Pharma-Industrie

Der Fall Duogynon - ein wenig beachteter Medikamentenskandal

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Proteste anlässlich der Hauptversammlung der Bayer AG am 29.4.2016 in Köln © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Adama Ulrich · 04.07.2016
Das Hormonpräparat Duogynon des Pharmaunternehmens Schering wurde lange Zeit als Schwangerschaftstest eingesetzt. Der Stoff steht im Verdacht, Missbildungen bei Kindern verursacht zu haben, doch die Betroffenen kämpfen bisher vergeblich um Anerkennung.
"Duogynonopfer klagen an! Wir sind nicht verjährt! Verweigert den Dekkers die Entlastung!"
Vor der Messehalle 9 in Köln-Deutz stehen etwa 100 Menschen. Einige von ihnen halten Transparente und Plakate hoch: "Tod durch Anti-Baby-Pillen", "Stopp dem Bienensterben", "Finger von der Deponie", "Propaganda raus aus der Kita", "Contergan Teil 2. Duogynon".
Die Proteste gelten der Bayer AG, die hier in wenigen Minuten ihre Hauptversammlung abhalten wird. Die Aktionäre werden mit Bussen vorgefahren. Sie sollen den Aufsichtsrat und den Vorstand entlasten. Doch erst einmal müssen sie das Empfangskomitee der Demonstranten passieren. Die meisten Aktionäre reagieren gar nicht, einige sind verärgert.
"Er soll die Unterlagen rausrücken. Wir sind nicht verjährt."

Frühschwangerschaftstest mit Nebenwirkungen

"Ich bin Silke Ehrenberg, ich bin 39 Jahre, bald 40 und komme aus Bremen. Durch die Duogynon als Injektion habe ich eine Behinderung an beiden Armen."
Einen Tag vor der Bayer-Hauptversammlung sitzen 20 Männer und Frauen in einem Restaurant am Rhein. Sie sind zwischen 40 und 70 Jahre alt und aus ganz Deutschland nach Köln gereist, um am nächsten Tag bei der Hauptversammlung des Pharmakonzerns zu protestieren. Viele treffen sich hier zum ersten Mal, aber sie haben alle etwas gemeinsam.
"Mein Name ist Petra Marek und meine Mutter hat Duogynon genommen zur Feststellung der Schwangerschaft, wusste aber nicht, was das für Folgen hat. Und mein Behinderung ist, dass ich mit einem offenen Rücken geboren worden bin."
Duogynon war ein Hormonpräparat der Schering AG mit den Wirkstoffen Norethisteron und Ethinylestradiol in Kombination...
"Mein Name ist Birgit Rothländer. Ich bin jetzt fast 50. Ich habe Missbildungen der Genitalien, fünf gleich innerlich. Seit 43 Jahren habe ich auch einen künstlichen Ausgang. Ich denke mal, es reicht. Ich möchte endlich eine 100-prozentige Gewissheit haben."
... typische Zusammensetzung: 10 mg Norethisteronacetat, 0,02 mg Ethinylöstradiol...
"Mein Name ist Renate Merkenich. Ich bin aus Bergisch Gladbach. Mein Sohn wird im Juli 40. ... Er ist mit einer Aplasie am rechten Gehörgang zur Welt gekommen, das heißt, das Außenohr fehlt."
Limovanil, Estroprogyn, Implus S, Implus-C, Jephagynon, Klimovan, Menstrogen Forte, Synovex C, Synovex S, Tonevex S...
Ein Duogynon-Opfer wartet am Dienstag (30.11.2010) vor dem Landgericht in Berlin auf den Prozessbeginn. Der Vorwurf schwerer Missbildungen durch das Medikament Duogynon wurde 30 Jahre nach der Einstellung eines ersten Verfahrens erneut verhandelt.
Ein Duogynon-Opfer mit der Frage, ob die Wissenschaft ein besseres Leben bietet?© picture alliance / Wolfgang Kumm
Für viele Frauen war Duogynon einfach nur ein praktischer Frühschwangerschaftstest. Duogynon bestand also aus zwei hochdosierten synthetisch hergestellten Hormonen, die als Frühschwangerschaftstest eingesetzt wurden. So einen praktischen Stäbchenschnelltest, der heute in jedem Drogeriemarkt erhältlich ist, gab es damals noch nicht. Wollte eine Frau wissen, ob sie schwanger ist, bekam sie von ihrem Gynäkologen oder Hausarzt zwei Tabletten oder eine Injektion verpasst. Setzten an den darauffolgenden Tagen keine Blutungen ein, war die Frau schwanger.

