Parolen

"Aussitzen ist eine falsche Strategie“

Anton Pelinka im Gespräch mit Patrick Garber · 11.01.2014
Politikwissenschaftler Anton Pelinka analysiert sowohl rechts- als auch linkspopulistische Tendenzen in Europa. Er rät zur Konfrontation, man solle Europa als Friedens- und Demokratieprojekt offensiv vertreten.
Deutschlandradio Kultur: Tacheles reden wir heute in der alten europäischen Metropole Wien. Um Europa geht es jetzt auch, genauer gesagt um Gefahren, die dem Projekt Europa erwachsen sind durch Nationalismus und Populismus. Mein Gesprächspartner dazu ist ein ausgewiesener Kenner dieser Problematik: Prof. Anton Pelinka. Er ist gebürtiger Wiener, er ist Politikwissenschaftler und lehrt derzeit an der Central European University in Budapest. Guten Tag, Professor Pelinka.
Anton Pelinka: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Pelinka, werfen wir von hier aus Wien erstmal einen kurzen Blick über die Grenze ins schöne Bayernland. Dort hat die CSU in dieser Woche ihre Forderung "wer betrügt, der fliegt“ bekräftigt. Will sagen: Zuwanderer, die beim Sozialhilfebetrug erwischt werden, sollen ausgewiesen werden. Ist so was Populismus?
Anton Pelinka: Es ist sicherlich mehr Populismus als andere Formen des Populismus. Ich meine ja, man kann den Populismus nicht entweder haben oder nicht haben, man kann ihn mehr haben. Und die CSU hat ihn sicherlich mehr als andere, als die anderen deutschen Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind – vielleicht mit Ausnahme der Linkspartei übrigens. Aber es ist ein Mehr an Populismus und nicht der reine Populismus.
Deutschlandradio Kultur: Der italienische Ministerpräsident Letta hat kürzlich gesagt, "das Aufkommen des Populismus ist heute die bedrohlichste soziale und politische Erscheinung überhaupt in Europa“. Was genau ist eigentlich Populismus in der Politik?
Anton Pelinka: Populismus ist zunächst einmal eine Technik, die mit der Demokratie verbunden ist, nämlich der Appell, über Zwischeninstanzen – wie Parlamente und Parteien – hinweg an die Wählerinnen und Wähler und die Legitimierung der eigenen Interessen und Standpunkte mit Berufung auf die Wählerinnen und Wähler. Das heißt, es hat eine starke antielitäre und vor allem auch eine antirepräsentative Komponente. Sie richtet sich gegen die repräsentative Demokratie, zumindest der Tendenz nach, und ist daher vom Anspruch her so etwas wie die Perfektion der direkten Demokratie. Das ist zumindest das abstrakte Schema.
Deutschlandradio Kultur: Darum ist natürlich die Neigung zu populistischen Parolen ganz besonders groß vor Wahlen. Und in diesem Jahr, genauer im Mai, stehen die Wahlen zum Europaparlament an. Dabei könnten bis zu einem Drittel der Mandate an ausgesprochene Gegner der Europäischen Union gehen, an Parteien, die populistisch Stimmung machen gegen "die da in Brüssel“. Glauben Sie, dass es soweit kommt, dass wirklich ein Drittel Populisten im nächsten EU-Parlament sitzen?
Anton Pelinka: Ein Drittel ist eher an der Obergrenze dessen, was ich für realistisch halte. Man kann es nicht ausschließen. Vor allem ist ja auch das nicht immer so ganz klar. Ist zum Beispiel die Lega Nord eine antieuropäisch-populistische Partei? Wahrscheinlich ja. Ist das, was einmal die Forza Italia war, eine populistische Partei? Vielleicht eher nein. So eindeutig ist das nicht. Es gibt ja auch keine, und das ist kein Zufall, eindeutige rechtspopulistische Parteifamilie in Europa. Es gibt Versuche, eine solche mit Blickrichtung Fraktionsbildung im Europäischen Parlament ins Leben zu setzen, nach der Wahl dann zumindest von 2014, aber es ist kein Zufall, dass es das noch nicht gibt. Das liegt nicht an der Quantität, sondern an der Unfähigkeit eines Teils der rechtspopulistischen Parteien, miteinander auszukommen.
