Pascal Dusapins "Penthesilea"

Geschlechterkampf auf höchstem Niveau

Die Oper in Brüssel bei einer Premiere am 24.Oktober 2014.
Die Oper in Brüssel mit Blick in den Orchestergraben. © Imago/Belga
Von Frieder Reininghaus · 31.03.2015
"Penthesilea" als Oper: Mit kunstfertiger Musik hat der französische Komponist Pascal Dusapin den Amazonas-Mythos versehen. Die Weltpremiere in Brüssel war ein großartiger Opernabend, auch wenn die Regie von Pierre Audi nicht wirklich aufgeht.
"Niobé", 1983 komponiert, war Fingerübung für eine Kammeroper. Inzwischen hat der 1955 in Nancy geborene Pascal Dusapin sechs veritable Bühnenwerke vorgelegt. Zuletzt machte das Staatstheater Mainz auch hierzulande auf ihn aufmerksam: Lydia Steier inszenierte erstmals "Perelà – uomo del fumo" (2003) – ein Werk, das auf Aldo Palazzeschis surrealistischem Roman von 1911 basiert. Der wollte einst eine Schneise des Neuen in den Literaturbetrieb schlagen. Ähnliches lässt sich hinsichtlich Heinrich von Kleists "Penthesilea" verfechten.
Uralter Menschheitsmythos
Dieses Drama ist ja nicht nur, wie die DeutschlehrerInnen zu erklären nicht müde werden, die Verhandlung des Konflikts zwischen einem "stark fühlenden Individuum" – einer auf Selbstverwirklichung eingestimmten Amazonen-Königin – und einer gesellschaftlichen Ordnung, die dem "natürlichen Empfinden in unnatürlicher Weise entgegensteht". Sondern es verweist mit einem der ältesten Mythen der Menschheit auf die Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat: auf fundamentale Unvereinbarkeit von weiblichen und männlichen Interessen. Bei der Penthesilea-Episode im Leben des halbgöttlichen Achilles handelt es sich um eine jener Geschichten, an deren Ende sich diagnostizieren lässt: einfach dumm gelaufen ...
Kleist brachte 1808 einen hypertrophen Text zu Papier, in dem das Martialische und Militaristische der Entstehungszeit nicht nur als Beschwörung des "Heiligen Kriegs" und des "heilig Kriegerischen" nachhallt; es kann einem vorkommen, als wäre der Autor mit neuerer Borderline-Diagnostik vertraut gewesen. Der Komponist bearbeitete das Drama (zusammen mit Beate Haekl) zum Libretto, indem er einkürzte und zugleich um Satzteile in heutiger Alltagssprache erweiterte ("Verdammter Krieg" / "Kämpft ihr nur wie Weicheier?" / "Du Hornisse in Kriegsmontur!"). Es ist eine grundordentliche Sprache, die den KämpferInnen da in die Münder gelegt wird; in aktuellen Kriegsfilmen sprechen die Militärs eine grobkörnigere Prosa. Für die Staatsopernzwecke bekam die Brutalaggression weiße Krägelchen und Manschetten verpasst.
Was es mit Penthesilea auf sich hat, sollten die OperngängerInnen wissen, wenn sie jetzt ins Théâtre de la Monnaie gehen: Die sagenumwobenen Amazonen, so die "Ilias" von Homer, hätten die Gewohnheit gehabt, zum Zweck der Reproduktion ihres Frauenbataillons bei wechselnden Nachbarhorden oder -völkern Männer zu erbeuten. Die strammen Jungs wurden in Zweikämpfen besieget, gedemütigt und zum Beischlaf veranlasst, nach erfolgreicher Paarung vom Acker gejagt; die aus dem Vergnügen entsprungenen Knaben brachten die Amazonen um, die Mädchen erzogen sie zu Kriegerinnen (eine grenzwertige Form der Damenwahl ...). Nach heutiger internationaler Sprachregelung handelte es sich um "Terroristinnen", die sich unvorhergesehen in ordentliche (Bürger-)Kriege einmischten – wie heute die Männer vom IS oder Boko Haram.