Bei Raphaela Hermes' Tochter fehlten Unterarme und Hände

"Ich habe immer gedacht, das wird der schönste Sommer deines Lebens. Doch dann kam alles anders."
Raphaela Hermes ist Anfang 60. Sie sitzt in einem hellen Zimmer in ihrem Haus in Mecklenburg, wo die Malerin und Musikerin seit ein paar Jahren lebt. An den weißen Wänden hängen Landschaften in leuchtenden Farben. Acryl auf Leinwand und Papier. Und sie komponiert auch.
Damals, vor 40 Jahren, lebte Raphaela Hermes noch in der Nähe von Hamburg. Sie hat den Schwangerschaftstest Duogynon von ihrem Frauenarzt bekommen.
"Und weil ich so oft gefragt werde in der heutigen Zeit, man nimmt doch in der Schwangerschaft keine Tabletten. Also, ich habe es damals wirklich als fortschrittlich betrachtet. Dann habe ich diese zwei Tabletten genommen und habe meine Periode nicht bekommen und dann hieß es, ja, Sie sind schwanger.
Es war eine ganz normale Schwangerschaft und es war auch eine ganz normale Spontangeburt. Nur direkt nach der Geburt habe ich sofort eine Narkose bekommen, weil die Ärzte sehr überrascht waren, das konnte man auf den Ultraschallbildern damals auch noch nicht sehen. Dann ist mir mein Kind weggenommen worden. Das ist natürlich hart. Dann ist mir gesagt worden, da stimmt jetzt was nicht mit den Händchen und wir wissen auch nicht. Das Kind muss ordentlich untersucht werden, es könnte ja auch organisch noch irgendetwas sein."
Was die Geburtshelfer erst nach der Entbindung sahen, waren die fehlgebildeten Arme von Raphaela Hermes Tochter. Unterarme und Hände waren nicht ausgebildet, am rechten Armstumpf hatte sie nur zwei Finger, am linken waren Zeige- und Mittelfinger zusammengewachsen. Der jungen Mutter wurde erklärt, dass dies wahrscheinlich eine Laune der Natur sei.
"Ich habe sie genommen, ihr eine Windel über die Schultern gelegt, ich habe sie gefüttert und ihr in die Augen geschaut und es war Liebe. Da war einfach Liebe und ich wusste irgendwie, es ist alles gut!"
Doch die Frage nach dem "Warum" ist immer geblieben. Einige Jahre später brachte Raphaela Hermes noch zwei Söhne zur Welt – beide gesund. 2010 sah sie zufällig einen Dokumentarfilm im Fernsehen, in dem es um den Schwangerschaftstest Duogynon ging.
"Ich war total aufgeregt. Ich habe dieses Wort gehört und war wie geschockt, wie ein Trauma. Die Bilder sind sofort wieder gekommen. Ich wusste hundertprozentig, dass ich das beim Arzt bekommen habe. Für mich war es völlig klar, das ist die Antwort auf die Frage: warum ist mein Kind behindert?"

Erst 1981 endgültig vom Markt genommen

Ist Duogynon vielleicht nach Contergan der zweite große deutsche Medikamentenskandal?
(Tobias Arndt:) "Die erste Untersuchung zu Contergan, eine Expertenrunde, die drei Tage nach der Rücknahme zusammengekommen ist, Duogynon auch schon als zweiten Faktor formuliert haben, der untersucht werden müsste. Und zwar haben sie genau gesagt, dass es eine zweite Noxe sein könnte."
Eine Noxe ist eine Substanz oder ein Ereignis, dass dem Organismus Schaden zufügt.
"Deswegen müsste man Duogynon und zwei weitere Produkte auf mögliche Wirkungen untersuchen. Das war am 30.11.1961."
Also bereits 20 Jahre vor der endgültigen Marktrücknahme 1981 haben Wissenschaftler und Ärzte auf mögliche schädliche Nebenwirkungen von Duogynon hingewiesen.
Der Historiker Tobias Arndt beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Contergan und anderen Medizinskandalen.
"Es ist eine Herzblutgeschichte für mich. Das sind auch sehr interessante Themen im Gegensatz zu Themen, mit denen sich andere Historiker beschäftigen – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite habe ich den Einstieg über Contergan gefunden und bin da über die Recherche, insbesondere was die Patentdatenbanken anbelangt, sehr schnell fündig geworden. Insofern hat sich das Thema bei mir zu einer Art privaten Obsession entwickelt."
Es gibt Skandale, die vor Gericht landen und in denen die Betroffenen durch Vergleiche oder die Gründung von Stiftungen immerhin entschädigt werden.