Die ungarischen Nationalisten und die slowakischen Nationalisten sehen ineinander jeweils den großen Gegner und nicht etwa in Europa oder im Mainstream der Parteien. Das heißt, Nationalismus alten Typs schließt Nationalismus alten Typs aus. Und ein Teil der rechtspopulistischen Parteien, vor allem in Ost-Mitteleuropa, entspricht diesem Typus der altmodischen nationalistischen Parteien.
Gemeinsame Feinde: zum Beispiel die Muslime
Deutschlandradio Kultur: Neumodischere Leute wie Marine Le Pen, die Chefin des Front National in Frankreich, oder Geert Wilders, der niederländische Islam-Hasser, die haben versucht oder versuchen immer noch, ein Bündnis populistischer Parteien zu gründen. Sie haben es ja schon angedeutet. Halten Sie das für realistisch, zumindest in Westeuropa?
Anton Pelinka: Ich halte es für realistisch. Denn diese neueren populistischen Parteien der extremen Rechten schließen einander nicht mehr aus. Es geht nicht mehr um Deutsche gegen Franzosen. Es geht: wir Abendländer gegen zum Beispiel die Muslime. Und das verbindet natürlich Geert Wilders und Marine Le Pen. Das heißt, ein gemeinsamer Feind und eine Fraktionsbildung dieser Parteien halte ich für sehr gut möglich, ja geradezu für wahrscheinlich.
Deutschlandradio Kultur: Wer könnte denn noch dazu kommen? Es gibt ja noch eine ganze Menge. Praktisch in jedem europäischen Land gibt es ja doch eine populistische Partei, die einigermaßen Chancen hat, ins Europaparlament zu kommen.
Anton Pelinka: Also, ich rechne als möglichen Partner in einer solchen Fraktion die Schwedendemokraten, vielleicht die Dänische Volkspartei, vielleicht der Vlaams Belang, vielleicht die Freiheitliche Partei Österreichs, die ja fast die erfolgreichste Partei diesen Typs ist, offenkundig auch die Lega Nord, die im Gespräch ist. – Parteien im vormals kommunistischen Europa werden hier kaum Chancen haben, eben wegen dieser wechselseitigen Ausschlusswirkung wegen des altmodischen Nationalismus, den sie verkörpern.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch einen Moment bei der FPÖ, bei der Freiheitlichen Partei Österreichs. Die ist ja fünf Jahre nach dem Tod ihres einstigen Frontmanns Jörg Haider wieder im Aufwind. Bei der letzten Parlamentswahl haben sie über 21 Prozent der Stimmen gewonnen und wurden drittstärkste Kraft. – Warum? Was ist das aktuelle Erfolgsgeheimnis der FPÖ?
Anton Pelinka: Die Freiheitliche Partei punktet als eine vage Fundamental-Oppositionspartei. Sie ist sozusagen gegen die Regierenden, gegen die als traditionell angesehenen Eliten, vor allem sowohl auf der Rechtsmitte, Volkspartei, als auf der Linksmitte, Sozialdemokratische Partei. Sie spricht vor allem die Modernisierungsverlierer an. Das ist überhaupt ein Rezept der westeuropäischen rechtspopulistischen Parteien, dass sie die Enttäuschung der Modernisierungsverlierer, also die Menschen, die auch und wesentlich mangels einer höheren Ausbildung heute ein höheres soziales Risiko haben, als das vielleicht in den letzten 20 Jahren sonst der Fall war – die Gefahr, dass sie arbeitslos werden, die sich auch bedroht fühlen durch Zuwanderung, das große Thema ist dann Migration neben dem Antielitismus, den diese Parteien auch vertreten.
