Parteiensystem der Bundesrepublik

Die Wähler immer unberechenbarer, immer mehr Parteien

Die konstituierende Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 24.10.2017
Blick in den Plenarsaal während der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am 24.10.2017 © imago / photothek
Von Annette Wilmes · 07.03.2018
Von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes über den Basiskonsens, dass nicht alle Fraktionen die Regierung kontrollieren, bis zu einem Bundestag mit einer Rekordzahl von sechs Fraktionen: Wie es wurde, was es ist – das bundesrepublikanische Parteiensystems.
1948, kurz bevor die Beratungen für das Grundgesetz begannen, wunderte sich der Staatsrechtler Carlo Schmid von der SPD:
"Ich habe es immer seltsam gefunden, dass auch die modernsten Verfassungen bis auf wenige unter ihnen von der Existenz der politischen Parteien keine Notiz nehmen. Freilich ist es sicher: die politischen Parteien sind keine Staatsorgane. Sie sind aber entscheidende Faktoren unseres staatlichen Lebens, und je nachdem, ob sie so oder anders organisiert sind, haben unsere Staatsorgane diesen oder einen anderen Sinn."
Auch in der Weimarer Republik waren Parteien entscheidende Faktoren des staatlichen Lebens. Aber, so Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler aus Berlin:
"Es hatte sich in der Weimarer Zeit gezeigt, dass Parteien manchmal nur die Instrumente großer Fraktionen des Kapitals waren oder bestimmte, spezifische Personen-zentrierte Interessen vertraten. Und dann hat man gesagt, gut, man muss Parteien so konstruieren, dass es dazu kommt, dass sie faktisch nicht abhängig werden von externen Institutionen oder Personen."

Mindestbestimmungen für Parteien im Grundgesetz

Neugebauer zufolge haben die Alliierten nach 1945 darauf geachtet, dass die Parteien demokratische Ziele verfolgen. Bestimmte Parteien, die zum Beispiel die Interessen der Soldaten oder Heimatvertriebenen vertreten sollten, waren zunächst gar nicht zugelassen. Eine Parteiendemokratie funktioniert nur, wenn die Parteien auch demokratischen Mindeststandards genügen. Davon war auch Carlo Schmid überzeugt, als im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz beraten wurde.
"Nun scheint es mir richtig zu sein, dass man sehr bald ein Parteiengesetz erlässt. und mir scheint weiter richtig zu sein, dass man in dieses Grundgesetz Mindestbestimmungen für ein solches Parteiengesetz aufnimmt. Man könnte vielleicht vorsehen, dass die politischen Parteien über die Mittel, die ihnen zufließen, periodisch Rechnung legen müssen oder dass sie ihre Kandidaten in Urwahlen aufstellen müssen oder dass sie einmal im Jahr in Mitgliederversammlungen über ihr Tun Rechnung legen müssen, und Ähnliches. Ich könnte mir vorstellen, dass sich auf diese Weise bei uns einiges zum Nutzen einer echten Demokratie ändern könnte!"
Im Grundgesetz wurden die wichtigsten Mechanismen festgelegt, nämlich dass Parteien demokratisch aufgestellt werden müssen und dass Parteien verboten werden können. Ansonsten hat man in der Verfassung weiterhin nichts geregelt, das weitere ist dem Parteiengesetz überlassen worden, das allerdings erst 1967 in Kraft trat. Gero Neugebauer:
"Das Parteiengesetz ist eigentlich auch erst formuliert worden, als der Druck durch die Rechtsprechung immer stärker geworden ist, dass immer mehr zum Beispiel in Fragen der Parteispenden oder auch der Frage von innerparteilichen Entscheidungsprozessen festgestellt worden ist. Aber insbesondere die Tatsache, dass die Finanzierung der Parteien intransparent war, die ganze Zeit lang, hat dann dazu geführt, dass dieses Parteiengesetz auch verabschiedet worden ist."