Contergan und andere Skandale

Der Contergan-Skandal:
Das Schlafmittel Contergan wird 1957 auf den Markt gebracht und auch Schwangeren verschrieben. In Deutschland kommen dadurch etwa 5.000 Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt. Hersteller Grünenthal schließt einen Vergleich zur Zahlung von 100 Millionen D-Mark.
Der Bluter-Skandal:
In den achtziger Jahren wird Blutern ein Blutgerinnungsmittel verabreicht, das aus Blutplasma hergestellt wird. Es ist mit Viren verunreinigt. Viele Bluter werden mit Hepatitis B und C oder HIV infiziert. Mehr als tausend Menschen sterben oder sind an Aids erkrankt. 1995 wird nur für die HIV-Infizierten eine Stiftung gegründet. 100 Millionen D-Mark stellt der Bund, 90,8 Millionen zahlen sechs Pharmafirmen.
Der Vioxx-Skandal:
1999 führt der US-Pharmakonzern Merck & Co das Medikament Vioxx ein. Ein Mittel gegen Rheuma und Gelenkschmerzen - auch "Superaspirin" genannt. Allein in Deutschland kommt es zu über 7000 Herzinfarkten und Schlaganfällen. 2004 wird Vioxx vom Markt genommen. Im November 2007 einigt sich Merck mit einem Großteil der Kläger auf eine Milliardenentschädigung. Danach richtet das Unternehmen einen Fonds in Höhe von 4,85 Milliarden Dollar ein.

Kritik an der verbraucherfeindlichen Gesetzgebung

Trotz dieser Vergleiche lassen die Pharmakonzerne nichts unversucht, um mögliche Zusammenhänge zwischen der Einnahme ihrer Medikamente und den zum Teil schweren Schäden, die sie hervorrufen, zu verleugnen. Zudem ist die Gesetzeslage in Deutschland alles andere als verbraucherfreundlich, meint Jörg Heynemann:
"Es ist so, der geschädigte Arzneimittelverbraucher muss zu 100 Prozent beweisen, dass sein Schaden Folge der Arzneimitteleinnahme ist. Das ist natürlich schwer, gerade wenn man von kranken Menschen ausgeht, die dann ein Medikament kriegen, dann kann man immer sagen, die waren schon vorher krank oder es ist eine andere Ursache denkbar. Das ist überaus schwer."
Die Kanzlei Heynemann hat sich auf Medizinrecht spezialisiert. Dieses Gebiet ist rechtlich und medizinisch hochkomplex. Viele Fragen müssen geklärt werden: Liegt tatsächlich ein Behandlungsfehler vor? Wie kann man das beweisen? Welche Chancen hat man gegen eine Klinik? Welche gegen einen Pharmakonzern? Wer zahlt wie viel Schmerzensgeld? Was, wenn die gesamte Existenz bedroht ist?
"Ich bin 2009/2010 angesprochen worden von André Sommer und auch von anderen. Ich hatte vorher noch nie von Duogynon gehört. Ich dachte erst: was wollen die nach so langer Zeit? Dann habe ich mal so ein bisschen gelesen und immer mehr gelesen und dachte, das darf nicht wahr sein, das ist ja Conterganfall zwei. Da habe ich gedacht, da muss man doch was machen, da muss man doch mal aufräumen, weil sich inzwischen auch das Bewusstsein der Bevölkerung geändert hat. Der Informationsfluss ist heute besser als in den 1970er-, 1980er-Jahren."