Und die Freiheitliche Partei hat noch dazu, anders als die anderen Parteien, den Vorteil, dass sie gleichzeitig eine traditionelle alte Partei ist. Das heißt, sie hat einen harten Kern. Das ist der österreichische Deutschnationalismus mit seinem ganzen Verbändewesen. Und um diesen alten Kern, der für sich allein genommen kaum in der Lage wäre, fünf Prozent zu mobilisieren, um diesen alten Kern sammelt die Freiheitliche Partei nun diese Modernisierungsverlierer. Das kann sie aber offenbar nur, wenn sie in der Opposition ist. Daher wäre es höchst riskant für die Freiheitliche Partei, Regierungsverantwortung zu übernehmen, weil, dann wird sie selbst Teil des Establishments.
In Deutschland: "starke Tabus, wenn es um Rechtsextremismus geht"
Deutschlandradio Kultur: Die AfD, die Alternative für Deutschland, will sich diesem Bündnis populistischer Parteien, das sich da möglicherweise anbahnt in Europa, nicht anschließen. Sie kritisiert zwar auch die gegenwärtige Europa- und vor allem die Euro-Rettungspolitik, unsere AfD, aber das Etikett "populistisch“ will sie sich eben nicht anheften lassen. Deshalb will sie mit diesen Gruppierungen auch nichts zu tun haben. Ist das keine populistische Partei?
Anton Pelinka: Die Alternative für Deutschland ist offenkundig viel stärker durch Bildungsbürgertum bestimmt. Das fällt auf, dass der Typus des deutschen Ökonomie-Professors eine große Rolle spielt. Dieser Typus ist sehr stark gegen die Europäische Union gerichtet, aber ihn stört natürlich dieser rechtradikale Geruch, der etwa der Freiheitlichen Partei Österreichs anhaftet, der dem Front National anhaftet. Das heißt, die Alternative für Deutschland will nicht rechtsextrem sein und daher auch nicht diesem populistisch-rechtsextremen Kreis zugerechnet werden.
Deutschlandradio Kultur: In Sachen Populismus ist Deutschland inzwischen ein bisschen eine Ausnahme, vielleicht eine rühmliche Ausnahme, aber eine Ausnahme in Westeuropa. Wir haben keine nennenswerte populistische Partei, die irgendwie größere Erfolge bisher gehabt hätte bei den Wahlen. Woran liegt das? Weil wir die Eurokrise bisher weniger zu spüren bekommen haben in Deutschland oder weil wir in Deutschland anders umgegangen sind als vielleicht die Österreicher mit unserer jüngeren Vergangenheit?
Anton Pelinka: Also, prinzipiell sehe darin einen Erfolg der Resozialisierung in Deutschland und speziell in Westdeutschland nach 1945, auch Dank des Einflusses, den die Westalliierten genommen haben. In Deutschland gibt es starke Berührungsängste, Tabus, wenn es um Rechtsextremismus geht. Man sieht übrigens auch, dass es in der früheren DDR anders ist. Hier gibt es in Landtagen sehr wohl solche Phänomene. Nur auf Bundesebene war dies nicht stark genug.
In Deutschland ist der Populismus eher ein linker Populismus, denn die Linkspartei vertritt, was ihre Mobilisierungstechnik betrifft, was ihre Argumentationsschiene betrifft, vieles, was sonst bei den rechtspopulistischen Parteien zu beobachten ist.
Deutschlandradio Kultur: Das ist interessant. Das Thema Linkspopulismus wollen wir vielleicht später noch ein bisschen vertiefen. Schauen wir erst nochmal auf die Rechtspopulisten mit Blick auf die Europawahlen. Sie sagten, angestrebt wird die Bildung einer Fraktion im Europaparlament nach der Wahl im Mai. So einfach ist das gar nicht. Da müssten sich mindestens 25 Abgeordnete zusammentun. Und die müssen aus nicht weniger als sieben verschiedenen Ländern stammen. Was könnte eine solche Fraktion von Europagegnern anrichten, wenn es sie denn gäbe?
Anton Pelinka: Sie könnte natürlich im Europäischen Parlament etwas erreichen, etwa wenn die Große Koalition, die es im Europäischen Parlament faktisch gibt, nämlich die grundsätzliche gemeinsame Strategie der konservativen Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten, und dazu kommen sehr oft noch die Liberalen und die Grünen, wenn diese Große Koalition, wenn diese Mehrheitsfraktion einmal nicht handelt, wenn sie nicht geschlossen auftritt, dann könnte eine solche rechte Fraktion Zünglein an der Waage sein.
