Parteienforscher über die AfD

"Volksparteien müssen auf den Wandel reagieren"

Anhänger der Partei Alternative für Deutschland (AfD) halten am 31.10.2015 in Hamburg während einer Kundgebung Transparente, Plakate und Fahnen hoch.
Demonstrierende Anhänger der AfD: Die demokratischen Parteien hätten es über viele Jahre versäumt, Bürger an sich zu binden, sagt Parteienforscher Everhard Holtmann. © dpa / picture alliance / Daniel Bockwoldt
Everhard Holtmann im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 04.05.2016
Nicht nur die CDU, auch die anderen demokratischen Parteien hätten derzeit Probleme, die Bürger an sich zu binden, sagt der Parteienforscher Everhard Holtmann. Ein Rechtsruck sei keine Lösung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich dafür ausgesprochen, mit der AfD "sachlich und in respektvollem Ton" umzugehen. Doch daraus zu schließen, die CDU wolle einen Kurswechsel vornehmen, um die ins rechte Lager verloren gegangenen Wähler zurück zu gewinnen, hält der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann für übertrieben.
Er räumte jedoch ein, man müsse das Wählerverhalten ernst nehmen, denn es lasse darauf schließen, dass diese sich nicht durch die etablierten Parteien ausreichend vertreten fühlten:
"Es gibt eine solche Repräsentationslücke, was ja die vergleichende programmatische Auswertung der letzten Jahre auch schon deutlich gezeigt hat."
Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg.
Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann.© imago / Steffen Schellhorn

Die deutsche Gesellschaft bewegt sich nach links

Doch dürften die Parteien nicht ignorieren, dass die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren hinsichtlich ihrer Weltanschauung und politischen Meinungen ein Stück nach links gerückt sei, betonte der Parteienforscher, der an der Universität Halle-Wittenberge lehrt
"Die Volksparteien müssen auf einen solchen Wandel reagieren. Das heißt umgekehrt: Wenn jetzt überhastet, überstürzt so etwas wie ein Rückschwung des Pendels in eine mutmaßlich konservative Ecke angelegt würde, dann würde das den Grundüberzeugungen des allergrößten Teils unserer deutschen Gesellschaft entgegenlaufen."

Die tatsächlichen Verhältnisse

Holtmann warnte davor, sich von der öffentlichen Debatte um Flüchtlinge und Asyl über die Grundstimmung und die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland täuschen zu lassen. Diese verdecke die Tatsache, dass es in Deutschland für weite Teile der Bevölkerung "ein hohes Niveau an Versorgung und Entfaltungsmöglichkeiten" gebe.
Die Herausforderung der demokratischen Parteien sei es nun, "wie man diese vertikale Dimension der sozialen Ungleichheit, der sozialen Ungerechtigkeit, entsprechend auffängt".
Allgemein seien aber die Bindekräfte aller großer Parteien in der Bevölkerung rückläufig. Die Menschen seien zunehmend auf individuelle Ziele und individuellen Wohlstand konzentriert "und mögen sich nicht mehr so unbedingt langfristig auch in politische Solidargemeinschaft wie eine Partei einbinden lassen".


Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Die AfD kann nervös machen, die Politik, aber vielleicht auch uns Medien manchmal. Gestern hieß es, vielleicht ein bisschen voreilig, Angela Merkel wolle eine Kurskorrektur vornehmen, wieder stärker rechte Wähler ansprechen. Beleg für die "BILD"-Zeitung waren ein paaar Zitate aus dem CDU-Präsidium. Die Kanzlerin höchstpersönlich hielt es gestern für nötig, das zurechtzurücken.
Angela Merkel: Es gibt keinerlei neue Strategie, sondern es gibt die Aufgabe, die noch entschiedener gemacht werden muss, aus uns heraus selbst darzustellen, was wir wollen, genauso wie ich finde, dass wir genug gute Argumente haben, uns mit anderen Meinungen, auch denen der AfD, auseinanderzusetzen, und zwar ohne jeden Schaum vorm Mund und ohne Pauschalurteile, sondern Schritt für Schritt sagen, was wollen wir.
Frenzel: Tja – was will sie, die Kanzlerin, was wollen sie, die etablierten Parteien? Hilft die AfD mit ihrem plötzlichen Erfolg, dass sich darüber der politische Betrieb ein wenig ehrlicher macht? Hat die Alternative auch einen heilsamen Aspekt, wenn es um die Debattenkultur in unserem Land geht. Am Telefon begrüße ich Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Einen schönen guten Morgen!
Everhard Holtmann: Einen schönen guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Hat das Auftreten der AfD etwas Gutes, weil es den etablierten Betrieb aufwühlt?

