Party im Theaterkombinat

Von Eberhard Spreng · 03.02.2008
Das Hebbeltheater in Berlin kann mittlerweile auf eine lange Geschichte zurückblicken. Aber anstatt die Tradition hochzuhalten, pflegt man an den drei Spielstätten einen sehr progressiven Stil. Das wurde auch beim Fest zum 100-jährigen Bestehen deutlich.
Der türkische Rapper Ceza schleudert in unvergleichlichem Stakkato seine Texte ins Publikum des HAU 2. Die Fans schwenken im Rhythmus ihre rechten Hände und richten mit der linken ihre Videohandys auf den Star. Ganz im Sinne des unter Matthias Lilienthal dem Cross-Over von E-und U-Kultur gewidmeten Theaterkombinats von HAU 1, 2 und 3, eröffnet auch der Jubiläumsabend verschiedene kulturelle Angebote für die verschiedenen Publikumsgruppen. Als Kreuzberger Theaterverbund fühlt sich das HAU daher naturgemäß auch einer Bevölkerungsgruppe verpflichtet, für die es in der Berliner Hochkultur ansonsten kaum Räume gibt. Wer aber bei seiner Wanderung zwischen den Häusern später dann doch noch einmal zum HAU 1 zurückkehrte, also zum eigentlichen Hebbeltheater, der machte dort eine Theatererfahrung der besonderen Art.

Das gesamte Theaterpublikum singt Karaoke in Begleitung eines großen Sinfonieorchesters, das auf der Bühne des Hebbeltheaters neben anderen Songs "Ruby Tuesday" spielt. Eine in Theatern seltene Fêtenstimmung, irgendwo zwischen Fußball und Gottesdienst, steht am Ende des Abends und scheint damit ein Thema zu illustrieren, das leitmotivisch über der gesamten Veranstaltung zu liegen schien: Wie schlägt das private Gefühl in ein gesellschaftliches Erleben um. Und das passt in die zugleich intime und öffentliche Architektur des Hauses.

HAU-Chef Matthias Lilienthal erkennt trotz der gewaltigen Veränderungen, die das Haus in seiner Geschichte erfahren hatte, eine Verbindung zwischen dem Gründungsimpuls vor hundert Jahren und einer Uraufführung, der Performance "100 Prozent Berlin" von Rimini-Protokoll, die jetzt aus diesem Anlass entstand.

"Damals hat Eugen Robert dieses Theater gebaut und er wollte eigentlich Dramaturg werden und es hat ihn niemand gewollt und daraufhin hat er gesagt: Ich bau mir mein eigenes Haus und so macht das Rimini im Grunde auch. Sie stellen ihre eigenen Anträge und sie nehmen sich die 100 Berliner als Darsteller und machen dann ihre eigene Performance und in so fern finde ich, dass das eine Geburtstagsfeier aus diesem Geiste ist."

Menschen aus ihrem unscheinbaren Alltag, einer zutiefst untheatralischen und für Medien unbedeutenden Wirklichkeit auf die Bühne zu holen, macht sich die Gruppe Rimini-Protokoll zur Aufgabe. Ihr "100 %" Berlin will, wenn nicht gerade Gemeinschaft, so doch die statistisch erfassbare Masse und ihre jeweiligen Teilmengen sinnfällig vor Augen führen, indem 100 Berliner Bürger nach eben jenen Regeln auf dem Rund der Drehbühne versammelt werden, die für den sogenannten "Micro-Zensus" gelten, die repräsentative Stichprobe aus der Berliner Gesellschaft von Marzahn bis Zehlendorf, vom alten Rentner bis zum Neu-Geborenen. Nicht Rimini-Protokoll hat die Teilnehmer ermittelt, sondern ein erster schlug einen ihm Nahestehenden vor, der in das für die Statistik erforderliche Kriterien-Raster fällt, der einen anderen und so weiter.