Aber im Allgemeinen wird das eine Fraktion sein, die auf Opposition macht, auf Opposition gegen die Kommission, das wäre das Gegenüber, und natürlich vor allem beim Fenster hinaus redet. – Zum Populismus gehört ja auch, dass Politik vor allem mit dem Appell nach außen betrieben wird. Und da könnte das Europäische Parlament eine Bühne für den gesamteuropäischen Rechtspopulismus werden.
Wiederkehr des Nationalismus vor allem im vormals kommunistischen Europa
Deutschlandradio Kultur: Könnte das auch zu einer Blockierung des Parlaments führen, zum Beispiel, wenn es darum geht, es muss ja auch demnächst ein neuer EU-Kommissionspräsident gewählt werden? Da soll das EU-Parlament mehr Mitsprache haben als bisher. Wenn es sich dann blockiert, was bedeutet das?
Anton Pelinka: Eine Minderheit hat schwer Möglichkeiten, wenn sie im Rahmen der Geschäftsordnung handelt, das ist die Voraussetzung, wirklich zu blockieren, wenn die Mehrheit entschlossen ist zu agieren. Und es gibt weiterhin Anzeichen, dass diese stille Absprache zwischen der Europäischen Volkspartei und den europäischen Sozialdemokraten weiterhin funktionieren wird, gerade auch, wenn das Parlament ja nun eigentlich dem Europäischen Rat, den Regierungschefs der 28 Staaten, de facto das Nominierungsrecht für den Kommissionspräsidenten wegnehmen will.
Wählen muss das Parlament sowieso dann den Kommissionspräsidenten. Das war schon bisher so. Aber bisher wurde das Parlament mit einem Vorschlag konfrontiert, der akkordiert war zwischen den nationalen Regierungen. Hier sehe ich eigentlich wenig Gefahr, dass vielleicht eine bestimmte Minderheit – ich rechne eher nicht mit den 30 Prozent, aber vielleicht mit 15 Prozent rechtspopulistischen Europagegnern –, dass dieser Prozess ernsthaft gefährdet wird. Immer unter der Voraussetzung, dass die Geschäftsordnung grundsätzlich funktionsfähig gehalten wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr Professor Pelinka, bisher haben vor allem über die möglichen Folgen der aktuellen Konjunktur populistischer Strömungen gesprochen. Lassen Sie uns jetzt noch ein bisschen Ursachenforschung betreiben. Unbehagen an Europa haben wir ja schon als ein Element herausgearbeitet. Woher kommt das? Erleben wir eine Wiederkehr des Nationalismus in Europa?
Anton Pelinka: In einer gewissen Hinsicht erleben wir diese Wiederkehr, aber vor allem im vormals kommunistischen Europa, weil hier ein alter Nationalismus, der unter der Decke der kommunistischen Verbote einfach existiert hat, aber nicht offen sichtbar war, der ist an der Oberfläche. Das sind die Gegensätze zwischen Serben und Kosovo-Albanern, zwischen Ungarn und Slowaken, zwischen der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung und der türkischen Minderheit. Diese ethno-nationalistischen Tendenzen sind vor allem im vormals kommunistischen Europa sichtbar, einschließlich des Festhaltens an bestimmten Opfertheorien, etwa der Vertrag von Trianon …
Deutschlandradio Kultur: … nach dem Ersten Weltkrieg …
Anton Pelinka: …nach dem Ersten Weltkrieg, was Ungarn betrifft, oder die Schlacht von Amselfeld, was Serbien betrifft. Das heißt, hier ist der alte Nationalismus ganz stark da.
In Westeuropa erleben wir eigentlich kaum diesen alten Nationalismus. Die deutsch-französische Beziehung, die ja das Kernproblem war und dessen Lösung auch der große Erfolg der europäischen Integration schon war, die scheint mir gesichert zu sein. Ich glaube nicht, dass es zu einer Explosion deutsch-französischer Feindschaft kommen wird.