Versuchsanordnung geht nicht auf
Penthesilea, in den Regularien der Amazonen befangen und doch stark in sich selbst hineinhorchend (daher nur bedingt berechenbar), hat von Ruhm, Männlichkeit und Schönheit des Halbgottes Achilles gehört und will sich ihn nach dem von ihr weiter nicht hinterfragten Brauch aneignen. Doch die Versuchsanordnung klappt nicht, da sie zunächst dem Achäer-Helden unterliegt (was nicht vorgesehen ist) und Achill sich in sie auf seine moderne männliche Weise verliebt. Der Rest ist schrecklich – die ihrer Selbsttäuschung gewahr werdende Königin zerfleischt mit ihren Waffen und Hunden den, mit dem sie doch nur spielen wollte. Es handelt sich bei Dusapins neuer Arbeit mithin um eine Oper, die Züge eines Lustspiels annehmen könnte. Hätte sie vielleicht auch, wenn (wie zunächst vorgesehen) Katie Mitchell inszeniert hätte. Die britische Regisseurin tut dies bei der Verhandlung von Paarbeziehungen gegebenenfalls auch mit der Kettensäge. Doch sie warf das Handtuch. An ihrer Stelle wurde Pierre Audi tätig, der inzwischen ziemlich ubiquitäre Direktor der Niederländischen Nationaloper und einer der ältesten Pharaonen des europäischen Musiktheaterbetriebs. Er pflegt seit drei Jahrzehnten mit seiner Art der Mythen-Zelebration Langeweile zu verbreiten.
So auch jetzt: Die Kostümierung der Amazonen, Achäer und Lemuren verzichtete – ebenso wie die Möblierung – im vorwaltend dunklen Raum auf militärische Attribute – und Video-Einblendungen spendeten den Trost schöner Naturbilder. Blankgeputzte Metallschilde mochten entfernt an antikes Belagerungsgerät erinnern. Der (weiter nicht genutzte) Garderobenständer mit vielen langen Roben hatte lediglich dekorative Funktion im St. Niemandsland. Von Anfang an sind niedrige Lafetten zu sehen; auf ihnen werden gegen Ende Rindshäute gestapelt. Womöglich sollte das eine Chiffre sein für die Menschen, die in den unzähligen "bewaffneten Konflikten" seit der Bronzezeit geschunden und getötet wurden – ihre Namen und Zahl geht auf keine Kuhhaut.
Dusapins kunstfertige Musik verdient eine entschiedene Inszenierung – zum Beispiel eine Regie, die dem Geschlechterkampf nachsetzt und/oder die Funktion der heute im Namen der Freiheit tätigen Pilotinnen, Drohnenlenkerinnen und Scharfschützinnen erhellt. Die Partitur entwickelt mit zurückhaltendem Streichereinsatz einen Grundstrom verschiedener Helligkeitsgrade, in den (wohldosiert) scharfe Schlagwerk-Akzente implantiert wurden und aus dem sich die sechs gegeneinander ziemlich deutlich abgesetzten Solostimmen erheben. Die Chorgesänge erinnern an ältere Modelle der Gattung, die Kampfgetümmel-Blöcke des von Franck Ollu zielführend gesteuerten Orchesters entwickeln kraftvoll den Sound des Barbarischen. Nein, die Männer und Frauen kämpfen da im Graben nicht "wie Weicheier".
Großartige Titelpartie von Natascha Petrinsky
Werner von Mechelen als der mit militärischem Normalverstand begabte Odysseus kann seinen ziemlich besten Freund Achill nicht vom Wahnsinnstrip zu einer mit Penthesilea erhofften Liebesnacht abbringen. Der österreichische Heldenbariton Georg Nigl verleiht dem Superhelden großes Format, Marisol Montalvo der Prothoe als treuer Wegbegleiterin Anmut und Einfühlungsvermögen. Wiewohl das Attribut "großartig" nur mit höchster Sparsamkeit verwendet werden soll: Hinsichtlich der Darstellung von Frauenpower, Selbstverwirklichungsdrang und tragischer Selbsttäuschung der Titelpartie durch Natascha Petrinsky sollte es akzeptiert werden. Brüssel erlebte einen großen Operabend. Jetzt fehlt Dusapins "Penthesilea" nur noch eine Inszenierung von Belang.
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