Die Mutter macht sich immer noch Selbstvorwürfe

(André Sommer:) "Ich wurde 1976 geboren und ich hatte eine Blasenextrophie bei der Geburt. Das heißt, die Blase, die eigentlich innerlich liegt, war außen am Körper. Das musste in bis heute 15 OPs rekonstruiert werden und ich habe einen künstlichen Ausgang. Mittlerweile geht es mir soweit gut aber ich habe das mein ganzes Leben lang und ich werde auch wieder Folge-OPs haben.
40 bin ich jetzt und es wird nicht besser werden mit der Zeit. Ich muss oft zum Arzt und ich muss mir jeden zweiten Tag einen Beutel selber hinmachen. Ich habe Probleme, wenn ich irgendwo hingehe, dass der vielleicht brechen könnte. Also, es könnte besser sein."
André Sommer sitzt auf einer Bank am Attlesee im Allgäu. Die Sonne spiegelt sich im klaren Wasser, am Horizont ragen die Alpen in den Himmel. Trotz seiner schweren Behinderungen, versucht André Sommer ein ganz normales Leben zu führen: Er hat zuerst Betriebswirtschaft, dann auf Lehramt studiert. Als Grundschullehrer arbeitet er in seinem Traumberuf.
André Sommer lebt mit Frau und zwei Kindern in dem kleinen Ort Pfronten, wo seine Familie seit Generationen verwurzelt ist. Noch nie gab es Fälle von Missbildungen in seiner Familie - bis er geboren wurde. Auch seine Mutter hatte von ihrem Hausarzt zwei Duogynontabletten als Schwangerschaftstest verabreicht bekommen.
"Meine Mutter hat sich immer Vorwürfe gemacht, dass sie ein behindertes Kind hat, das mit den Sorgen aufwächst. Auch die Sorge um die Zukunft: was wird aus dem Kind, was passiert mit ihm? Warum habe ich die Tablette genommen? War die Tablette schuld? Habe ich schuld, dass mein Kind ständig operiert wird, dass es vielleicht nicht älter wie zehn Jahre wird, weil man mich am Anfang sehr oft operiert hat, war es äußerst knapp manchmal."

Erste Klage wurde Ende der 70er-Jahre abgewiesen

Ende der siebziger Jahre erstatteten mehrere Eltern mit missgebildeten Babys gegen Schering Strafanzeige wegen Körperverletzung. Auch André Sommers Eltern waren dabei. Im Dezember 1980 wurden die Ermittlungen eingestellt, da sich angeblich kein Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und den Missbildungen herstellen ließ. 30 Jahre lang tat sich wenig. Vor gut sieben Jahren nahm André Sommer den Kampf wieder auf:
"Wir haben in den Jahren 2009/2010 angefangen, uns erst mal außergerichtlich an Bayer zu wenden, haben angefragt, ob es Unterlagen gibt, die man einsehen könnte und ob sie wüssten, dass es damals zu Behinderungen kam. Die haben dann gesagt, nein, es gibt keinen Zusammenhang und keine Studien. Erst danach haben wir auf Auskunft geklagt.
Das war nach dem neuen Patientenrecht möglich, dass, wenn ich den Verdacht habe, dass mit dem Medikament etwas nicht stimmt, dass ich dann Auskunft vom Hersteller verlangen darf. Aber da Bayer die Einrede der Verjährung benutzt hat, also diese 30 Jahre Frist, war das dann nicht möglich."
Anwalt Heynemann hat André Sommer in dem Prozess vertreten.
"Es geht den Leuten ja nicht um Geld, sondern um Aufklärung. Sie wollen wissen: war es das, hat das zu meiner Schädigung geführt? Da habe ich gehofft, dass man die 30-jährige Verjährungsfrist umschiffen kann. Das haben die Gerichte anders gesehen. Und die Gerichte haben auch gesagt: 'leider'. Es war so, dass uns sehr viel Sympathie seitens der Gerichte entgegengeschlagen ist, aber sie meinten, rechtlich sei es so, dass man nicht drum herum kommt. Darum ist es daran gescheitert."
Der Kläger Andre Sommer (r) steht am Dienstag (30.11.2010) im Landgericht in Berlin neben seinem Anwalt Jörg Heynemann im Gerichtssaal und wartet auf den Prozessbeginn. Sommers Mutter benutzte Dougynon 1975 als Schwangerschaftstest. Andre Sommer wurde 1976 mit einer Blasenextrophie geboren.
André Sommer (M.) mit seinen Anwälten Jörg Heynemann und Annika Zumbansen am 30.11.2010 im Berliner Landgericht.© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Die Verjährung wird jedoch nicht vom Gericht festgestellt. Sie findet nur dann Anwendung, wenn der Beklagte, in diesem Fall Bayer, sie geltend macht – also selbst die Verjährungskarte zieht.
"Wir hatten damals Bayer darum gebeten, diese Einrede nicht zu erheben, weil Bayer hat ja immer argumentiert, nein, das ist alles aufgeklärt, es hat nicht zu diesen Schädigungen geführt, das ist eindeutig nachgewiesen und bewiesen. Da haben wir gesagt, na gut, dann kann man das Ganze doch gerichtlich prüfen lassen. Ihr braucht nur nicht die Einrede der Verjährung zu erheben, dann wird das Ganze gutachterlich im Rahmen eines Rechtsstreits überprüft. Da hat Bayer wohl der Mut verlassen und sie haben den Rettungsanker der Verjährung gesucht und haben sich nicht in diese Auseinandersetzung begeben, was sehr schade, aber auch sehr bezeichnend ist."