Es gibt freilich einen Separatismus-Nationalismus, etwa wenn wir nach Spanien schauen – Katalonien und das Baskenland. Schottland. Nur hier sind eher die Anzeichen, dass es hier friedliche Lösungsformen gibt. Wenn Schottland sich entscheidet, sich unabhängig zu erklären, wird die britische Regierung das wohl eindeutig akzeptieren.
Ungarns Premierminister Viktor Orban
Ungarns Premierminister Viktor Orban© picture alliance / dpa / Julien Warnand
Deutschlandradio Kultur: Sie forschen und Lehren seit einiger Zeit in Ungarn. Dort regiert mitein Nationalist ziemlich autoritär, manchmal so autoritär, dass vielen in der EU die Haare zu Berge stehen. Da gibt es außerdem eine Oppositionspartei namens Jobbik, die unbehelligt antisemitische Parolen von sich gibt. Und selbst die postkommunistische Linke gibt sich neuerdings ziemlich national. – Was ist da los?
Anton Pelinka: In Ungarn hat es immer schon das Fortleben des Trianon-Mythos gegeben, nämlich die Wahrnehmung, dass der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg, der dem Königreich Ungarn ganz wesentliche Gebietsverluste gebracht hat, das wurde als nationales Opfersymbol hier am Leben erhalten.
Die kommunistische Regierung hat akzeptiert, dass Trianon weiterlebt, auch unter dem Diktat der Sowjetunion, aber im Untergrund ist das Narrativ am Leben erhalten worden: Wir Ungarn sind das Opfer einer ungerechten Weichenstellung. – Und mit der demokratischen Freiheit ist das voll herausgekommen.
Und es stimmt sicherlich, dass der Trianon-Mythos zwar rechts außen am militantesten genützt wird, aber auch bis in die Linke hinein eine Rolle spielt, nämlich die Wahrnehmung, dass hier einmaliges Unrecht geschehen ist. Nun ist der Trianon-Vertrag sicherlich kritisierbar, keine Frage, aber es ist ein traditioneller Vertrag, wie es ihn in der Geschichte immer gegeben hat, nämlich ein Vertrag, in dem vor allem die Interessen der Siegermächte eine Rolle spielen und Interessen der Verlierer wenig bis gar keine Rolle gespielt haben. Insofern ist Trianon so ungerecht wie die vielen anderen Verträge nach dem Ersten Weltkrieg auch.
Deutschlandradio Kultur: Das sind alte Probleme. Es gibt ja sicherlich noch junge Probleme, die dazu kommen, zum Beispiel das Thema Fremdenfeindlichkeit in Osteuropa, aber nicht nur in Osteuropa. Was spielt das für eine Rolle beim Aufstieg des Rechtspopulismus, jetzt mal wieder auf ganz Europa betrachtet?
Anton Pelinka: Es gibt einmal die Fremdenfeindlichkeit bezogen auf Migration. Das ist vor allem ein westeuropäisches Thema. Diese xenophobe Antimigrations-Fremdenfeindlichkeit bekommt durch den muslimischen Charakter eines Gutteils der Migranten einen spezifischen zusätzlichen Charakter. Er wird dann quasi religionsverformt. Er wird dann quasi christianisiert mit dem Hinweis auf fremde Kulturen. Das ist ganz stark etwa in den Niederlanden, aber auch in Belgien, aber auch in Frankreich, weniger stark aber auch in Deutschland, weniger stark aber auch in Österreich.
Und dann gibt es die Fremdenfeindlichkeit bezogen auf traditionelle Minderheiten. Und hier sind etwa die Roma das große Thema, das große Opfer von Fremdenfeindlichkeit. Diese Minderheit ist historisch diskriminiert. Sie ist – ich füge hinzu – natürlich rechtlich gleichgestellt, aber im Alltag nach wie vor behindert: wenig Zugang zur höheren Bildung, wenig Zugang zur vertikalen Mobilität. Die Roma sind eigentlich in der Situation, in der die Afroamerikaner in den USA lange Zeit waren und teilweise noch sind.