Große Koalition – schwache Opposition

Zunächst gab es neben den großen Parteien CDU und SPD noch einige kleine Parteien, die nach und nach verschwanden, nicht zuletzt wegen der Fünf-Prozent-Hürde, die seit 1953 galt. Aus den drei großen Parteifamilien – den Konservativen, Liberalen und den Sozialdemokraten – gingen die vier Parteien hervor, die seit dem Vierten Bundestag, 1961, als einzige in den Bundestag gewählt wurden und dort fortan wechselnde Regierungskoalitionen bildeten: CDU/CSU, SPD und FDP. Neugebauer sagt:
"Auf der Bundesebene eben bis 1966 sind CDU und FDP die Regierungsparteien, bevor dann die erste große Koalition '66/'69 auch die SPD an die Regierung bringt. Und die dann in der Folge halt bis 1982 Regierungspartei ist."
Scharf bekämpft von den Unionsparteien. Solange der jeweiligen Regierungskoalition eine starke Opposition gegenüberstand, gab es lebhafte Debatten im Bundestag. In den Zeiten der Großen Koalitionen von 1966 bis 1969, 2005 bis 2009 und 2013 bis 2017 hatte die Opposition eher eine schwache Position.
Neugebauer sagt, bis Ende der fünfziger Jahre habe sich ein Basiskonsens herausgebildet:
"Und dieser Basiskonsens umfasst die parlamentarische, demokratische Republik, Zugehörigkeit zum Westen, Parteiensystem mit Parteienwettbewerb und ein Parlament, in dem eine Diskussion stattfindet über Opposition und die Regierung. Kein Parlament, in dem das Parlament als Ganzes die Regierung kontrolliert, sondern wo die Fraktionen der Regierungsparteien die Regierung unterstützen, während die Oppositionsparteien halt die Regierung kontrollieren sollen."

Wählerverhalten nicht mehr berechenbar

1983 begann die Aufsplitterung des Bundestags durch den Aufstieg einer ersten Partei, die aus einem kleineren Milieu hervorgegangen war: der 1980 gegründeten Partei Die Grünen. Nach dem Fall der Mauer folgte 1998 die PDS als Nachfolgepartei der SED, die 2007 mit der WASG fusionierte und zur Partei Die Linke wurde. 2017 folgte erstmals auch eine Aufsplitterung im konservativen Lager – mit dem Einzug der AfD in den Bundestag. Nicht mehr drei, sondern sechs Fraktionen sind heute dort vertreten. Die großen Volksparteien CDU und SPD sind kleiner geworden. Gero Neugebauer:
"Es nimmt inzwischen auch wieder die Polarisierung im Parteiensystem zu. Aber wenn man guckt, warum das passiert, dann sieht man, die Gesellschaft verändert sich. Die großen gesellschaftlichen Milieus lösen sich auf, die Selbstverständlichkeit – der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter wählt SPD und der katholische Beamte wählt CDU, der Mittelstandsangehörige wählt die FDP, wenn er entsprechend beruflich orientiert ist, das verschwindet alles mehr und mehr. Und insofern ist das Wählerverhalten auch nicht mehr berechenbar."
Wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ist das Parteiensystem in Bewegung geraten. Die Angst vor Weimarer Verhältnissen geht um, als es den Nationalsozialisten, den Feinden der Demokratie, gelang, an die Macht zu kommen. Heute gibt es allerdings Mechanismen zum Schutz der Demokratie: zum Beispiel die Fünf-Prozent-Hürde, aber auch das Parteiengesetz, das bestimmte Organisationsstrukturen der Parteien verlangt.
Neugebauer resümiert:
"Guckt man in das Parteienverzeichnis beim Bundeswahlleiter rein, da findet man glaube ich im Moment 122 Parteien. Bei den letzten Bundestagswahlen haben so knappe fünfzig den Antrag gestellt, anzutreten. Auf den Listen standen wohl auch über 40 und reingekommen sind sechs."

Der Politikwissenschaftler Paul Nolte von der Freien Universität Berlin ist der Meinung:
"Das Wegbröckeln der Parteien ist noch nicht per se ein Symptom der Krise der Demokratie. Wir haben gerade in Deutschland, auch als Effekt von 1968, eine sehr lebendige demokratische Gesellschaft."
Nolte verweist auf grundlegende Unterschiede zur Weimarer Republik, in der es an verlässlichen demokratischen Institutionen und demokratischen Eliten mangelte. Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems sei in mancher Hinsicht auch eine Rückkehr zu den Anfängen der Bundesrepublik, als noch kleinere rechte und halbrechte Parteien im Bundestag saßen, die dann von den Unionsparteien aufgesaugt wurden.
Noltes größte Sorge ist die Frage, wie überhaupt politische Willensbildung noch stattfinden kann, wenn immer weniger junge Leute in Parteien eintreten:
"Wie stellen wir uns das vor, wenn ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung sich überhaupt mit Parteien identifiziert und wenn die Wählerinnen und Wähler immer flüchtiger werden in ihrer Wahlentscheidung?"
Noltes schlussfolgert:
"Wir müssen andere Mittel und Wege finden, auch außerhalb der Parteien politische Überzeugungen an die Öffentlichkeit zu tragen, denn Demokratie funktioniert nur über öffentliches Bekenntnis von politischer Überzeugung."
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