In die statistische Kühle mischt sich hier Verbundenheit, also so etwas wie der Nukleus gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit, der an diesem Abend so sehr im Vordergrund stand. Eine Menschenkette bildet sich zuerst am Rand der Drehbühne, dann verteilt sie sich zu einer Menge, bis diese kleine Berliner Gesellschaft in sich immer neu gruppierende Teilmengen zerfällt, sobald Fragen gestellt werden: Wer trägt ein Geheimnis mit sich herum? Eine große Mehrheit. Wer ist nach 1989 von Ostberlin nach Westberlin gezogen? Erstaunlich wenige. Wer war schon mal verhaftet? Geradezu aufregend viele. Wer ist in einer Partei? Fast keiner.

Nicht nur für den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, der den Abend mit seiner Ansprache eröffnet hatte, dürfte "100% Berlin" verblüffende Erkenntnisse offenbaren: Diese Gesellschaft da unten auf der Bühne hat mit all dem, was Politiker für die Gesellschaft da draußen halten, nichts zu tun, und die Interessen und Bedürfnisse der Menschen wenig mit dem, was in den Medien verbreitet wird. Erregungszustände, recht eigentlich eine Domäne des Theaters, der Politik und der Medien sind hier nicht zu haben, im Gegenteil: Plötzlich schaut eine Berliner Gesellschaft im Publikum ihrem Double auf der Bühne ins Auge und entdeckt verblüfft und in der Regel erheitert: Auf fast keine Frage gibt es die vermuteten Antworten.

Aber deutlich wird auch, dass sich Erkenntnisse aus diesen Befragungen nur äußerst schwer in politische Ziele umgießen lassen. Die Gesellschaft driftet immer mehr auseinander, in ständig sich neu formierenden privaten Räumen, Bedürfnissen, Gewohnheiten. Solchen Prozesse zwischen Beirut und Berlin, Buenos Aires und Peking nachzuspüren hat sich das HAU seit vier Jahren zur Aufgabe gemacht.

"Ich denke, dass wir ein Thema wie Migration natürlich fortsetzen; ich denke, dass wir uns für neue Themen interessieren. Zum Beispiel liegt mir ein Thema am Herzen wie zum Beispiel zu fragen, wie verändert sich die Wirklichkeit auch in der Kultur- und Medienszene? Das ist die einzige Industrie, die diese Stadt hat und welche neuen ästhetischen und medialen Spielereien gibt es da aber auch die Frage, wie viele Menschen arbeiten in diesem Bereich ohne feste Verträge und wie sieht deren Lebenswirklichkeit, deren Ethik, deren Verhalten, aber auch deren künftig nötige soziale Absicherung aus. Zu solchen Fragen werden wir uns versuchen zu äußern und wenn es ein neues Thema gibt, versuchen wir uns zu beeilen und damit umzugehen."

Das Programmbündel, zu dem "100 Prozent" der Gruppe Riminiprotokoll ebenso gehörte, wie deren internationale Nachrichten-Untersuchung "Breaking News" heißt "You can be like us" und betrachtet Re-Education-Programme vom Deutschland der Nachkriegszeit bis in die internationale Gegenwart. Das Theater, das die Bombenangriffe halbwegs unbeschadet überdauert hatte, nutzten die amerikanischen Alliierten nach dem Krieg für ihre Umerziehung der Berliner Bevölkerung. Das muss so bleiben, nun in anderem, erweiterten Sinne: Das Hebbeltheater ist nun als HAU 1 ein Fenster, durch das man in globale Lebenswirklichkeiten schauen kann und dabei stets etwas anderes entdeckt, als man erwartet. Und wenn es sich in Zukunft außerdem etwas von der geheimnisvollen Zusammengehörigkeit, von dieser fröhlichen und ausgelassenen Verbundenheit erhält, die wie ein Nimbus über den Jubiläumsfeierlichkeiten lag, dann ist es auch ein Ort der Utopie.