Deutschlandradio Kultur: Zum weiteren Bereich Fremdenfeindlichkeit kann man vielleicht auch, wenn man das rassistische oder das antireligiöse Element nimmt, den Antisemitismus nehmen. Zumindest in Westeuropa hüten sich auch populistische Parteien davor, in den Ruch des Antisemitismus zu kommen. Ist Antisemitismus in Europa erledigt oder kann er auch in Westeuropa wieder salonfähig werden?
Anton Pelinka: Der Antisemitismus existiert unter der Oberfläche auch in Westeuropa, aber er ist nicht salonfähig. Das ist vorhanden, aber es ist viel offener in Ost-Mitteleuropa, hier vor allem wieder in Ungarn, aber auch in Polen.
Hier ist der Antisemitismus salonfähig, akzeptabel. Und Jobbik, die rechtsextreme Partei, die drittgrößte im ungarischen Parlament in Opposition zur Regierung Orban, Jobbik hat einmal ernsthaft im Parlament diskutiert, man müsste hier offiziell gleichsam festschreiben, welche Abgeordneten im ungarischen Parlament jüdischer Herkunft sind. Das ist zum Glück auf den entschlossenen Widerstand auch der Fidesz-Regierung und natürlich erst recht der linken Opposition gestoßen. Aber immerhin konnte das im ungarischen Parlament ernsthaft diskutiert werden.
Griechenland: Große Resonanz auf linksextreme populistische Partei
Deutschlandradio Kultur: Wir haben die ganze Zeit über Populismus von rechts gesprochen, aber spätestens seit der Wahl in Italien wissen wir, dass es in Europa auch linke Populisten gibt, die Furore machen können, namentlich Beppe Grillo in Italien. Der hat mit Sprüchen gegen Banken und Bonzen in der Eurokrise rund ein Viertel der Italiener hinter sich gebracht. Was hat es mit diesem Populismus von links auf sich? Hat der ein ähnliches Potenzial wie der von rechts?
Anton Pelinka: In manchen Ländern ja. Zum Beispiel in Griechenland ist, wir sprechen zwar häufig von der "goldenen Morgendämmerung“, "Golden Dawn“. Aber SYRIZA, die linksextreme populistische Partei, ist viel größer. Sie ist natürlich auf den ersten Blick viel weniger verabscheuungswürdig als der rassistische Golden Dawn mit seinen rassistisch-neonazistischen Verhaltensformen. Aber es wird auch vereinfacht. Es wird gegen die da oben gewettert. Es wird eine Verschwörungszentrale konstruiert. Also, ich würde SYRIZA als besonders eindrucksvolles Beispiel sehen einer eindeutig linksextremen populistischen Partei, die in Griechenland als Ergebnis der Wirtschafts- und Finanzkrise eine große Resonanz hat.
Deutschlandradio Kultur: Bleibt die Frage: Wie umgehen mit diesen Populismen von rechts wie links? Aussitzen im Vertrauen darauf, dass es Protestparteien sind, die genauso schnell wieder bedeutungslos werden könnten, wie sie aufgestiegen sind?
Anton Pelinka: Aussitzen ist eine falsche Strategie. Denn Aussitzen kann auch heißen, man sitzt sich selbst aus. Man macht sich selbst überflüssig. Konfrontieren würde ich sagen. Auch das, was wir vom deutschen Beispiel lernen können, nämlich dass Deutschland das europäische Land ist mit dem geringsten Rechtsextremismus, mit einem weitgehend unbedeutenden Rechtspopulismus, ist ja nicht die Folge, dass die Deutschen andere Menschen sind, sondern dass die Sozialisation in der Bundesrepublik, das heißt also, die direkte Konfrontation im Bereich der Erziehung Früchte getragen hat. Das heißt, Konfrontieren, Europa nicht kritiklos hinnehmen, wie es jetzt ist, aber grundsätzlich als Friedens- und Demokratieprojekt offensiv vertreten und verteidigen und nicht ängstlich zurückschrecken.