Auch in Großbritannien gab es Fälle von Missbildung

In Großbritannien war der Schwangerschaftstest von Schering Chemicals Limited, dem britischen Tochterunternehmen, zur selben Zeit unter dem Namen "Primodos" auf dem Markt.
"Meine Tochter Sarah wurde geboren, und ihr linker Arm reichte nur bis zum Ellbogen. Anstelle eines Unterarms und einer Hand hatte sie nur ganz kleine Finger, die aus dem Ellbogen wuchsen. Als sie 13 Monate war, mussten sie amputiert werden. Das war sehr dramatisch, weil sie noch ein Baby war und sich so einer großen OP unterziehen lassen musste."
Marie Lyon ist 69 Jahre alt. Sie lebt in der Nähe von Manchester. 1970 brachte sie ihre behinderte Tochter Sarah zur Welt. In diesem Jahr wurde Primodos in Großbritannien von der Gesundheitsbehörde als Schwangerschaftstest verboten. Denn zahlreiche Studien und Tierversuche hatten einen Zusammenhang zwischen der Einnahme des Mittels und den missgebildeten Kindern ergeben. In Deutschland hingegen geschah nichts, trotz eindringlicher Warnungen der britischen Tochterfirma.
Auch in Großbritannien schlossen sich damals betroffene Frauen zusammen, gründeten einen Verein und zogen vor Gericht. Das war Anfang der 1980er-Jahre.
"Im letzten Moment musste der Prozess eingestellt werden, da einige Wissenschaftler, mit denen wir bis dahin sehr gut zusammen gearbeitet hatten, plötzlich nicht mehr aussagen wollten."

