam eine Zeit der Konfusion, die von falschen Illusionen geprägt war. Es ist jetzt der Punkt erreicht, wo man wieder sagen muss: Aha, wir schauen nicht zurück. Wir schauen zur Seite und wir schauen nach vorne. Da sehen wir ein Milliardenreich, das mit Demokratie nichts am Hut hat, China. Wir sehen die größte Supermacht der Welt, die ihre eigene Demokratie gerade ruiniert, die USA. Und dann sehen wir auch noch, dass wir besser zusammenhalten sollten, wenn wir dieser Klimakatastrophe noch ein Schnippchen schlagen wollen.
Das sind ziemlich gute Gründe für eine große Erzählung, für eine große Erzählung Europas.
Deutschlandfunk Kultur: Um Ihr Krisengemälde noch zu vervollständigen, sehen wir eben auch, dass die Europäische Union droht auseinanderzufliegen.
Sie sagen jetzt, das sind gute Gründe für eine große neue Erzählung. Man könnte ja aber auch sagen, dass diese Sehnsucht nach dieser großen neuen Erzählung eben genau das anzeigt, erstens diese Krise und zweitens - noch einen Schritt weiter gedacht -, dass der Nationalstaat an seinem Ende angekommen ist, dass diese kurze Verirrung, von der Sie gerade gesprochen haben, eigentlich das kaschiert hat. Das meint zumindest Ihr Kollege, der Philosoph Christoph Menke. Der sagt: Der Nationalstaat ist an seinem Ende. Deswegen erleben wir jetzt diese Auseinandersetzungen.
Dieter Thomä: Also, der Nationalstaat ist nicht die große Erzählung. Europa als solches ist ein ziemlich unübersichtliches Gebilde. Deshalb ist es auch schwierig, jetzt aus Europa eine große Erzählung zu machen. Es ist aber auch nicht unmöglich.
Wir erleben eigentlich im Moment tatsächlich diese Weichenstellung, die für uns auch ganz schwierig zu verdauen ist, nämlich dass ein Tandem, an das wir uns sehr gewöhnt haben, anfängt auseinanderzudriften. Das ist das Tandem von Nationalstaat und Demokratie. Das war eigentlich das klassische Tandem. Demokratie war immer im Einzelstaat verfasst. Und jetzt kommt dieses große Experiment, dass Demokratie über den Nationalstaat hinauswächst. Umgekehrt kommen die Populisten, die den Nationalstaat jetzt gegen die Demokratie hochjubeln.
Das Problem oder die Chance ist: In der Sache der Demokratie liegt es, das sie nicht einfach an den Grenzen eines Landes praktisch inne hält. Denn als die großen Theoretiker der Demokratie und die Revolutionäre und die revolutionären Praktiker sich diese Sache ausgedacht haben, haben die nicht von Deutschenrechten oder Franzosenrechten, sondern von Menschenrechten gesprochen. Also, wir kommen nicht drum herum, dieses Ideal der Demokratie sprengt die Grenzen, geht über die Grenzen hinaus. Deshalb sind wir jetzt mitten drin in einer Übung, in der die Demokratie über den Nationalstaat hinauswächst oder eben auf die Nase fällt.
Der Raum, in dem dann diese Demokratie sich sozusagen ausleben will, müsste dann Europa sein. Das ist natürlich eine anspruchsvolle Übung, klar.
Deutschlandfunk Kultur: Das finde ich aber jetzt aber eine sehr interessante These, Herr Thomä, dass die Demokratie über die Grenzen hinauswächst. Ich dachte, das Modell ist eher, der Nationalstaat ist der Rahmen für diese komische Spannung, die wir haben zwischen Demokratie und Kapitalismus. Und der Rechtsstaat versucht das irgendwie miteinander zu verbinden. Und es ist der Kapitalismus vor allem, der über die Grenzen hinaus drängt, in Form der Globalisierung. Die wiederum macht eben sowohl die Demokratie als auch den Rechtsstaat als auch den Nationalstaat kaputt.
Dieter Thomä: Ja. Das ist natürlich auch nicht falsch, was Sie sagen. Aber was ich sage, ist vielleicht auch nicht falsch. Es ist einfach so: Klar, das eine Muster ist, die Wirtschaft setzt auf Globalisierung. Und dann kommt dieses berühmte Wort von der Augenhöhe. Also, wenn jetzt die Politik sich in Augenhöhe befinden will zur Wirtschaft, dann muss sie auch globale Regulierungen, zum Beispiel der Finanzmärkte, auf den Weg bringen. In dem Sinne ist die Politik national traditionell verfasst und die Wirtschaft global.
Aber das stimmt eben nur halb. Denn, wie ich gesagt habe, 1789 wurden nicht Franzosenrechte verkündet, sondern Menschenrechte und 1776 in Amerika Menschenrechte und nicht Amerikanerrechte.