Wir haben jetzt im österreichischen Wahlkampf 2013 beobachten können, dass die Mainstream-Parteien Europa nicht in den Mund genommen haben, weil sie das für zu riskant gehalten haben angesichts der europafeindlichen Stimmung. Das halte ich für völlig verkehrt. – Offensiv sich zu einer Strategie bekennen, die bisher ja nach 1945 insgesamt sehr erfolgreich war! Europa ist ja in einer Periode des Friedens noch immer, was wir aus der europäischen Geschichte vor 1945 so nicht gekannt haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber dieses Projekt, dieses Friedensprojekt Europa ist vielleicht in der jüngeren Generation nicht mehr so ganz zugkräftig, weil die alten Erfahrungen nicht mehr da sind. Was kann Europa noch tun? Bürgernäher werden, weniger regulieren, wieder Kompetenzen an die nationalen Regierungen zurückgeben, das sind ja die Standardantworten, die darauf gegeben werden. Ist da was dran?
Anton Pelinka: Für die Rückgabe an die nationalen Regierungen und Parlamente, davon halte ich gar nichts. Das ist ja die Abwicklung, der Beginn der Abwicklung Europas. Mehr Bürger beteiligen, ja, das ist etwas. Vor allem aber müsste die Europäische Union auch definiert werden und vertreten werden als die Möglichkeit, Politik zu machen.
Heinz-Christian Strache, Parteichef der rechtspopulistischen FPÖ, spricht auf dem Parteitag in Graz.
Heinz-Christian Strache, Parteichef der rechtspopulistischen FPÖ, spricht auf dem Parteitag in Graz.© picture alliance / dpa - Hans Klaus Techt
Nationalstaaten werden insgesamt immer weniger bedeutsam in der Welt von heute, weil die Ökonomie längst schon die Staatlichkeit verlassen hat. Und gegenüber dieser Ökonomie kann auch ein großer Nationalstaat, wie etwa Deutschland, viel weniger ausrichten, als es noch vor 30, 40 Jahren der Fall war. Europa ist die Chance der Politikgestaltung, die den Nationalstaaten weitgehend abhanden gekommen ist. Und das müsste jetzt der Kerngedanke für Europa sein, nachdem eben die Friedensfunktion weitgehend selbstverständlich geworden ist, obwohl es schon möglich ist daran zu erinnern, dass innerhalb von 70 Jahren drei mal deutsche Armeen in Frankreich eingefallen sind und dass das heute undenkbar ist und die Frage zu stellen ist: Warum ist das eigentlich undenkbar geworden?
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Pelinka, als Österreicher haben Sie wie ich auch als Deutscher das Vergnügen, neuerdings wieder von einer Großen Koalition regiert zu werden. Sie haben Ihre Koalition aus SPÖ und ÖVP kürzlich in der "Zeit" als derart "reformunfähig“ charakterisiert, dass Sie über kurz oder lang den Ruf nach dem Starken Mann in Österreich erwarten.
Gibt es ihn, den Starken Mann? Steht er schon irgendwo in den Kulissen – in Ihrem Land oder in Europa oder vielleicht als Starke Frau?
Anton Pelinka: Es ist sicherlich ja in der Politik, in der demokratischen Politik sozusagen angelegt, dass personalisiert wird. Und es ist daher die Versuchung immer da, aus der Kompliziertheit der Politik zu fliehen und die Lösung bei einer Person zu suchen. Das kann gut gehen. Franklin D. Roosevelt war der Idealfall einer personalisierten Politik in einer Demokratie. Das geht häufiger schlecht aus.
Und natürlich stehen diese starken Personen schon in der Reserve bereit. Also, in Österreich ist es Heinz-Christian Strache, dem ich jetzt nicht unterschieben will, dass er …
Deutschlandradio Kultur: …der FPÖ-Chef...
Anton Pelinka: ... der Freiheitlichen Partei, dass er eine Diktatur errichten will. Aber die Erwartungshaltung, sein Auftreten machen ganz deutlich, dass er die Hoffnung nährt: Wenn er an der Macht ist, wird alles anders werden. Und das ist eine gefährliche Illusion. Eine Person kann positiven Einfluss haben. Aber an einer Person wird es nicht allein liegen können. Das heißt, der Ruf nach dem Starken Mann ist einerseits erklärbar, auf der anderen Seite gefährlich.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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