Hoffen auf die britische Untersuchungskommission

Daraufhin löste sich der Verein auf. Vor fünf Jahren, als neue Informationen über Primodos ans Licht kamen, belebten die Betroffenen den Verein wieder. Seit dreieinhalb Jahren ist Marie Lyon die Vorsitzende. Aufgrund einer Gesetzesänderung wurde ihr Anfang 2015 Akteneinsicht in die auf Primodos bezogenen Unterlagen gewährt.
"Ich habe im Nationalarchiv von Großbritannien herausgefunden, dass die britische Gesundheitsbehörde daran beteiligt war, Beweise bezüglich Primodos zurückzuhalten. Dann habe ich André Sommer kontaktiert, der zu den Aktivisten in Deutschland gehört, und habe ihn gefragt, ob er auch Zugang zu den deutschen Archiven bekommen könnte. Er hat erreicht, dass wir beide ins Landesarchiv gehen konnten. Dort haben wir 7.000 Dokumente gefunden, die im Prinzip darüber Auskunft geben, was geschah, als Primodos und Duogynon auf dem Markt waren, und wie versucht wurde, die Informationen, die sie über Zusammenhänge mit Behinderungen hatten, zu vertuschen."
Diese Informationen führten inzwischen in Großbritannien dazu, dass sich das Parlament mit dem Fall beschäftigt. Seit Oktober 2015 lässt ein Untersuchungsausschuss medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über Primodos überprüfen. Dass es den Ausschuss gibt, ist auch Marie Lyon zu verdanken. Sie schrieb Petitionen, stellte Anträge und wartete teilweise stundenlang vor den Büros britischer Parlamentarier, um persönlich mit ihnen über ihr Anliegen zu sprechen.
"Ich hoffe, dass die Untersuchung ergeben wird, dass es einen Zusammenhang gibt, und dass sich dann auch die deutsche Regierung für die Rechte der Opfer einsetzt."
(Jörg Heynemann:) "Wenn es dort Erfolg hat, also Bayer zur Verantwortung gezogen werden kann, weil die englische Regierung sagt, hier hat der Konzern etwas falsch gemacht, ihr müsst haften, dann können die hier nicht sagen, es ist verjährt. Diesem Druck würden sie dann nicht mehr standhalten."
Die Bayer AG lehnt ein Interview zu diesem Thema ab. Stattdessen mailt die Kommunikationsabteilung des Pharmakonzerns eine schriftliche Stellungnahme. Hier ein Auszug daraus:
"In dieser Sache hat sich der Sachstand aus unserer Sicht durch die neuerliche Untersuchung in England nicht verändert. Der Gesundheitsminister in Großbritannien hat ein Expertengremium, das von der Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency unterstützt wird, mit der Überprüfung der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über einen Zusammenhang der Einnahme von Primodos sowie vergleichbaren Produkten und den seinerzeit diskutierten embryonalen Missbildungen beauftragt. (...) Bayer steht mit der Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency hierzu in Kontakt. Bayer schließt Primodos nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildungen aus."
Desweiteren verweist Bayer darauf, dass es bereits umfangreiche Untersuchungen und Gutachten gab, die keinen Zusammenhang zwischen dem Schwangerschaftstest und den Missbildungen erbrachten. Doch wie sind die Gutachten zustande gekommen?

Reihenweise seien Wissenschaftler bestochen worden

Pfingsten 2015 wird André Sommer im Landesarchiv Berlin endlich Akteneinsicht gewährt. Dort liegen mehr als 7.000 Seiten mit vertraulicher Korrespondenz und Firmenpapieren des einst mächtigen Berliner Pharmakonzerns Schering aus den sechziger und siebziger Jahren. Sie lassen vermuten, wie die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse zustande gekommen sind.
"Eigentlich bin ich mit null Erwartung hingefahren und dachte, ok, dann schaue ich mir das Archiv mal an und fahre dann zwei Tage später wieder heim. Aber es waren eine Unmenge an Akten mit brisanten Sachen. Es gab beispielsweise einen Wissenschaftler, der einen Bericht über Duogynon geschrieben hat. Er hat ihn vor der Veröffentlichung bei Bayer eingereicht und gefragt: was soll ich noch ändern, stimmen die Tabellen, war das alles so ok? Sonst sollten sie bitte noch Wünsche anmelden. Es gab einen anderen Wissenschaftler, dem angeboten wurde, die Kosten seiner Forschung in den nächsten Jahren zu übernehmen, weil sie so zufrieden waren mit ihm."
(Jörg Heynemann:) "Das war auf der einen Seite eine Fundgrube und auf der anderen abschreckend, was man da gelesen hat. Man kennt das ja aus schlechten Krimis, wo man sagt, die böse Pharmaindustrie, der arme Arzneimittelverbraucher, mit Geld erreichen sie alles. Man denkt, in Wirklichkeit läuft das viel seriöser ab. Da habe ich gelernt, dass das nicht der Fall ist, dass da reihenweise Wissenschaftler und in England auch Abgeordnete bestochen wurden, um zu einer Unschädlichkeit von Duogynon zu kommen."
Jörg Heynemann kennt sich nicht nur als Anwalt, sondern auch als studierter Pharmazeut sehr gut mit den Zulassungsbedingungen für Arzneimittel aus.
"Heute hätte so ein Mittel bei so einer Studienlage überhaupt keine Chance, überhaupt in ein Zulassungsverfahren zu kommen. Es ist so offensichtlich, dass das schädigend wirkt, es hätte nicht mal die erste Stufe erreicht. Es würde den Sicherheitsstandards nicht im Geringsten entsprechen. Dass man da als Pharmakonzern nicht sagt, jetzt leben noch 1000 Menschen und die haben teilweise ein schweres Schicksal, dann beteiligen wir uns an irgendeiner Regelung. Ich verstehe es nicht. Das würde sich sicher positiv auswirken. Aber sie sind absolut stur."

