Paul Celan: "Die Gedichte"

Neues Wissen erleichtert die Interpretationen

Der Lyriker Paul Celan mit dem Cover "Die Gedichte", einer neu kommentierten Gesamtausgabe.
Der Lyriker Paul Celan mit dem Cover "Die Gedichte", einer neu kommentierten Gesamtausgabe. © Suhrkamp Verlag / picture alliance / dpa
Von Helmut Böttiger · 14.07.2018
Paul Celans Familie hat Barbara Wiedemann schon früh damit beauftragt, den Nachlass des Lyrikers auszuwerten. Den ersten Kommentarband zu Celans Gedichten kam 2003 heraus, nun erscheint eine neu kommentierte Gesamtausgabe - mit neuen Erkenntnissen.
Paul Celan (1920-1970) ist der am meisten interpretierte Lyriker der letzten Jahrzehnte. Er gilt als "hermetisch", als schwer verständlich, andererseits hat er mit der frühen "Todesfuge" das berühmteste Gedicht deutscher Sprache im 20. Jahrhundert geschrieben. Vielerorts hat man ihn mit diesem Gedicht gleichgesetzt und ihn zum Lyriker des deutschen Massenmords an den Juden gemacht, ihn als Opfer, Heiligen und Märtyrer gleichermaßen stilisiert – was ihm selbst keineswegs behagte.
Bei keinem anderen Dichter seit 1945 wäre vorstellbar, ihm eine vergleichbare "kommentierte Gesamtausgabe" zu widmen: jedes einzelne Gedicht Celans wird mit Anmerkungen versehen, die in vielen Fällen nicht sofort durchschaubare Worte in ihrer konkreten Herkunft erklären – so, wenn der oft spezifisch geologische Hintergrund von Celans Bildern erläutert wird: "Tischfelsen" etwa oder "Büßerschnee".

Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann

Ein erster Kommentarband der Herausgeberin Barbara Wiedemann kam 2003 heraus. Seitdem sind viele neue Quellen erschlossen worden, 58 Gedichte sind hinzugekommen, vor allem aber sind inzwischen die zentralen Briefwechsel Celans sowie persönliche Erinnerungen erschienen.
Das 2010 veröffentlichte Buch von Brigitta Eisenreich etwa, einer langjährigen geheimen Geliebten Celans, machte auf ungeahnte Weise Gedichte wie "Schuttkahn" in ihrem Entstehungsprozess durchsichtig: es war ihr Wort für die flachen großen Kähne auf der Seine, die man von ihrem Fenster aus sehen konnte.
Und Celans Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann klärte die Umstände, die zum Gedicht "Köln, Am Hof" führten: es thematisiert die ungestüme Liebesnacht bei der zufälligen Wiederbegegnung der beiden Lyriker nach einer langen Trennung. Die Größe dieses Gedichts besteht allerdings darin, dass es nichts mit plumpen sexuellen Anspielungen zu tun hat, auf die es jetzt manchmal reduziert wird. Darauf legt der Kommentar der Herausgeberin Wert.

Ein radikalisiertes Freund-Feind-Denken

Wo Wiedemann sich auf die genaue Textgenese, auf konkrete Fakten wie Wörterbücher und Notizen Celans beschränkt, ist ihr Kommentar äußerst hilfreich. Allerdings greift sie auch darüber hinaus, und diese subjektiven Wertungen sind bei ihr (so in ihrer Fehleinschätzung von Celans Beziehung zu dem durch den Nationalsozialismus kompromittierten Rolf Schroers) seit jeher manchmal fragwürdig.
Wiedemann, Privatdozentin in Tübingen, bekam von der Familie Celans schon früh den Auftrag, den Celan-Nachlass für den deutschsprachigen Raum auszuwerten, und wie sie dieses Privileg nutzt, ist nicht unumstritten geblieben. Manchmal würde man gern genauer wissen, wem sie bestimmte Erkenntnisse verdankt, und manchmal wird ein jenseits üblicher akademischer Zitierkartelle noch radikalisiertes Freund-Feind-Denken erkennbar.
Trotzdem ist dieser Kommentarband, nicht zuletzt durch die vielen Verweise auf die jeweils aktuelle Zeitungslektüre Celans und die auffällig akribischen Archivrecherchen, auf jeden Fall von praktischem Nutzen.

Paul Celan: Die Gedichte
Neue kommentierte Gesamtausgabe
Hrsg. von Barbara Wiedemann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
1261 Seiten, 78 Euro

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