Profiteur einer Verunsicherung

Holtmann: Nun, ich denke, es kann ja nicht niemals schaden, wenn ein etabliertes Parteiensystem seinen Herausforderungen mit einer gewissen Selbsteinsicht auch entgegnet. Auf der anderen Seite, man muss ja klar feststellen, die AfD ist ja weniger getragen von einer neuen und auch inhaltlich nachvollziehbaren Selbstdefinition von Konservatismus, sondern sie ist ausweislich der Wahlergebnisse der Profiteur einer Verunsicherung, und da geht doch noch vieles bisher an klaren inhaltlichen Positionen durcheinander, was es umgekehrt auch den anderen Parteien schwierig macht, diese inhaltliche Debatte zu führen.
Frenzel: Aber wenn Sie sagen, es ist vor allem Verunsicherung, dann müsste die AfD auch wieder weg sein, wenn die Verunsicherung weg ist, also kurzum, es gab eigentlich keine, ich nenne es mal, Repräsentationslücke bisher?
Holtmann: Doch, es gibt eine solche Repräsentationslücke, was ja die programmatische Auswertung, die vergleichende programmatische Auswertung auch schon der letzten Jahre deutlich gezeigt hat. Die Gesellschaft insgesamt ist in der Tat weiter in die Mitte, man kann auch sagen, weiter nach links gerückt.
Das hat aber weniger jetzt Bekenntnisaspekte, sondern das ist eine Selbstvergewisserung der Gesellschaft, die auch vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und postindustriellen Wandels erklärbar ist. Und ein Parteiensystem, die Volksparteien zumal müssen auf einen solchen Wandel reagieren. Das heißt umgekehrt: Wenn jetzt überhastet und überstürzt so etwas wie ein harter Rücksprung des Pendels in eine mutmaßlich konservative Ecke angelegt würde, dann würde das den Grundüberzeugungen des allergrößten Teils unserer deutschen Gesellschaft entgegenlaufen.

Den Deutschen geht es nicht so schlecht

Frenzel: Aber müssen wir uns angesichts der Wahlergebnisse der AfD nicht eingestehen, dass unser Land, unser Sommermärchenland in der ganzen Breite so weltoffen, so liberal, so modern gar nicht ist?
Holtmann: Auf der einen Seite ist es das nach wie vor. Die Grundüberzeugungen der Menschen, der großen Mehrheit der Menschen gehen ja in diese Richtung, und man sollte sich jetzt nicht blenden lassen von der Verunsicherung, die durch das derzeit große und manchmal auch überfordernde Thema Asyl und Flüchtlinge stattfindet. Da überlagert vieles an Verunsicherung die eigentliche Zufriedenheit und das eigentlich hohe Niveau auch an Versorgung und an Entfaltungsmöglichkeiten, die dieses Land ja nach wie vor bietet. Das heißt auf der einen Seite, das zeigen auch bestimmte Daten, ist ein nennenswerter Teil der deutschen Bevölkerung, der sogenannten berufsaktiven Jahrgänge zumal, unsicher, was die persönliche Lebensperspektive und die persönliche Lebensplanung betrifft.
Das hat etwas mit Arbeit, mit Familie, auch mit Rente zu tun. Auf der anderen Seite, wichtige ökonomische Kennziffern zeigen ja nach wie vor, dass es der bundesdeutschen Gesellschaft und Wirtschaft auch insgesamt gut geht, wenngleich man nicht vergessen darf, da gibt es auch ein sogenanntes unteres Ende, wo die Kennziffern eben nicht hinunterreichen. Das ist gar keine Frage, und das wird auch eine inhaltliche Herausforderung der demokratischen Parteien sein, wie man diese vertikale Dimension der sozialen Ungerechtigkeit, der sozialen Ungleichheit entsprechend auffängt.
Frenzel: Wie groß ist das Dilemma dabei für die CDU? Merkels Kurs der Öffnung in Richtung der urbanen Schichten, ihre Modernisierung der Union, war ja notwendig, weil die Partei in den Städten, bei den Jungen, bei den Frauen nicht mehr erfolgreich war.
Holtmann: Richtig, ja.
Frenzel: Jetzt haben wir das andere Phänomen. Hat die CDU noch die Bindungskräfte vom rechten Rand bis in die bürgerliche Mitte?

Schwache Bindekräfte der etablierten Parteien

Holtmann: Die Bindekräfte der Parteien, der großen Parteien, aber im Grunde aller Parteien sind insgesamt rückläufig. Das hat auch etwas zu tun mit einem Wertewandel. Die Menschen sind doch wesentlich stärker als früher auf individuelle Zielsetzungen hin ausgerichtet und mögen sich nicht mehr so unbedingt langfristig auch in politischer Solidargemeinschaft wie eine Partei einbinden lassen. Aber kommen wir noch mal auf die Repräsentationslücke zurück. Das ist in der Tat vor allen Dingen nun hauptsächlich derzeit ein Problem, eine Herausforderung der Unionsparteien, denn da ist eine Lücke entstanden, und in dieser Lücke versucht sich derzeit die AfD entsprechend auch häuslich einzurichten.
Frenzel: Erlebt die Union das, was die SPD erst mit den Grünen in den Achtzigern und dann nach Hartz 4 mit den Linken erlebt hat?
Holtmann: In gewisser Weise ja, wenngleich man über die Nachhaltigkeit des Erfolges der AfD noch keine verlässlichen und seriösen Aussagen machen kann. Die von Ihnen angesprochenen Beispiele zeigen ja einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer sehr tiefgehenden gesellschaftlichen Konfliktlinie seinerzeit der ökologischen Frage und der sozialen Frage, die dann auch eben – seinerzeit war es die SPD, die getroffen wurde – zu entsprechenden Spaltungen, Fragmentierungen im Parteiensystem geführt hat. Ob die Flüchtlingskrise, und jetzt auch, möglicherweise noch mal angereichert durch das Reizthema oder den zum Reizthema hochgespielten Islam, ob das ausreicht, eine solche gesellschaftliche Konfliktlinie herzustellen, was dann auch zu nachhaltigen Umschichtungen im Parteiensystem führen könnte, das steht derzeit noch in Frage, da wird man noch etwas weiter warten müssen.
Frenzel: Der Politologe Everhard Holtmann hier im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen ganz herzlich!
Holtmann: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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