Die Ansprüch sind verjährt, sagen deutsche Gerichte

Die Antworten auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken an die Bundesregierung Anfang 2016 fielen eher enttäuschend aus. Ein Beispiel:
"Sind der Bundesregierung Klagen von Betroffenen darüber bekannt, dass ihnen von der Schering AG bzw. Bayer Pharma AG stets Einsichtnahme verweigert wurde und sie somit nur sehr aufwendig überhaupt an Unterlagen gelangen, die zur Klarheit beitragen können?"
"Es sind der Bundesregierung in diesem Zusammenhang Anfragen einzelner Bürgerinnen und Bürger bekannt, die sich auch zu dieser Thematik eingelassen haben. Zudem ist der Bundesregierung bekannt, dass in verschiedenen Klageverfahren ein Auskunftsanspruch als unbegründet abgewiesen wurde (s. LG Berlin, Urteil vom 11. Januar 2011, Az. 7 O 271/10 und LG Berlin, Urteil vom 5. Juli 2012, Az. 1 O 60/11)."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Ein Duogynon-Opfer am 30.11.2010 im Berliner Landgericht © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
(Jörg Heynemann:) "In einem Fall hat der Richter gesagt, also, ihr müsst da was machen, weil der Zusammenhang ist überdeutlich. Aber ich muss die Klage leider abweisen, weil die Ansprüche verjährt sind. Also, es ist nur aufgrund der Verjährung gescheitert und nicht wegen eines fehlenden Zusammenhangs zwischen diesen Behinderungsbildern und der Duogynoneinnahme der Mütter."

Den Bayer-Vorstand mit der Kritik konfrontieren

"Meine sehr verehrten Damen und Herren. Als Vorsitzender des Aufsichtsrats der Bayer AG und damit Versammlungsleiter eröffne ich die diesjährige ordentliche Hauptversammlung unserer Gesellschaft."
Zurück zur Messehalle 9 in Köln Deutz. Während Werner Wenning die Hauptversammlung im Saal eröffnet, lassen es sich viele der Aktionäre - die meisten sind zugleich Pensionäre - erst einmal schmecken. Zum Frühstück gibt es an zahlreichen Ständen in der weitläufigen Messehalle Bananen und Laugengebäck. Die Reden aus dem Versammlungssaal können sie trotzdem hören. Sie werden in der gesamten Halle übertragen, selbst auf der Toilette entkommt man ihnen nicht.
Auch die Demonstranten, die eben noch mit Transparenten gegen Bayerprodukte vor der Halle standen, sind jetzt drin. Sie werden von der Coordination von Bayer-Gefahren, kurz CBG, vertreten, die selbst Aktien besitzt.
(Philipp Mimkes:) "Mehrere 100 Aktionäre übertragen uns ihre Stimmrechte, weil sie mit der Geschäftspolitik des Konzerns nicht einverstanden sind. Es ist Teil unserer Kampagnen, mit dieser Kritik auch hier den Vorstand mit den Negativpunkten zu konfrontieren."
Seit über 20 Jahren vertritt Philipp Mimkes die Interessen von Bayer-Geschädigten.
"Im Pharmabereich gibt es natürlich viele gefährliche Produkte. Aktuell warnen wir vor den neuen Gerinnungshemmern. Die sind unserer Meinung nach in den Markt gedrückt worden und haben viele Risiken. Eine Vielzahl von anderen Produkten wie... Gegenwärtig kommt es auch zu erhöhten Nebenwirkungen bei Antibabypillen. Und das ist nur der Pharmabereich. Wenn man den Pestizidbereich bedenkt, der ist natürlich nicht besser."