Also, es gibt sogar diesen lustigen Spruch in der Französischen Revolution: Alle Menschen sind Franzosen. Was damit gemeint war, war, dass es so eine Art große Einladung gab, dass man sich irgendwie an dieser französischen Errungenschaft der Menschenrechte ein bisschen nähren soll.
Das heißt aber auch, siehe Flüchtlingsfrage, dass, wenn wir als Demokraten nicht versagen wollen, wir immer auch über unsere eigenen Grenzen hinaus denken wollen, weil es einfach - kurz gesagt - eine Sauerei ist, wenn man sagt, wir verkünden Menschenrechte, und dann sagen, so, jetzt sortieren wir mal die Menschen. Das ist ja ein politischer Prozess, der eben seit dem 18. Jahrhundert bei uns selbst alles Mögliche erstmal durchkämpfen musste. Also, man musste einsehen, dass auch Frauen Menschen sind. Das hat man am Anfang ja ein bisschen anders gesehen. Und dann kam in Amerika die Frage: Sind die Indianer eigentlich Menschen oder die Schwarzen?
Das heißt, es gibt praktisch Kämpfe in der Demokratie, die immer auch über diese Grenzen hinaus gehen, in denen man sich so einrichtet. Und diese Grenzen sind eben auch die Grenzen des Nationalstaats. Die Demokratie hat immer diesen Überschuss und ist nicht einfach nur im kleinen Kämmerlein zu haben.
Deutschlandfunk Kultur: Wenn wir nochmal zu der Ausgangsfrage zurückkehren: Brauchen wir eine neue große Erzählung? Wofür eigentlich? Ist es überhaupt möglich? Wer könnte die liefern? Diese Frage haben wir jetzt ja auch noch nicht beantwortet. Dann ist ja die Frage, ob das überhaupt noch möglich ist, so eine große Erzählung heute, von wem auch immer sie dann verfasst werden sollte, anzubringen.
Der Kunstwissenschaftler Daniel Hornoff meint zum Beispiel, dass in Zeiten der sozialen Medien eine Grundsatzerzählung ohnehin nicht mehr zu haben sei, weil wir einfach in so vielen verschiedenen zersplitterten Realitäten inzwischen lebten.
Dieter Thomä: Ja, das ist - glaube ich - auch ein Punkt, der Öl ins Feuer dieser ganzen Debatte gießt, der Debatte um die große Erzählung, um das Ende der Postmoderne. Wir erleben den Effekt, das nicht mehr die ganze Nation sich bei der Tagesschau versammelt. Das ist ja schon kalt, kälter kann ein Kaffee gar nicht mehr sein als dieser Spruch. Aber das Interessante ist ja, dass diese Effekte nie einfach passieren, ohne so eine Art Gegensehnsucht auszulösen.
Ich glaube nicht, dass es dazu kommt, dagegen spricht ja auch alles, was gerade passiert, dass wir uns alle in unseren berühmten Echokammern und Filterblasen einrichten. Denn es gibt eben umgekehrt dann so Sehnsüchte, die darüber hinausgehen. Und dann muss man sich sehr genau anschauen, wer fängt die eigentlich auf. Denn ich meine, der Populismus ist ja zum Beispiel nichts anderes als auch so eine Art Effekt, der dann so eine Massensuggestion und so eine Zugehörigkeit imaginiert und nicht einfach nur dann irgendwie so eine Community von 28 Leuten, die eine Meise haben, darstellt.
Das heißt also, wir haben hier so eine Art doppelte Entwicklung, würde ich sagen. Einerseits gibt's die Kleinteiligkeit und die Zersplitterung in den sozialen Medien. Andererseits gibt es dann dieses tiefe Gefühl, ja, das kann nicht alles sein. Wir leben auf einem Planeten. Wir müssen irgendwie auch über unseren Tellerrand rausschauen.
Deutschlandfunk Kultur: Tja, wer weiß, wie man sich später an unsere Zeit erinnern wird. Sie haben ja schon einen Vorschlag gemacht: die kurze Verirrung. Meiner wäre: die große Verwirrung.
Dieter Thomä: Vielleicht schließt sich das nicht ganz aus.
Deutschlandfunk Kultur: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Thomä, dass Sie sich die Zeit genommen haben für uns.
Dieter Thomä: Gerne.

Dieter Thomä, geboren 1959, studierte in Berlin und Freiburg i.Br. und lehrte nach der Promotion 1989 in Paderborn, Rostock, New York, Berlin und Essen. Preis für Essayistik beim Internationalen Joseph-Roth-Publizistikwettbewerb Klagenfurt 1996, Habilitation 1997. Seit Herbst 2000 ist er Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Zuletzt veröffentlichte er bei Suhrkamp "Puer robustus - Eine Philosophie des Störenfrieds".

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