Die kritischen Aktionäre müssen bis zum Schluss warten

Ende 2015 waren etwa 300.000 Aktionäre im Bayer-Aktienregister eingetragen. Etwa 3.000 von ihnen sind zur Hauptversammlung nach Köln gekommen. Es sind vor allem Kleinaktionäre. Die wenigen Großaktionäre, die etwa 90 Prozent des Kapitals und damit des Konzerns besitzen, fehlen. Sie haben schon alles per Telefon- oder Videokonferenz mit dem Vorstand geregelt. Mit ihren Milliarden besitzen sie die absolute Mehrheit aller Stimmen und haben damit die Vorstände und Aufsichtsräte sowie die Entscheidungen im Konzern sicher im Griff.
(Marijn Dekkers:) "Der Umsatz des Konzerns erhöhte sich auf 46,3 Milliarden Euro. Und wenn wir Änderungen der Wechselkurse und Portfolio berücksichtigen, betrug der Zuwachs 2,7 Prozent."
Der scheidende Vorstandsvorsitzende, Dr. Marijn Dekkers, berichtet über Rekord-Umsätze, Rekord-Gewinne, Rekord-Dividenden. Die Amtszeit des gebürtigen Holländers dauert nur sechs Jahre. Er tritt noch in diesem Jahr aus persönlichen Gründen zurück – seine Tochter möchte in Florida studieren.
"Nicht nur beim Umsatz hat Bayer 2015 Rekordwerte erzielt. Sehr erfreulich hat sich auch der Gewinn entwickelt."
Nach der Rede des Vorstandsvorsitzenden und drei kurzen Werbefilmen für Bayerprodukte, beginnt so gegen 13.00 Uhr die Redezeit der kritischen Aktionäre, die von der Coordination gegen Bayer-Gefahren unterstützt werden. Spätestens wenn sie ans Mikrofon treten ist Schluss mit Hochglanzfilmchen, Umsatz-, Gewinn- und Profitjubel. Dann geht’s zur Sache: Imker sprechen über die Verantwortung von Bayer für das Sterben von Bienen. Die Männerdominanz im Konzern wird angeprangert. Aktuelle gentechnische Vorhaben werden kritisch hinterfragt. Mütter und Väter von jungen Frauen, die durch die Einnahme einer Antibabypille an Lungenembolie gestorben sind, klagen den Pharmakonzern an und fordern ihn auf, endlich Verantwortung zu übernehmen.

Wenig Interesse bei den Kleinaktionären

Je weiter die Zeit voranschreitet, umso schneller leert sich der Saal. Nach Würstchen und Buletten zum Mittagessen und Streuselkuchen zum Kaffee hält die meisten Kleinaktionäre hier nichts mehr. Ob es Kalkül ist, die kritischsten Redebeiträge ans Ende zu setzen? André Sommer jedenfalls macht diese Erfahrung nun bereits zum sechsten Mal. Er ist unter den letzten fünf Rednern. Der Saal ist fast leer.
André Sommer: "Ich möchte Sie nun bitten, endlich auf uns zuzugehen und Gespräche mit uns zu führen. Lassen Sie uns dann endlich den Fall beenden. Dankeschön."
Vorstandsvorsitzender Dekkers sammelt immer erst ein paar Fragen, bevor er darauf antwortet.
"Herr Sommer, Sie haben nach einer Untersuchung in Großbritannien im Zusammenhang mit Primodos/Duogynon gefragt. (...) Bayer steht mit Medicin ... Agency in Kontakt. Bayer schließt aber nach wie vor Primodos als Ursache embryonaler Missbildungen aus. Es wurden bereits in den sechziger und siebziger Jahren von namhaften Wissenschaftlern in Deutschland, Frankreich, England und Amerika Untersuchungen durchgeführt, ohne dass es Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Primodos und den Fällen gab."
(André Sommer:) "Wir haben jetzt sechs Stunden warten müssen, bis wir endlich dran kamen, und dann darf ich fünf Minuten reden. Das ist schon immer sehr ernüchternd. Aber besonders ernüchternd sind eigentlich dann die Antworten, die man bekommt. Weil das die vorgefertigten Antworten sind, die man immer bekommt. Egal was für eine Frage ich stelle, es sind immer die gleichen Antworten. Sechs Jahre lang. Das ist deprimierend und einfach auch schwach vom Bayer-Konzern, dass sie sich überhaupt nicht bewegen."
Ob die Bayer AG sich doch mit André Sommer und den anderen Betroffenen auseinandersetzen muss, hängt nicht zuletzt von den Ergebnissen der britischen Untersuchungskommission im Fall Duogynon/Primodos ab.
"Duogynonopfer klagen an! Wir sind nicht verjährt!"
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